Straßenszenen.  Transformationen der Straße als theatraler Bezugsraum

Projektleitung: PD Dr. Sebastian Kirsch
Fördergeber: FWF
Volumen: 209.700 Euro
Forschungsstätte: ZFL – Zentrum für Literaturwissenschaft Berlin & mdw - Universität für Musik und darstellende Kunst Wien

 


 

Das Projekt untersucht historische und gegenwärtige Zusammenhänge zwischen (europäischen) Theaterformen und dem Raum der Straße. Denn spätestens seit der Frühen Neuzeit wurden zahlreiche szenische Entwicklungen von Bezugnahmen auf Milieus, Verkehrsformen oder auch Medialitäten der Straße getragen. Das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert schließlich zeichnete sich nicht nur durch eine enorme Dynamisierung des Straßenverkehrs aus, was die (Theater-)Avantgarden vor allem in den Jahrzehnten nach 1900 in einen regelrechten ›Straßenrausch‹ (Siegfried Kracauer) verfallen ließ. Es war auch durch die Entstehung des Bewegtbildes, damit einhergehende Veränderungen des zentralperspektivischen Dispositivs sowie die Entstehung eines ›Medientheaters‹ (Andreas Kotte) geprägt.

Ausgangspunkt ist der Gedanke einer ›doppelten Erbschaft‹ der Straße, die sich (nicht nur) theatergeschichtlich mit erstaunlicher Hartnäckigkeit bemerkbar gemacht hat: Einerseits diente die Straße nämlich immer wieder als zentrales Milieu für Vagabunden, Spielleute, Tramps, Beatniks etc., d.h. für nichtsesshafte, nomadisierende und diasporische Figuren. Insofern ist sie speziell mit Theaterformen verbunden, die mit der Brüchigkeit und Haltlosigkeit identitärer Zuschreibungen spiel(t)en, wie beispielsweise der frühneuzeitlichen Commedia und ihren Fortschreibungen. Andererseits fungierte die Straße mindestens seit der Renaissance auch als medialer wie materieller Träger jener europäischer Expansionsbewegungen, mit denen die Erde zum modernen Globus gemacht, verbildlicht und kolonisiert wurde. Damit sind Traditionen der zentralperspektivisch ausgerichteten Straße angesprochen: die Straße, die zum bzw. hinter den Horizont führt, ihre logistischen Funktionen oder auch ihre Nutzung als Heeresstraße. Es stellt sich die Frage, inwiefern dieser Komplex mit der Geschichte zentralperspektivischer Theaterräume verschwistert ist, d.h. mit der Bildbühne, die sich ab dem Quattrocento von Italien aus in Europa verbreitete? Und wie schlugen sich die beiden widerstreitenden ›Erbschaften‹ in theatralen Straßenbezügen und in unterschiedlichen historischen Konstellationen nieder?

Der doppelte historische Fokus des Projekts erlaubt es, vergleichende Bezüge zu einer Gegenwart zu ziehen, die im Zuge der Digitalisierung ihrerseits starke mediengeschichtliche Verschiebungen erlebt. In diesem Kontext geht das Projekt von der These aus, dass sich im späten 20. Jahrhundert die Funktionen der Straße als ›Informationsträger‹ zusehends auf telekommunikative und schließlich auf digitale Medien verlagert haben. Wie verändert sich aber der theatrale Bezugsraum Straße, wenn etwa algorithmisierte Steuerungssysteme zusammen mit den Bewegungen im Straßenraum auch dessen Bildlichkeit in- und transformieren? Was wird überhaupt aus der Straße in Zeiten von smart streets, mit denen traditionelle Analogmilieus technologisch überschritten und vielleicht sogar unkenntlich werden?