Werkstattgespräch

Barbara Wolfram leitete zwischen 2021 und 2024 insgesamt drei Labore für filmische Autosoziobiografien (LAFA), denen vier bis sechs Artistic Researcher angehörten. Im folgenden Gespräch berichtet Wolfram von ihrem methodischen Ansatz, den Arbeitsprozessen im LAFA und den daraus resultierenden Erkenntnissen künstlerischer Forschung.

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Claudia Walkensteiner-Preschl (CWP):

Im Mittelpunkt unseres Gesprächs stehen deine spezifischen Arbeitsmethoden im Rahmen des künstlerischen Forschungsprojekts Confronting Realities – Arbeit an filmischen Autosoziobiografien, welche du zusammen mit Artistic Researchern weiterentwickelt hast und in deinen Laboren anwendest.

 

Barbara Wolfram (BW):

In Bezug auf die Methode[1] möchte ich betonen, dass die freie künstlerische und ergebnisoffene Exploration der Autosoziobiografie im Zentrum steht. Eine Autosoziobiografie ist eine Biografie, die unter soziologischen Gesichtspunkten betrachtet wird: Faktoren wie soziale Klasse, Geburtsort, Wohnort und Alter spielen dabei eine Rolle, weitere relevante Faktoren sind Geschlecht, Sexualität, körperliche und geistige Fähigkeiten, Bildung und Sprache. Sobald ich mich auf diese Exploration einlasse, treten ebenfalls Aspekte der Narration, Selbst-Narration und autobiografischen Selbst-Narration in den Vordergrund. Je nach dem Zeitpunkt in der Biografie, zu dem die autosoziobiografische Exploration beginnt, sozusagen „gestartet“ wird, gibt es Unterschiede in der Herangehensweise: Teenagerjahre werden anders (selbst-)erzählt als Kleinkindjahre und diese wieder anders als Jahre der beruflichen Aktivität usw. Im Rahmen des Projekts Confronting Realities arbeite ich über drei Jahre hinweg mit vier Artist Researchern zusammen. Mit einigen von ihnen habe ich bereits in vorherigen Pilotprojekten kooperiert. Somit können wir auch Veränderungen im Zugang zu den auto(sozio)biografischen Selbsterzählungen im Laufe der Zeit verfolgen. Biografie ist lebendig, der Zugang zur eigenen Erzählung ist lebendig und im Grunde kontinuierlich im Fluss.

Unser erster Ansatzpunkt bei der Arbeit an Confronting Realities war: Wie können wir verschiedene Aspekte der soziobiografischen Narration durch möglichst vielfältige Werkzeuge zugänglich machen und erschließen? Das übergeordnete Thema, das ich gewählt habe, war Familie. Die drei Labore waren aufgeteilt in Mutter/Mütter, Vater/Väter und das heute beginnende Labor, das sich mit Geschwistern und gewählten Familien – Chosen Family – befasst. In der Exploration gibt es die klassische soziologisch-ethnografische Arbeit wie biografische Fragebögen und Zeitlinien, anhand derer wir biografische Fakten erschließen, Dokumente, Fotos, konkrete biografische Orte und Objekte sammeln. Diese Fragen ordne ich der klassischen qualitativen Forschung zu. Es handelt sich um biografische Fragebögen, die nach lebensweltlichen Aspekten von Biografie wie Ort, Zeit, sozialer Klasse, Bildungsbiografie, Wohnverhältnissen, Arbeitserfahrungen, Hobbys etc. fragen. Wir stellen uns Fragen wie: Wie sehen die Zeitlinien der Mutter aus? Wann wurde sie geboren? Wo wurde sie geboren? Wann ist sie umgezogen? Wann hat sie mit ihrer Schulbildung begonnen? Wann wurde eine berufliche Laufbahn begonnen? Und so weiter. Dasselbe gilt für den Vater. An welchen Orten, zu welchen Zeiten haben diese Personen gelebt? Wann beginnt die eigene Biografie in die der Eltern zu fließen? Wann ist meine Mutter schwanger geworden? Wann und wo kam ich auf die Welt? An welchen Punkten überlappt diese Erzählung, wann trennt sich diese wieder?

Parallel dazu gibt es die künstlerische Arbeit, deren zentraler Punkt die künstlerische Exploration ist. Einerseits nutzen wir beispielsweise Absurd Questionnaires, die sich mit unbewussten Aspekten der biografischen Narration befassen. Diese setze ich seit 2013 in meiner Arbeit mit meiner Theaterkompanie .EVOLve ein.

Impulse wie die nachfolgenden sollen helfen, intuitive autobiografische Erlebnisse künstlerisch zu explorieren und zu verarbeiten:
Was ist eine Tasse?
Vielleicht das nächste Mal
Nähe – Distanz
In der Handbewegung, oder nein, wie sich deine Stimme verändert, wenn du

oder auch nur ein ____________ (Strich).

Ein übergeordnetes Thema wie die von mir gewählten Themenschwerpunkte Vater/Väter, Mutter/Mütter oder Geschwister bieten die Möglichkeit zur Exploration und dann zur künstlerischen Übersetzung, die von den Artist Researchern frei gewählt werden kann. Dadurch können eventuell unbewusste Ebenen von (auto-)biografischer Narration bewusst gemacht werden. Andererseits arbeiten wir mit konkreten Impulsen für künstlerische Übersetzungen wie Beschreibe deine Mutter für die Person, die neben dir sitzt (sodass diese sie erkennen könnte) oder Was ist ein Objekt, das du stark mit deiner Schulzeit verbindest? Wie würde es sich anfühlen, dieses Objekt der Person in die Hand zu geben, die neben dir sitzt? Die Antworten auf diese Fragen erfolgen nicht verbal, sondern in einer frei gewählten künstlerischen Form. Interessant ist hier zum Beispiel, welche Werkzeuge und Ausdrucksmöglichkeiten gewählt werden, um Aspekte der biografischen Selbst-Erzählung zu erfassen, um anderen in der Gruppe von sich selbst zu erzählen? In diesem Labor habe ich die künstlerische Methode relativ offen gelassen, obwohl wir natürlich einen filmischen Endpunkt haben. Die Arbeit kann haptisch sein, wie etwa ein Objekt, das geschaffen wird. Es kann sich um ein Kurzfilm-Artefakt handeln oder um audiovisuelle Zusammenschnitte von Fotos. Ebenso kann es ein Gedicht sein, das auch vorgetragen werden kann, oder Gesang. Zunächst ging es darum, herauszufinden, welche Ausdrucksform für diesen Teil der Selbstnarration, für die damit verbundenen Emotionen und Gedanken, die passende ist, hier auch in Hinblick auf die individuellen künstlerischen Fähigkeiten. In diesem Labor arbeiten drei Personen mit künstlerischem Hintergrund und eine Person, die hauptberuflich Pflegekraft ist, aber auch selbst dichtet. Ein zentraler Punkt der Arbeit ist die Anerkennung der unterschiedlichen Fähigkeiten, sich künstlerisch auszudrücken.

Ein bedeutender dritter Punkt ist das Andocken an den Körper. Wie entdecke ich Aspekte, die nicht Teil einer verbalen Narration sind? Denn Biografie ist auch etwas, das wir uns zurechtlegen. Für bestimmte Menschen haben wir bestimmte Narrationen und für andere wieder andere. Vieles davon geschieht auf körperlicher Ebene. Dies übernehme ich stark aus meiner Theaterarbeit, basierend auf einem 5×5-Schema. Zum einen gibt es unsere fünf Sinne: Wie kann Biografie auf sinnlicher und multisensorischer Ebene – also durch Riechen, Hören, Schmecken, Fühlen und Sehen – erfasst werden? Zum anderen verbinde ich dies mit fünf Ebenen: Die erste Ebene betrifft das Innere des Körpers – Gefühle, die sich körperlich äußern: Herzschlag, Anspannungen im Körper, die Fähigkeit, sich selbst und beispielsweise ein Kleidungsstück zu spüren. Anschließend entstehen sofort Fragen wie: Warum trage ich die Kleidung, die ich heute anhabe? Wie komme ich zu diesem Punkt? Die zweite Ebene ist die der Emotionen: Welche Emotionen empfinde ich jetzt? Ihr hört mir gerade zu. Ich habe das Gefühl, ich rede zu lange – was macht das mit mir? Welche Rolle spielt meine Sozialisierung? Wie möchte ich ein gutes Gespräch gestalten? Welche gemeinsame Geschichte haben wir? Auf der dritten Ebene fokussiere ich mich auf das, was im Raum passiert: Welche spezifischen Rollen haben wir zueinander und in welchen Zusammenhängen haben wir Teile unserer Biografie gemeinsam geformt? Dazu gehört auch alles, was direkt vor und nach unserem Gespräch passiert ist bzw. passieren wird. Was haben wir kurz vor diesem Gespräch erlebt? Was haben wir direkt danach vor? Die vierte Ebene umfasst das, was außerhalb passiert: Wien, die Filmakademie, die mdw, Österreich – all das, was außerhalb dieses Raumes stattfindet, in dem wir uns befinden. Die fünfte Ebene nenne ich Up Into Space Or Down Into Earth – etwas, das immer da ist, wie ein permanentes Hintergrundrauschen im Leben. Ein Raum, der ins Unbewusste reicht und die Biografie auf einer nicht immer fassbaren Ebene durchzieht: Prägungen, Ideen, die in einer Familie weitergegeben werden, oder Vorstellungen davon, wie man in einer bestimmten Geschlechterrolle sein sollte usw.

Ein wichtiger Aspekt unserer Arbeit war die genaue gemeinsame Reflexion jedes künstlerischen Artefakts, die immer denselben Reflexionsschritten folgte. Es gibt beispielsweise einen Impuls aus dem Absurd Questionnaire: Was ist eine Tasse? Die künstlerische Umsetzung oder der künstlerische Ausdruck, der als Reaktion auf diesen Impuls erarbeitet wurde, dient als Antwort und wird in die Gruppe und die Reflexionsrunde zurückgetragen. Diese Reflexion umfasst vier Schritte, bei denen wir sprichwörtlich verschiedene Realitäten – Confronting Realities – nutzen, um kollektiv zu explorieren und dadurch immer weiter zu verstehen. Kann ich also Selbstverständlichkeiten, die ich in meinem eigenen Erleben habe, mit den Selbstverständlichkeiten einer anderen Person konfrontieren und dadurch Grenzen im biografischen Erleben und/oder Erzählen erkennen? Dies ist das Spezifische an dieser Arbeitsweise.

Die erste Frage lautet: Was hast du beobachtet? Hierbei ist es wichtig, das Gesehene und Erlebte nicht zu deuten, sondern nur Schritt für Schritt rückzuerzählen. Das ist oft schwieriger als angenommen, da wir sehr oft wie selbstverständlich zu Deutungen und Interpretationen des Gesehenen und Erlebten springen. Die zweite Frage ist: Welche Fragen habe ich? – Was verstehe ich nicht? Was ist offen? Die dritte Frage knüpft daran an: Wovon würde ich gerne mehr sehen, wo würde ich gerne weiter nachspüren? Und viertens: Was zieht mich an, wo kann ich subjektiv an der Biografie und der biografischen Erzählung einer anderen Person andocken?

 

Camilla Henrich (CH):

Wie erfolgte die Auswahl der Artist Researcher, haben sie in ein „Profil“ gepasst oder wie hast du sie ausgewählt, um dann im weiteren Schritt kollektiv einen Film mit ihnen herzustellen?

 

BW:

Von Anfang an war mir wichtig, eine möglichst große Diversität innerhalb der Gruppe zu gewährleisten. Unser Projekt trägt den Namen Confronting Realities. Doch wann kommt es denn zu einer Konfrontation? Ich finde, die mdw ist eine Universität, die stark von weißen Studierenden dominiert wird und einen bestimmten Bildungshintergrund voraussetzt. Dies war Gegenstand längerer Diskussionen. Wer kann sich die Vorbereitung auf Zugangsprüfungen leisten? Wer kann sich ein Vollzeitstudium leisten ohne daneben arbeiten gehen zu müssen? Wie können wir diese Barrieren überwinden und tatsächlich Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund in unser künstlerisch-wissenschaftliches Forschungsprojekt einbeziehen? Letztendlich haben wir in einer Gruppe mit vielfältigen Geschlechtern, Hautfarben, sozialen Klassen, Bildungshintergründen und beruflichen Tätigkeiten geforscht. Einen wichtigen Punkt, nämlich die Altersdiversität, konnten wir jedoch nicht optimal abbilden. Wir alle sind zwischen Ende 20 und Ende 30, also innerhalb einer Spanne von zehn Jahren. Ich halte es auch für sehr wichtig, mit noch jüngeren oder älteren Menschen zu forschen. Einige der Artist Researcher haben angeboten oder den Wunsch geäußert, mit ihren Eltern zu interagieren, gemeinsam zu forschen und zusammen künstlerisch zu wirken. Es wurden dann auch einige Interviews mit Eltern geführt und bei der Filmübersetzung sind wir nun am Überlegen, diese Eltern noch stärker einzubinden. Hier habe ich großes Forschungspotenzial erkannt, mit den entsprechenden Kapazitäten könnten die Erzählungen aus der Generation der Kinder noch mit denen der Eltern verbunden und verglichen werden. Es wäre sehr schön, in einem nächsten Schritt multigenerational zu arbeiten.

 

CWP:

Du hast vorhin mehrere Schritte aufgezeigt, wie du mit deinen Researchern arbeitest, von Fragebögen bis hin zu Reflexionsschritten, ganz detailliert. Das klingt alles sehr strukturiert. Wie hältst du das fest? Es geht ja in der Forschung auch um die Nachvollziehbarkeit der einzelnen Schritte. Diesen Prozess, dieses konkrete Festhalten der Schritte, wie kann man sich das vorstellen?

 

BW:

Ein sehr wichtiger Punkt. Ganz praktisch – ich schreibe immer mit und versuche, die Gespräche so gut wie möglich zu protokollieren und die Treffen sehr genau vorzubereiten und nachzubereiten. So entsteht viel und sehr unterschiedliches Material. Eine Möglichkeit wäre sicherlich auch gewesen, die Treffen aufzuzeichnen. Aber wir arbeiten mit biografischen – ethisch sensiblen – Daten, und das Wissen darüber, dass etwas aufgenommen und gespeichert wird, verändert das Verhalten im Raum. Es entsteht ein anderes Raumgefühl als in einem fast intimen Raum des Forschens und Hineinspürens in sich selbst, in die eigene Biografie und in sehr sensible Beziehungen wie die zu Mutter oder Müttern, zu Vater oder Vätern. Deshalb haben wir letztendlich entschieden, die

Treffen nicht aufzunehmen, sondern diese zu protokollieren und gleichzeitig möglichst präsent in der Gruppe zu sein.
Es ist definitiv eine Herausforderung, mit dieser Fülle von Material so umzugehen, dass es gut nachvollziehbar und wissenschaftlich „verwertbar“ ist. Also den Spagat zwischen (naturwissenschaftlicher) Forschungslogik und künstlerischer Arbeitslogik herzustellen. In den Laboren haben wir, meiner Meinung nach, eine gute Balance gefunden: Wir protokollieren die Artefakte schriftlich, die dann im DAFA oder auf anderen Ebenen dokumentiert werden können, und kontextualisieren die Prozesse später mit den Artist Researchern noch einmal in einem gesonderten Einzeltreffen, um festzustellen, ob die Protokolle ausreichend sind, ob etwas fehlt, wie die Prozesse genau abgelaufen sind und welche subjektiven Interpretationen damit verbunden sind. Bei den Kurzfilmen gibt es verschiedene Drehbuchversionen, Arbeitsprotokolle der gemeinsamen Entwicklungstreffen, Shotlists, verschiedene Takes, Schnittversionen und Feedbacks zu den verschiedenen Versionen, und dann das Endprodukt, den finalen Kurzfilm.

 

CWP:

Ihr durchlauft einen Prozess, den ihr dokumentiert, in dem es auch um eine künstlerische Übersetzung der einzelnen Schritte geht. Wie frei muss man denn sein, um dieses Poetische, Künstlerische zu erhalten? Das eine ist die Struktur, das andere ist auch, was man in Bezug auf die Nachvollziehbarkeit festmachen muss/will. Aber wo bleiben die Momente des künstlerischen Tuns?

 

BW:

Es gibt einerseits diesen Gesprächsmoment in der Gruppe, bei dem wir unsere eigenen Autosoziobiografien und die künstlerischen Übersetzungen einbringen und reflektieren. Vieles geschieht hier auch auf der Beziehungsebene, es geht darum, einen Gruppenprozess zu begleiten und aufzubauen, ein Miteinander zu kreieren. Die Hauptprämisse dabei ist, dass die eigene Biografie dir selbst gehört und es absolut dir überlassen ist, was geteilt wird. Das ist nicht verhandelbar. Wenn etwas nicht geteilt werden möchte, dann wird es nicht geteilt. Mit all diesen Schritten entsteht eine Gruppengemeinschaft, die als wissenschaftlicher und künstlerischer Explorationsort genutzt werden kann.

Andererseits gibt es die prozesshafte und reflexive Übersetzung, also das Ausformen von „künstlerischen Artefakten“, in diesen sehe ich die künstlerische Arbeit. Durch die fließende und kontinuierliche Einbindung der künstlerischen Arbeit im Reflexionsprozess konnten wir das Poetische, Künstlerische sehr spielerisch erhalten. Es war kein Druck da, auf etwas „Finales“ hinzuarbeiten, sondern es wurde kontinuierlich kreiert. Dadurch war viel Raum für Iterationen, Varianten, Versuche. Es gab eine große Leichtigkeit und Erwartungslosigkeit in unseren Laboren, was dem Poetischen und Künstlerischen meiner Meinung nach sehr entgegenkommt.

Es sind bei der Arbeit in den Laboren sehr diverse Ausdrücke entstanden, beispielsweise audiovisuelle Fragmente, die mit Fotos oder gezeichneten Elementen arbeiten. Oft ging es auch darum, Objekte, Bewegungen und Orte zu filmen, hauptsächlich mit der eigenen Handykamera. Es wird spannend sein, in die Kurzfilmproduktion zu gehen, wenn nicht nur das Handy, sondern auch eine professionelle Kamera und ein Team zur Verfügung stehen. Wie kann dieselbe Intimität vermittelt werden, auch in der Art, wie die Kamera geführt wird? Wenn ich zum Beispiel mit dem Handy Fotos von meiner Familie abfilme und entscheide, wie ich von einem Bild zum anderen übergehe, ob ich alle Fotos zeige oder nur einzelne, ob ich einen Teil des Bildes verdecke, dann erzeugt die Kamera eine Art affektive Live-Montage auf Basis meiner eigenen emotionalen Verbindung mit den abgefilmten auto(sozio)biografischen Momenten. Das wird jetzt das spannende Moment: Wie kann ich all das in einen größeren Produktionsrahmen, in einen Film übersetzen? Ich glaube, es gilt dieses Element der künstlerischen Forschung zu bewahren, bei dem beispielsweise die Kamera wie eine Verlängerung des Körpers und der affektiven Erinnerung fungiert und genauso zur Recherche und zum Laborsetting gehört wie das Zeichnen, das Erzählen mit der Stimme oder das Nachspielen einer Szene im Raum. Das wird die spezifische Herausforderung für die Forschung mit filmischen Mitteln sein.

 

CWP:

Verfasst ihr auch Drehbücher oder zeichnet Storyboards, um die filmischen Szenen aufzubereiten?

 

BW:

Ja, absolut. Es gibt die Labore und dann in einem getrennten Prozess die Kurzfilme inklusive „klassischer“ Kurzfilmproduktion. Die Labore selbst sind ein großer, sehr freier Explorationsraum, in dem die verschiedenen autosoziobiografischen Themen und Ausdrucksformen erforscht werden. Es entsteht eine Fülle von Material, das dann ins digitale Archiv (DAFA) kommt und die Kurzfilme inspiriert. Im zweiten Teil geht es dann darum, die „drängendsten“ Elemente aus all diesen drei Laboren herauszufiltern und in eine Filmproduktion überzuführen, bei der es ein Drehbuch, ein Storyboard, einen Dreh, Vor-/Postproduktion etc. gibt. Die entstehenden Filme sind zwischen zwei und vier Minuten lang geplant. Hier stellt sich natürlich die Frage, wie wir mit der Fülle von Material aus den Laboren in einer sehr kondensierten Form umgehen. Wie kann das Material mit dem Medium des Kurzfilms kommunizieren? Wie wählen wir aus, und was behandelt am prägnantesten ausgewählte Themen dieser Labore, ohne dass die Materialfülle überwältigend oder unpräzise wirkt? Verwenden wir doch Material aus den Laboren weiter oder verwenden wir neues Material, das von den Laborartefakten inspiriert ist und neu gedreht wird? Das ist momentan der Plan. Am Ende sollen Kurzfilme entstehen, die optimalerweise auf Festivals ausgewertet werden können und weitere Reflexion und Austausch ermöglichen. Außerdem, was auch wichtig ist, erfordert Film meist unterschiedliche Expertise in den diversen Stabstellen und die Zusammenarbeit verschiedener Menschen. Es ist spannend, sich die Frage zu stellen, wie es überhaupt funktionieren kann, in diesem kollektiven Prozess filmische Autosoziobiografien zu erstellen und am Ende des Projekts zu reflektieren, ob es gelungen ist. Ist immer noch das Auto- drinnen? Unsere grundlegende Fragestellung im Projekt lautet ja: Ist es möglich, ausgehend von einer literarischen Autosoziobiografie eine filmische Autosoziobiografie zu schaffen? Kann es sein, dass wir an einen Punkt kommen, an dem wir sagen, dass etwas soziobiografisch ist, aber nicht mehr autosoziobiografisch? Es wäre sehr spannend für mich, diese Fragen noch zu beantworten. Es gibt viele biografische Filme im Format von Essayfilmen, die oft Fotos verwenden, diese abfilmen, bearbeiten und dann mit einem Voiceover oder einem Interview versehen. Der Film Les Années Super 8 (2022) von Annie Ernaux und ihrem Sohn David Ernaux-Briot basiert stark auf diesem Konzept der abgefilmten Fotos – eine Montage von Bildern, möglicherweise bearbeitet, begleitet von einem Voiceover, welches die Bilder kontextualisiert. In diesem Fall geschrieben und gesprochen von Annie Ernaux selbst.

Mich interessiert es, dieses Format ein wenig aufzubrechen und zu erweitern. Ich frage mich, was beispielsweise passiert, wenn performative Elemente hinzukommen. Eine unserer Artist Researcher ist Performancekünstlerin. Was geschieht zum Beispiel, wenn wir eine Performance filmen und dann eine filmische Übersetzung der räumlichen Performance finden? Welche Elemente verändern sich, welche bleiben erhalten? Wie beeinflusst die Methode der Körperexploration die Möglichkeit, Körper in bestimmten Situationen zu filmen? Ändert sich der Fokus bei einem Gespräch mit einem Elternteil, wenn wir interagieren? Ich glaube, die Kamera kann dabei viel einfangen: Eine Nahaufnahme der Haut, die Gänsehaut zeigt. Oder wir sehen den Schweiß, der entsteht, sehen, wie ein Mund trocken wird, sich die Stimme verändert. Die Kamera kann hier präzise beobachten und diese Momente einfangen, sie kann in manchen Fällen sogar eine unbewusste Verbindung und eine affektive Erinnerung/Reaktion visuell sichtbar machen, ohne diese zu verbalisieren.

Ein weiterer wichtiger Punkt der schriftlichen autosoziobiografischen Form ist, soziologische Reflexionen in das eigene Erlebte einzuweben, diese in Verbindung zu setzen und diese Beziehung zu kommentieren. Ich beschäftige mich beispielweise mit Bourdieus Theorie des Habitus. Dieser innere Prozess des Lesens und Kommentierens kann leicht verschriftlicht werden. Im Film kann das zum Beispiel mithilfe eines Voiceover passieren. Aber ist das wirklich eine spezifisch filmische Form oder ist es nur die Verbalisierung einer schriftlichen Form, um diese der filmischen Form anzupassen? Hier würde ich gerne versuchen, mit dem zu arbeiten, was dem Film eigen ist – das Bild und die Montage des Bilds – und nicht (nur) mit gesprochenem Text.

 

CH:

In der Konfrontation mit dem DAFA haben Barbara und ich uns immer wieder gefragt, wie wir mit diesem kulturellen Background von Realitäten umgehen, die nicht „unsere“ sind, weil wir aus einem anderen Kulturkreis kommen. Wie macht man das dann nachvollziehbar? Inwiefern waren da durch die künstlerische Forschungspraxis im Labor auch neue Erfahrungen beobachtbar? Denn natürlich geht man durch einen Erfahrungsprozess, wenn man sich innerhalb einer Gruppe selbst reflektiert, die eigene Geschichte reflektiert, Feedback von anderen bekommt und umgekehrt auch auf die anderen reagiert. Ist das dann auch ein kultureller Austausch? Ich weiß nicht, ob man es so nennen kann.

 

BW:

Vorweg – das Wichtigste war für mich durchgehend die Hoheit über die eigene Biografie. Die Neugierde und die totale Offenheit dafür, dass jemand anderer in völliger Selbstbestimmung und Selbstverantwortung (auto-)biografisches Erzählen übernimmt.

In Bezug auf deine Frage zum potenziellen kulturellen Austausch ein paar Beobachtungen: In der Gruppe der Artist Researcher gibt es zwei Menschen mit Deutsch als Muttersprache, zwei mit Farsi und eine mit Französisch. Ich habe das vorher nicht spezifisch geplant, aber im Labor habe ich erkannt, dass es sehr wichtig ist, jemanden in der Gruppe zu haben, der oder die dieselbe Muttersprache spricht. Vor allem in Hinblick auf die Menschen, die Farsi als Muttersprache haben, ist mir aufgefallen, dass es zwischen den beiden ein Teilen von kulturellem Erleben und von Verständnis gibt, auch im Hinblick auf deren Fluchtgeschichte, zu der ich als westlich sozialisierte, weiße Frau keinen Zugang habe. Also es gibt sehr viel, das ich nicht verstehe und (noch) nicht weiß. Es ist wichtig, sich selbst kontinuierlich mitzureflektieren, auch, dass wir ja hier in einer Institution sind, die einen eigenen Bedeutungsraum im kulturellen Raum in Österreich hat. Also es kommt, glaube ich, niemand an die mdw, an die Filmakademie, ohne irgendein Gefühl oder eine Vorstellung von diesem Raum zu haben. Das ist eine Beobachtung, die ich definitiv mitnehmen möchte für kommende Forschungen. Achtsamkeit in Bezug darauf, wer in einen institutionellen Raum eintritt, wie offen dieser Raum ist und welche unbewussten Ängste dahinterstehen können. Deswegen, glaube ich, war es sehr wichtig, dass wir ko-kreative Kontextualisierungsprozesse und Reflexionsgespräche mit allen Artist Researchern um die Labore herum hatten. Ich glaube, wenn wir, du und ich, Camilla, vor diesem Material sitzen und anfangen, es alleine zu kontextualisieren und zu deuten, haben wir dazu nicht die entsprechenden Fähigkeiten. Nur im kontinuierlichen Austausch mit den Artist Researchern können wir das wirklich bewerkstelligen und in dem Zusammenhang würde ich von einem kulturellen Austausch auf Augenhöhe sprechen. Aus diesem Grund war es für mich auch sehr wichtig, selbst Teil der Explorationsprozesse zu sein und meine eigene Autosoziobiografie ebenfalls zu erforschen und in den Laboren zur Verfügung zu stellen. Ein echter Austausch kann nicht einseitig sein.

 

CH:

Ich finde diese zwei Ebenen auch so spannend. Zunächst die persönliche Autosoziobiografie, die von der Person selbst kommt, wo man eigentlich nichts hinzufügen kann oder soll, außer diese gemeinsam in ein professionelles künstlerisches Format zu überführen. Und dann die Parallele dazu – die künstlerische Forschung als wissenschaftliche Disziplin mit Richtlinien und Voraussetzungen, die man erfüllen muss. Das Material, das im Labor generiert wurde, durchläuft dann nochmal eine extra Schleife der Verwissenschaftlichung. Wie legt man das an?

 

CWP:

Das ist ein wichtiger Punkt. Die Nachvollziehbarkeit bezieht sich auf den Prozess. Es entstehen dabei so viele persönliche Materialien, die vielleicht gar nicht so sehr für eine Öffentlichkeit gedacht sind. Was stülpt man ihnen über? Es ist spannend, dass es dann in ein künstlerisches Übersetzen und nicht in einen wissenschaftlichen Artikel mündet. Also es geht schon um dieses künstlerische Produkt oder verschiedene Produkte. Es ist eine andere Form von Nachvollziehbarkeit. Das ist für mich der entscheidende Punkt, dass es in der Erkenntnis und in diesem zusätzlichen Wissen, das ich kreiere oder generiere, für ein Publikum eine Form von Nachvollziehbarkeit gibt. Das passiert nicht über das Lesen eines Artikels, sondern in diesem Fall über das DAFA.

 

BW:

Ja, definitiv. Film hat die Fähigkeit, etwas zu leisten, was sowohl quantitative als auch qualitative Forschung in dieser Form nicht können. In unserer Gesellschaft hat das Medium Film eine besondere Stellung, weil es eine Art von intuitiver Resonanz erzeugen kann. Film ermöglicht es uns, auf eine tiefere emotionale und unbewusste Weise mit Themen in Kontakt zu treten und sie zu verhandeln. Durch die visuelle und auditive Gestaltungskraft des Films und der künstlerischen Artefakte im DAFA spüren wir eine unmittelbare Verbindung und Reaktion, die in einen Raum hineinreicht, in den traditionelle Forschungsmethoden nicht reichen. Das soll kein Besser oder Schlechter sein, die verschiedenen Forschungsmethoden können unterschiedliche Aspekte des menschlichen Erlebens vermitteln.

 

CWP:

Es geht um die Möglichkeit der Nachvollziehbarkeit als Mitvollzug, als Teilnahme am Moment, an dem dasjenige einsichtig wird, was als Erkenntnis behauptet wird.[2] Das fasst gut zusammen, was du immer wieder von euren Prozessen erzählst, von Beobachtungen, auch von reflexiven Momenten. Und klar, es ist natürlich die Frage, wie ihr das festhaltet. Man kann beobachten, aber wenn man es nicht festhält, in welcher Form auch immer, dann ist es wirklich nur der Moment. Was hier angesprochen wird – die Nachvollziehbarkeit als Mitvollzug – das ist vielleicht die Verbindung zum Publikum.

 

BW:

Im digitalen Archiv machen wir diesen Prozess der Exploration nachvollziehbar. Daher würde ich gerne einige der Explorationsanleitungen aus dem Labor in dieses einbeziehen. So können Besucher und Besucherinnen auf eine Entdeckungsreise gehen: Da ist zum Beispiel eine Fragestellung, hier eine Aufgabenstellung, und da sind die Antworten der Artist Researcher, zu diesem Zeitpunkt, in Wien, in diesem Labor. Vielleicht könnten wir dadurch die Besucher und Besucherinnen dazu ermutigen, diese Impulse selbst auszuprobieren und herauszufinden, wie sie darauf antworten würden. Sie würden dann auf eine eigene Entdeckungsreise durch ihre Autosoziobiografien gehen können. Dadurch könnten sie ihre eigenen Erfahrungen mit denen der Artist Researcher vergleichen und so eine tiefere Verbindung – Ähnliches, aber auch Unterschiede – herstellen. Dieser Ansatz kann dann den Effekt haben, dass der Prozess wirklich nachvollziehbar wird. Und wenn am Ende die zwei- bis vierminütigen Filme angeschaut werden, kann der Besucher, die Besucherin erkennen, welches Material ausgewählt wurde und was für die einzelnen Personen in diesem Moment am drängendsten war zu erzählen. Die Integration dieser Elemente kann das digitale Archiv zu einem interaktiven Raum machen, der nicht nur die Arbeit der Artist Researcher dokumentiert, sondern auch die Besucher*innen dazu anregt, sich selbst mit den behandelten Themen auseinanderzusetzen. So wird der gesamte kreative und reflektierende Prozess lebendig und greifbar.

 

CH:

Gibt es eine Art Message ans Publikum? Einen Moment, in dem ich erkenne, dass mir etwas bekannt vorkommt? Etwas Gemeinsames, an dem ich andocken kann als Publikum?

 

BW:

Für mich liegt der spezifische Erkenntnismoment wahrscheinlich im Zusammenspiel von Familie und Soziobiografie. Wenn ein Publikum diese Artefakte sieht, durch das digitale Archiv geht oder sich einen Kurzfilm anschaut, kann es im besten Fall nachvollziehen, welchen Einfluss Familie/Herkunft auf Biografieverläufe und auf Selbstnarration von Biografie hat. Es kann klar werden, inwiefern Zusammenhänge auf bewusster und unbewusster Ebene damit bestehen, dass wir alle in einen spezifischen Kontext hineingeboren werden, der durch den Ort, die Zeit und die familiäre Konstellation geformt wird und wo sich Werte, Normen und Zukunftsausblicke vermitteln und formen.

 

CH:

Also wie prägt mich mein Umfeld, in das ich hineingeboren werde?

 

BW:

Absolut. Ich glaube, eine Sache ist da auch wichtig hinzuzufügen: dass Gesellschaft ein kontinuierlicher Verhandlungsprozess ist. Dass politische Strukturen auf einem Aushandlungsprozess basieren. Es ist spannend, das auf die eigene Biografie zu beziehen. Sich zu fragen, wer in diesen Aushandlungsprozess involviert ist, also wer die dominante Klasse ist, wer die Entscheidungen über die Menschen in diesem politischen System trifft. Gibt es demokratische Prozesse? Wenn ja, wie transparent sind diese? Gibt es Korruption? Und so weiter. Das divergiert selbstverständlich auf der ganzen Welt sehr stark. Die Struktur, in die ein Mensch hineingeboren wird, Rahmenbedingungen, die u. a. politisch vorgegeben sind, formen unterschiedliche Soziobiografien und schaffen unterschiedliche Möglichkeits- und Unmöglichkeitsräume. Das wird deutlich sichtbar in den unterschiedlichen Biografien und es ist sehr interessant, das ans Licht zu holen.

 

CH:

Dass das politische System bis ins Private geht und so eigentlich auch verstanden werden sollte.

 

BW:

Absolut. Und dass das Private politisch ist. Ein interessanter Unterschied zeigte sich hier beispielsweise zwischen den Laboren Mutter/Mütter und Vater/Väter. Dabei wurde deutlich, wie der weibliche Körper und die Möglichkeiten, die Frauen haben – alle Menschen, die als Frauen wahrgenommen und gelesen werden[3] – in unterschiedlichen politischen Kontexten behandelt werden. Die Art und Weise, wie Kleidung getragen werden darf und wie der Körper von Frauen* dargestellt werden kann, steht in engem Zusammenhang mit der Kontrolle und Strukturierung durch das politische System. Wie darf Kleidung, wie darf mein Körper gezeigt werden? Was bedeutet mein Körper als Frau* in diesem politischen System? In wie vielen Details wird er kontrolliert und strukturiert? Bis wann ist Schulbildung erlaubt? Und so weiter. In einigen Ländern sind diese Kontrollen natürlich extrem ausgeprägt. Die Biografien von Menschen mit Fluchterfahrungen zeigen eindrücklich, wie politische und soziale Gegebenheiten jemanden dazu zwingen können, ein Land zu verlassen, wenn Unterdrückung und Verfolgung eine lebensbedrohliche Situation schaffen. So etwas haben Menschen in Österreich in den letzten 70 Jahren nicht erlebt, obwohl es hier selbstverständlich auch sehr unterschiedliche Erfahrungen und soziale Klassen mit ihren jeweiligen Möglichkeiten und Einschränkungen gibt.

Zusätzlich gibt es die wissenschaftspolitische Dimension der Erkenntnis: Was gilt als wertvolle Erkenntnis? Wer hat die Macht, dies zu bestimmen? Als Teil einer Universität, beispielsweise als Professor*in, sind wir Teil eines Systems, das definiert, was als wissenschaftlich wertvoll anerkannt wird und was als Erkenntnis gilt. In unserem Projekt reflektieren wir diese Machtstrukturen und versuchen, kritisch zu hinterfragen, wie wir Erkenntnisse gewinnen und validieren. Ich finde, dass wir das alle in unserem Projekt stark mitdenken. Wie kann das ausgeweitet werden, wie können wir uns selbst auch kontinuierlich kritisch betrachten und das Projekt so weit wie möglich gestalten, um eine möglichst breite Vielfalt an Erfahrungen, Erkenntnissen und Perspektiven zu berücksichtigen?

 

CH:

Ja, es stellt sich ja auch die Frage, wieso Menschen ihre Autosoziobiografie erzählen. Was wollen sie anderen Menschen vermitteln? Zum Beispiel, wie ich in einem ungerechten System ein gutes Leben führen kann?

 

BW:

Die literarischen Autosoziobiografien handeln oft von Transclasse-Erfahrungen. In einem Bildungsaufstieg liegen schmerzliche Erfahrungen, die unsichtbar sind und sichtbar gemacht werden sollten und Machtverhältnisse, Dominanz und Unterdrückung in Systemen und Institutionen offenbaren; in spezifischen Fällen – Louis, Eribon, Ernaux – auch im Wissenschafts- und Bildungsbetrieb. Ich denke, das ist bei diesen Soziobiografien oft die Motivation dafür, die eigene Geschichte zu erzählen. Das gegenwärtige wirtschaftliche und politische System kreiert große Ungleichheit auf der Welt. Es gilt diese in allen Facetten sichtbar zu machen und dadurch Veränderung durch Organisation und Proteste möglich zu machen. Autosoziobiografien sollen in dem Fall Ungerechtigkeiten aufzeigen und dazu aufrütteln, kollektiv gegen diese vorzugehen.

In unserem Labor geht es jedoch nicht nur um den universitären Bildungsbetrieb, sondern ebenfalls um künstlerische Arbeitsumfelder sowie den Pflegebetrieb, auch im Zusammenhang mit Migration und Fluchterfahrungen.

Was wahrscheinlich ebenfalls noch wichtig ist: Es muss nicht immer eine Transclasse-Erzählung und auch nicht immer eine Aufstiegsgeschichte sein. Soziobiografie ermöglicht es, spezifische biografische Erfahrungen, die oft unsichtbar bleiben, sichtbar zu machen und in größere Zusammenhänge zu stellen. So können wir genauer betrachten, welche Vielfalt biografischer Erfahrungen – auch über den Bildungsaufstieg hinaus – existiert.

 

CWP:

Spannend finde ich, dass in den Laboren Künstler*innen arbeiten. Ihr denkt das Soziale nicht nur in Klassensystemen, diese Künstler*innenschaft an sich bedingt schon eine bestimmte Lebensform. Unabhängig von der Frage nach Klassenverhältnissen und den sozialen Bedingungen einzelner Klassen sowie Hierarchien kommt bei Künstler*innen der spezifische Aspekt dazu, dass sie weniger bestimmten gesellschaftlichen Normen entsprechen. Der künstlerische Bereich ist schon etwas Spezifisches und ich finde es spannend, dass du auch eine Pflegekraft mit Fluchterfahrung reingeholt hast.

 

BW:

Definitiv. Also ich finde, dass du mit der „Künstler*innenklasse“ einen sehr wichtigen Punkt aufwirfst, weil wir noch gar nicht besprochen haben, auf welches Klassenkonzept wir uns prinzipiell berufen. Andreas Reckwitz, Max Weber, Daniel Oesch – man könnte sie im Grunde alle heranziehen. Ich finde die Arbeit von Andreas Reckwitz aber in Bezug auf den Aspekt der Künstler*innen besonders fruchtbar. Das Interessante bei der „Künstler*innenklasse“ ist, dass es Personen gibt, die durchschnittlich über ein sehr hohes kulturelles Kapital verfügen, das jedoch oft gepaart ist mit einem sehr niedrigen materiellen Kapital. Da kreuzen sich Kapitalformen und es gibt Menschen, die eine gewisse Dominanz oder Deutungshoheit im kulturellen Sinne haben und gleichzeitig in sehr prekären Verhältnissen leben. Diese Situation ähnelt bis zu einem gewissen Grad den neuen Arbeitsformen der Working Poor, wo mehrere Jobs nicht ausreichen, um die Miete zahlen zu können, einen sicheren Lebensstandard oder Zukunftsausblick zu haben. Es wäre natürlich spannend, in Gruppenzusammensetzungen spezifisch zu schauen, welche die Arbeitskontexte sind, die in der westlichen Welt aktuell neue Milieus und Schichten formen. Ich habe das Gefühl, dass es hier ein Potenzial für Soziobiografien gibt, das noch weitgehend unerforscht ist.

 

CWP:

Ihr seid in einem Feld, in dem es eben ganz spezifisch ums experimentelle, künstlerische Forschen geht. Das hat durchaus bestimmte Rahmenbedingungen. Diese Rahmenbedingungen sind letzten Endes sehr entscheidend.

 

BW:

Absolut, und das ist auch das Privileg, in diesem künstlerisch-wissenschaftlichen Projekt arbeiten zu dürfen, da wir im Laborsetting ergebnisoffen arbeiten können. Wenn dann am Ende ein Film entsteht, der einen Verleih findet und auf Festivals gezeigt wird, ist das großartig und ein Bonus. Und wenn das nicht der Fall ist, ist das auch völlig in Ordnung. Es ist schön, künstlerisch forschen zu können, ohne der aktuellen künstlerischen Markt- und Verwertungslogik folgen zu müssen. Zusätzlich ist es für mich extrem bereichernd, den Prozess der Exploration, des künstlerischen Suchens und Ausprobierens, der sonst im künstlerischen Arbeiten oft unsichtbar bleibt und keinen Raum findet, sichtbar machen zu können.

 

CWP:

Denkt ihr jetzt schon darüber nach, welches Publikum ihr adressieren wollt oder an welches Publikum sich die einzelnen Ergebnisse richten sollen?

 

BW:

Wir haben auf der einen Seite das digitale Archiv, das für ein breites Publikum sehr niederschwellig zugänglich ist. Unser Wunsch ist, dass es nicht nur von einem ohnehin interessierten Publikum genutzt wird. Es gibt einerseits die Personen, die an Autosoziobiografien interessiert sind oder in ähnlichen Bereichen arbeiten und das Archiv auf wissenschaftlicher oder künstlerischer Basis nutzen können. Daher haben wir verschiedene Ebenen geplant, damit Künstler*innen und Wissenschaftler*innen, die mehr Informationen möchten, auf einer zweiten Ebene tiefergehende Informationen finden können. Auf der anderen Seite glaube ich, dass wir mit unserem Symposium, der Publikation und den Filmen Menschen ansprechen können, die grundsätzlich Interesse an Familiennarrativen und diversen Biografien haben. Es ist mein Wunsch, dass unsere Arbeit zugänglich und verständlich ist und ein breiteres Publikum erreicht. Ein Kurzfilm von zwei bis vier Minuten kann Menschen die Möglichkeit geben, eine biografische Erfahrung mit einem Elternteil nachzuvollziehen. Jede*r hat einen Vater und eine Mutter, ob an- oder abwesend, und das erzeugt eine Resonanz. Sei es, dass eine Ähnlichkeit erkannt wird, etwas Neues gelernt wird oder man ein Gefühl vermittelt bekommt, das nachvollziehbar ist.

Für mich wäre es ideal, wenn das Publikum, das die Artefakte oder einen Kurzfilm anschaut, die Möglichkeit findet, mit eigenen soziobiografischen oder biografischen Erfahrungen in Resonanz zu treten. Es sollte ein Prozess entstehen, bei dem eine emotionale oder gedankliche Verbindung entsteht. Es muss nicht zwingend interaktiv sein, aber es wäre schön, wenn die Betrachtenden das Gefühl haben, dass das Gesehene sie auf irgendeine Weise betrifft. So könnten sie angeregt werden, über ihre eigene Biografie nachzudenken und darüber, wie diese in größere soziale Strukturen eingebettet ist.

 

CH:

Ich finde ja, die Erkenntnis könnte auch in diesem verbindenden Moment liegen. Wenn ich eine Biografie aus einem anderen Land vermittelt bekomme, kann ich mich selbst reflektieren, projizieren. Und ich denke darüber nach, inwiefern Autosoziobiografien auch ein emanzipatorisches Moment haben.

 

BW:

Sie haben definitiv ein emanzipatorisches Moment. Echte Begegnung auf Augenhöhe passiert jedoch nicht selbstverständlich. Wir müssen dazu eigene, tief eingeschriebene Vorstellungen von Macht und Dominanz reflektieren und überwinden. Ich denke, autosoziobiografische Exploration in der Verbindung mit künstlerischen Techniken und soziologischen Theorien kann eine (von vielen) Methoden sein, solche unbewusst eingeschriebenen Vorstellungen von Gesellschaft sichtbar zu machen, zu reflektieren und schlussendlich zu überwinden. Ein zentraler Aspekt dieser sozialen Strukturen sind Mechanismen von Dominanz, Scham und Unterdrückung. Es ist wichtig zu erkennen, dass diese Strukturen menschengemacht sind und keine absoluten, ewigen Wahrheiten darstellen. Diese Strukturen sind bewusst gestaltet und durch bestimmte Mechanismen oder Codes geprägt. Wenn du diese oder jene Codes nicht kennst, gehörst du nicht zu dieser oder jener Klasse. Ein unglaublich emanzipatorisches Moment liegt darin, zu erkennen, woher Scham oder das Gefühl, nicht in bestimmte Räume passen zu können, stammt und wie dadurch ein erster Schritt zur Überwindung von Exklusion und Scham und somit Veränderung möglich wird. Das Potenzial sehe ich stark in der Erforschung sozialer – menschengemachter – Strukturen in der eigenen Biografie. Durch das Bewusstsein um deren Konstruiertheit entsteht die Möglichkeit, sie zu überwinden und faire, diskriminierungsfreie Strukturen zu schaffen und diese Strukturen nicht (unbewusst) zu reproduzieren. Das war auch ein wichtiges Thema in unseren Laboren – wie gehen westliche, weiße Menschen, welche die Erben von kolonialer Geschichte sind, mit ihrer Verantwortung in Bezug auf ihre Geschichte und ihre Privilegien um? Wie begegnen PoC Menschen, die aus westlich kolonialisierten Ländern kommen und massive Einflussnahme und Gewalt unterschiedlicher, u. a. westlicher Machtformen erlebt haben, ihrem Leben in einem westlichen Land? Und wie begegnen wir einander auf Augenhöhe in diesem Labor? Was braucht es dazu? Wie können wir zu einem echten Austausch kommen?

Autosoziobiografische Exploration kann für so einen Austausch einige Handwerkszeuge anbieten, davon bin ich überzeugt.

 

CWP:

Da sind also noch einige Möglichkeiten weiterzuforschen. Leider kommen wir zum Ende unserer gemeinsamen Zeit. Ich bedanke mich sehr herzlich für das spannende Gespräch.

 

CH:

Ja, danke dir sehr, Barbara. Es war sehr interessant, tiefer in eure Arbeit einzutauchen.

 

BW:

Der Dank ist ganz auf meiner Seite, es war sehr schön, die Arbeit mit euch zu besprechen und noch einmal gemeinsam zu reflektieren.

 

 

Lektorat: Marilies Jagsch

 

[1] Detaillierte, weiterführende Informationen zur Methode: Wolfram, B. & Wintersteiger, C. (2023). (Not) Entering Every Room – Exploring Autosociobiographies via liminal crossing points of social class and the emotion shame. Research Catalogue 2023; Society of Artistic Research. Link: https://www.researchcatalogue.net/profile/show-exposition?exposition=1280279

[2] Badura, J. Erfahrung (sinnliche). In: Badura, J., Dubach, S., et al. (Hg.) (2015): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch. Berlin/Zürich. S. 43-48.

[3] Fragen der Transsexualität oder Non-Binarität werden in vielen politischen Systemen komplett ignoriert oder geleugnet.

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