DAFA Barbara Wolfram - Genealogische Perspektiven auf Autosoziobiografie
In unserer künstlerisch-wissenschaftlichen Arbeit im PEEK/ FWF Projekt Confronting Realities. Arbeit an filmischen Autosoziobiografien lege ich den Schwerpunkt auf die Rolle der Familie in der Formation und Weitergabe von autosoziobiografischen Narrationen. In filmischen Laboren (LAFA) explorieren wir kollektiv Autosoziobiografien.
Das erste filmische Labor 2022 widmete sich der Mutter, das zweite Labor 2023 dem Vater und das dritte Labor 2023/2024 Geschwistern & chosen family.
Literarische Werke wie Wunschloses Unglück von Peter Handke (1972), Une Femme (1987) und L’événement (2000) von Annie Ernaux, Combats et métamorphoses d’une femme von Édouard Louis (2021), Man kann Müttern nicht trauen von Andrea Roedig (2022) und Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben von Didier Eribon (2024) sowie Filme wie Les Années Super-8 von David Ernaux-Briot und Annie Ernaux (2022), Retour à Reims (Fragments) von Jean-Gabriel Périot (2021), L’événement von Audrey Diwan (2021) sowie Alle reden übers Wetter von Annika Pinske (2022) nahm ich als Ausgangspunkt und Anstoß, um zusammen mit Negin Rezaie, Nasima, Robin Jentys, William Joop, Caspar Thiel und Christina Wintersteiger-Wilplinger die Verbindungs- und Kreuzungslinien von Familien und ihren Kindern sowie deren Lebenswege nachzuzeichnen. In einer genealogischen Perspektive haben wir Orte, Zeiten, Körper, soziale Klassen, Sexualität, Bildungs- und Arbeitsbiografie sowie Alter unserer Mütter/ Väter/ Geschwister/ chosen family erforscht und durch künstlerische und wissenschaftliche Explorations-, Translations-, Reflexions- und Re-Iterationsmethoden durchleuchtet.
Durch die Verbindung von diversen künstlerischen autosoziobiografischen Elementen dieser autosoziobiografischen Exploration fragen wir schlussendlich nach einer filmischen autosoziobiografischen Übersetzung und Darstellung dieser Relationen.
Das Digitale Archiv (DAFA) ist die Archivierung unserer Explorationsprozesse. Es soll den künstlerischen Explorationsprozess sowie die Verbindungen eines kollektiven künstlerisch-wissenschaftlichen Arbeitens sichtbar machen und Impulse für Besucher:innen zur eigenen autosoziobiografischen Exploration geben. Diese Impulse stehen zur freien Verfügung, sie sind da, um etwas zum Oszillieren zu bringen, einen Anstoß für eine künstlerische Translation zu finden, weiter am Thema von Familie in Hinsicht auf Autosoziobiografie zu gehen. Es sind Impulse zwischen Dir und deiner Mutter/ Mütter, deinem Vater/ Väter, deinen Geschwistern. Oder auch nicht.
„Die »psychologische« Macht familiärer Bindungen ist vor allem eine soziale: Sie beruht größtenteils auf der Tatsache, dass die Strukturen der sozialen Welt den Individuen und ihren Gehirnen ab der frühesten Kindheit eingeschrieben werden. Darüber hinaus beruht sie auf den unzähligen gesellschaftlichen Anrufungen und Ritualen, die zur Verstetigung nicht unbedingt eines Gefühls der familiären Zuneigung beitragen, aber zumindest zu einem Gefühl der familiären Zugehörigkeit, mit allen dazugehörigen Verpflichtungen. Ganz gleich, wie sehr man versucht, die eigene Familie auf Abstand zu halten, ganz gleich, wie sehr man sich von ihr entfernen und sich von ihrem Zugriff befreien möchte, man wird immer wieder durch ein Ensemble aus Zwängen auf sie zurückgeworfen, Zwängen, die umso größere Macht über uns haben, als sie in Form ritualisierter Gefühle und Verpflichtungen daherkommen. Pierre Bourdieu hat die beiden gegensätzlichen Kräfte, die in der Familie wirken, in einem berühmten Artikel sehr treffend beschrieben: die Zentripetalkraft und die Zentrifugalkraft, die Familie als »Körper« und als »Feld«, als Ort der Verschmelzung (fusion) und der Abspaltung (fission).[1]“
Didier Eribon, Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben (2024), S.140
„Ich hatte den Eindruck, das Wörterbuch wäre eines der wenigen Dokumente, die mir Informationen über meine Mutter liefern könnten, ganz so, als würde ich darin Auszüge aus persönlichen Unterlagen finden, als Ersatz für ein nicht existentes Familienarchiv. Gewissermaßen Bruchstücke ihrer Lebensgeschichte. Natürlich hätte ich gern ein Buch wie das in die Hand bekommen, das sich Danilo Kiš in seiner »Enzyklopädie der Toten« ausdenkt. Darin wird die Erzählerin in eine Bibliothek geführt, wo sie auf unzählige Bände voller Biografien von Verstorbenen stößt, die man – so die Bedingung – nur in das Werk aufgenommen hat, weil sie nicht berühmt sind und deshalb in keiner anderen Enzyklopädie vorkommen. Die detailreichen Artikel über diese unbekannten Menschen sind insofern bemerkenswert, als darin alle »menschlichen Beziehungen, Begegnungen und Landschaften« sowie »die Menge der Einzelheiten« beschrieben werden, »aus denen sich ein menschliches Leben zusammensetzt«. Jede Geste, jeder Gedanke, alle Lieder, die man in der Jugend gesummt hat: »Nichts ist weggelassen worden.« Historische und politische Ereignisse finden nur insofern Erwähnung, als sie mit dem »persönlichen Schicksal verbunden« sind, denn für die Verfasser des Lexikons ist »jedes menschlicheWesen ein Heiligtum«. Die Erzählerin taucht in das Leben ihres Vaters ein, über das sie nicht viel weiß. Alles ist dort festgehalten, jeder Ort, an dem er je war, jeder Moment seines Lebens, jedes noch so große oder kleine Ereignis. Selbst sein Krankenhausaufenthalt und sein Tod … Sie schreibt sich alles heraus, »möglichst viele Informationen […], um in Stunden der Verzweiflung einen Beweis zu haben, daß sein Leben nicht überflüssig gewesen war, daß es auf derWelt noch Menschen gibt, die ein jedes Leben aufzeichnen und hoch schätzen, jedes Leiden, jede menschliche Existenz«[2]. Wie gern würde ich solch einen Lexikoneintrag über meine Mutter lesen! Über meinen Vater ebenfalls. Über einfache Menschen wie sie, deren Lebensgeschichte nur selten erzählt wird.“
Didier Eribon, Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben (2024), S.163&164
„Stattdessen will sie ihren Aufenthalt auf der Erde dokumentieren, in einer gegebenen Epoche, die Jahre, die sie durchdrungen haben, die Welt, die sie allein dadurch, dass sie gelebt hat, in sich abgespeichert hat. Deshalb zieht sie die Intuition dafür, welche Form ihr Buch annehmen soll, aus einem anderen Gefühl, einem Gefühl, das sie überkommt, wenn sie ausgehend von einem Bild der Vergangenheit – wie sie nach dem Krieg neben anderen Kindern, denen die Mandeln herausgenommen worden waren, im Krankenhaus liegt, wie sie im Juli 68 mit dem Bus durch Paris fährt – den Eindruck hat, in etwas Größerem aufzugehen, einem unscharfen Ganzen, dessen einzelne Bestandteile – Bräuche, Handlungen, Worte etc. – sie durch einen Kraftakt ihres kritischen Bewusstseins zum Vorschein bringen kann. So wird der winzige Augenblick der Vergangenheit immer größer, er wird zu einem Horizont, der zwar beweglich ist, der aber auch eine einheitliche Tonalität hat, dem Horizont eines oder mehrerer Jahre. Dann überkommt sie mit einer tiefen, fast überwältigenden Befriedigung – die sie angesichts des einzelnen Bildes, der persönlichen Erinnerung nicht empfindet –, ein umfassendes Gefühl für die Gesellschaft, in dem ihr Bewusstsein, ja ihr ganzes Sein enthalten ist.“
Annie Ernaux, Die Jahre (2008), S. 251
„Die Form ihres Buchs kann also nur zum Vorschein kommen, wenn sie in ihre eigenen Gedächtnisbilder eintaucht und sich die Merkmale der Epoche oder des jeweiligen Jahres, aus dem sie ungefähr stammen, ansieht – wenn sie sie nach und nach mit anderen Bildern zusammenbringt, sich in Erinnerung ruft, was die Leute gesagt, wie sie Ereignisse und Dinge kommentiert haben, wenn sie ihre Worte aus der Masse der Kommunikationen herausgreift, aus dem Hintergrundrauschen, das pausenlos formuliert, wie wir sein sollen, was wir denken, glauben, fürchten, hoffen sollen. Sie will aus dem Abdruck, den die Welt in ihr und ihren Zeitgenossen hinterlassen hat, eine gesellschaftliche Zeit rekonstruieren, eine Zeit, die vor Langem begann und bis heute andauert – sie will in einem individuellen Gedächtnis das Gedächtnis des kollektiven Gedächtnisses finden und so die Geschichte mit Leben füllen. Das Buch soll nicht das sein, was man üblicherweise unter Erinnerungsarbeit versteht, bei der es darum geht, ein Leben nachzuerzählen und sich zu erklären. Sie schaut nur in sich hinein, um dort die Welt, das Gedächtnis und die Träume der Vergangenheit zu finden, um zu erfassen, wie sich Ideen, Glaubenssätze und Gefühle, wie sich die Menschen und das Subjekt verändert haben, Veränderungen, die sie selbst miterlebt hat und die vielleicht nichts sind im Vergleich zu denen, die ihre Enkelin und die Menschen im Jahr 2070 erlebt haben werden. Um Gefühlen nachzuspüren, die da sind, die aber noch keinen Namen haben, so wie jenes Gefühl, das sie zum Schreiben animiert.“
Annie Ernaux, Die Jahre (2008), S. 253
„Das zu schreibende Buch würde ihr Beitrag zur Revolte sein. Von diesem Vorhaben ist sie zwar nicht abgerückt, aber mittlerweile ist es ihr wichtiger, das Licht einzufangen, das auf jetzt unsichtbare Gesichter fällt, auf Tischdecken mit verschwundenem Essen, ein Licht, das schon in den Erzählungen ihrer Kindheit da gewesen war, bei den sonntäglichen Familienessen, und das sich seither auf alles gelegt hat, was sie erlebte, ein früheres Licht. Gerettet werden soll (…)“
Annie Ernaux, Die Jahre (2008), S. 254
“Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.”
Annie Ernaux, Die Jahre (2008), S. 255
[1] Pierre Bourdieu, »Àpropos de la famille comme catégorie réalisée«, in: Actes de la recherche en sciences sociales (1993), S. 32-36.
[2] Danilo Kiš, »Enzyklopädie der Toten« (1981), in: ders., Enzyklopädie der Toten, aus dem Serbokroatischen von Ivan Invanji, München: Hanser 1986, S. 45-75.
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