„Ich hatte den Eindruck, das Wörterbuch wäre eines der wenigen Dokumente, die mir Informationen über meine Mutter liefern könnten, ganz so, als würde ich darin Auszüge aus persönlichen Unterlagen finden, als Ersatz für ein nicht existentes Familienarchiv. Gewissermaßen Bruchstücke ihrer Lebensgeschichte. Natürlich hätte ich gern ein Buch wie das in die Hand bekommen, das sich Danilo Kiš in seiner »Enzyklopädie der Toten« ausdenkt. Darin wird die Erzählerin in eine Bibliothek geführt, wo sie auf unzählige Bände voller Biografien von Verstorbenen stößt, die man – so die Bedingung – nur in das Werk aufgenommen hat, weil sie nicht berühmt sind und deshalb in keiner anderen Enzyklopädie vorkommen. Die detailreichen Artikel über diese unbekannten Menschen sind insofern bemerkenswert, als darin alle »menschlichen Beziehungen, Begegnungen und Landschaften« sowie »die Menge der Einzelheiten« beschrieben werden, »aus denen sich ein menschliches Leben zusammensetzt«. Jede Geste, jeder Gedanke, alle Lieder, die man in der Jugend gesummt hat: »Nichts ist weggelassen worden.« Historische und politische Ereignisse finden nur insofern Erwähnung, als sie mit dem »persönlichen Schicksal verbunden« sind, denn für die Verfasser des Lexikons ist »jedes menschlicheWesen ein Heiligtum«. Die Erzählerin taucht in das Leben ihres Vaters ein, über das sie nicht viel weiß. Alles ist dort festgehalten, jeder Ort, an dem er je war, jeder Moment seines Lebens, jedes noch so große oder kleine Ereignis. Selbst sein Krankenhausaufenthalt und sein Tod … Sie schreibt sich alles heraus, »möglichst viele Informationen […], um in Stunden der Verzweiflung einen Beweis zu haben, daß sein Leben nicht überflüssig gewesen war, daß es auf derWelt noch Menschen gibt, die ein jedes Leben aufzeichnen und hoch schätzen, jedes Leiden, jede menschliche Existenz«[1]. Wie gern würde ich solch einen Lexikoneintrag über meine Mutter lesen! Über meinen Vater ebenfalls. Über einfache Menschen wie sie, deren Lebensgeschichte nur selten erzählt wird.“

Didier Eribon, Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben (2024), S. 163&164

 

[1] Danilo Kiš, »Enzyklopädie der Toten« (1981), in: ders., Enzyklopädie der Toten, aus dem Serbokroatischen von Ivan Invanji, München: Hanser 1986, S. 45-75.