„Die Form ihres Buchs kann also nur zum Vorschein kommen, wenn sie in ihre eigenen Gedächtnisbilder eintaucht und sich die Merkmale der Epoche oder des jeweiligen Jahres, aus dem sie ungefähr stammen, ansieht – wenn sie sie nach und nach mit anderen Bildern zusammenbringt, sich in Erinnerung ruft, was die Leute gesagt, wie sie Ereignisse und Dinge kommentiert haben, wenn sie ihre Worte aus der Masse der Kommunikationen herausgreift, aus dem Hintergrundrauschen, das pausenlos formuliert, wie wir sein sollen, was wir denken, glauben, fürchten, hoffen sollen. Sie will aus dem Abdruck, den die Welt in ihr und ihren Zeitgenossen hinterlassen hat, eine gesellschaftliche Zeit rekonstruieren, eine Zeit, die vor Langem begann und bis heute andauert – sie will in einem individuellen Gedächtnis das Gedächtnis des kollektiven Gedächtnisses finden und so die Geschichte mit Leben füllen. Das Buch soll nicht das sein, was man üblicherweise unter Erinnerungsarbeit versteht, bei der es darum geht, ein Leben nachzuerzählen und sich zu erklären. Sie schaut nur in sich hinein, um dort die Welt, das Gedächtnis und die Träume der Vergangenheit zu finden, um zu erfassen, wie sich Ideen, Glaubenssätze und Gefühle, wie sich die Menschen und das Subjekt verändert haben, Veränderungen, die sie selbst miterlebt hat und die vielleicht nichts sind im Vergleich zu denen, die ihre Enkelin und die Menschen im Jahr 2070 erlebt haben werden. Um Gefühlen nachzuspüren, die da sind, die aber noch keinen Namen haben, so wie jenes Gefühl, das sie zum Schreiben animiert.“

Annie Ernaux, Die Jahre (2008), S. 253