„Wer um seine Mutter weint, weint auch um seine »Kindheit« und seine »verlorene Jugend«, schreibt Albert Cohen.[1] Nichts erscheint mir wahrer als dieser Satz. Gleichzeitig eignet man sich in diesem Trauerprozess aber auch vergessene oder verdrängte Aspekte jener Zeit wieder an, vor allem die Aspekte, für die man sich geschämt hat. »[I]ch stelle dich jetzt allen vor«, sagt Cohen über seine verstorbene Mutter, »stolz auf dich, stolz auf deinen orientalischen Akzent, stolz auf dein fehlerhaftes Französisch, unbeschreiblich stolz auf deine Unkenntnis der großen Umgangsformen.« Jedoch fügt er hinzu: »Etwas spät, dieser Stolz.«[2]
Und er spricht eine Mahnung aus:
»Söhne noch lebender Mütter, vergesst nicht, dass eure Mütter sterblich sind. Ich werde nicht umsonst geschrieben haben, wenn einer von euch, nachdem er meinen Gesang vom Tod gelesen hat, meinetwegen und meiner Mutter wegen an einem Abend mit seiner Mutter freundlicher ist. […] Diese Worte, die ich an euch, Söhne noch lebender Mütter, richte, sind die einzigen Beileidskundgebungen, die ich für mich übrig habe. Solange es noch Zeit ist, Sohn, solange sie noch da ist. Beeilt euch […]. Aber ich kenne euch, und nichts wird euch aus eurer verrückten Gleichgültigkeit reißen, solange eure Mütter am Leben sind. Kein Sohn weiß wirklich, dass seine Mutter sterben wird, und alle Söhne ärgern sich über ihre Mütter und sind ungeduldig mit ihnen, diese so bald bestraften Narren.«[3]”
Didier Eribon, Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben (2024), S.174/175
[1] Cohen, Das Buch meiner Mutter, a. a.O., S. 25, S. 72.
[2] Ebd., S. 61.
[3] Ebd., S. 126.