„Zwei oder drei Jahre zuvor hatte mich die Nachricht von seiner Krankheit in tiefe Angst gestürzt. Nicht um ihn – es war zu spät, und ohnehin rief er in mir keinerlei Gefühl, nicht einmal Mitleid hervor –, sondern um mich selbst, egoistischerweise: Ist das erblich? Bin auch ich bald an der Reihe? Ich begann, auswendig gelernte Gedichte oder Tragödienszenen zu rezitieren, um mich zu vergewissern, dass ich sie noch konnte: »Songe, songe, Céphise, à cette nuit cruelle qui fut pour tout un peuple une nuit éternelle« …, »Voici des fruits, des fleurs, des feuilles et des branches / Et puis voici mon coeur« …, »L’espace à soi pareil, qu’il s’accroise ou se nie / Roule dans cet ennui« … Sobald mir ein Vers entfiel, dachte ich: »Es geht los.« Diese Obsession hat mich seither nicht mehr losgelassen. Strauchelt meine Erinnerung an einem Namen, einem Datum, einer Telefonnummer, erwacht sofort eine Unruhe. Überall sehe ich Anzeichen, ich erspähe sie, weil ich sie fürchte. Mein Alltagsleben wird gewissermaßen vom Gespenst des Alzheimer heimgesucht. Ein Gespenst, das aus der Vergangenheit auftaucht, um mich mit der Zukunft zu ängstigen. Auf diese Weise bleibt mein Vater ein Teil meines Daseins. Eine seltsame Art für einen verstorbenen Menschen, im Inneren des Gehirns eines seiner Söhne, am bedrohten Ort selbst, zu überleben. Lacan spricht in einem seiner Seminare sehr eindringlich von der Angst, die der Tod des Vaters auslöst, beim männlichen Nachkommen jedenfalls. Er steht nun alleine an vorderster Front, alleine vor dem Tod.“

Didier Eribon, Rückker nach Reims (2016), S. 10

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