Die Namen

Das Foto des Vaters mit seinem vierjährigen Sohn. Stolz, wie er auf seinem Schoß sitzt und mehr Automarken aufsagen kann als so mancher Erwachsener. Noch weiß der Vater nicht, dass sich darin eher die Lust am Klang (an der Aufzählung, an den Namen) zeigt, als die nach dem Automobil.

Keine Begriffe für die eigene Umgebung. Als Kind könnte man selbst zwei brennende Hochhaustürme nicht ohne die Sprachlosigkeit der Eltern einordnen.

Keine Begriffe für Armut. Das Mädchen aus der Grundschule, das immer durch die Zahnuntersuchungen gefallen ist. Wir haben sie für ihren Mundgeruch gehasst.

Die Begriffe, die langsam entstehen, aber verhaftet bleiben, im Kosmos einer Stadt ohne Bahnhof. Reich ist, wessen Vater eine Dachdeckerfirma hat.

Der alte verlassene Rewe, auf dessen Parkplatz: verbrannte Pornohefte. Wir hätten sie kaum verstanden, ohne Warnung der Eltern. Spuren einer anderen Jugend. Unsere sollte folgen.

Die Sexy Sport Clips, die man am selben Abend schaute, als man sich traf, um Suicune zu fangen. Vielleicht der Grenzstein eigener Jugend. Masturbation macht aus einem handelnden Subjekt, ein handanlegendes. Wirkmächtiger, aber trauriger als zuvor. Radikal allein mit sich selbst.

Der Kunstunterricht, in der die Mitschülerin ihr Neugeborenes mitbrachte, das jetzt 15 Jahre alt sein müsste. Älter als ihre Mutter damals.

Dieser eine Freund mit eigenem Internet-Anschluss: das Tor zur Welt.
Eine Stadt ohne Bahnhof, ohne Bibliothek, ohne Kino – Mit Torrents, 3dl.am, Kino.to.

Gewalt und Sex als einzige Leitlinien legitimer Kultur. Zufällige Berührung mit Haneke/Kubrick/Pasolini als Namen bar jeder Bedeutung. Wann sind Namen wichtiger geworden als die roten und blauen Aufkleber auf den DVD-Hüllen? Zu Begriffen, zu Diskurs geworden? Vielleicht der zentrale Zufall in dieser Geschichte.

Das Referat mit fünfzehn. Lehrer kannten Nabokov ebenso wenig wie die Mitschüler. Ein erster Gedanke, nicht hierher zu gehören.

Das Speed, das man nicht zum Feiern konsumiert hat, sondern um schneller über die Namen zu sprechen. Gedanken überschlagen sich lustvoll, verleihen uns gegenüber den Kindern aus dem Sportverein ein Gefühl, anders zu sein – und anders sein zu wollen.
Nietzsche, Schopenhauer, Godard, Dostojewski, Hesse, Kafka, Visconti, Nuri Bilge Ceylan

Das Speed, das die Freundin von ihrem Vater zum Achtzehnten geschenkt bekommt. Ich schenke ihr ein Hermann-Hesse-Shirt und weiß, es ist ein Abschiedsgeschenk. Bald werde ich sie verlassen. Der Vater, mit dem sie „nicht mehr über Politik redet“ erzählt von einer Handvoll Jungs, die er einmal krankenhausreif prügelte, als sie seine Tochter mit 13 fast vergewaltigt hätten und sagt anschließend zu mir: Aber du bist in Ordnung, du gehörst ja zur Familie.

Die Rapmusik, die wir in die nächtliche Autobahnluft hinausschrien. Von Idolen, die genauso weißer Durschnitt wie wir selbst waren. Menschenverachtend waren die Texte zweifellos, wenn Alice Schwarzer sie in Talkshows rezitierte. Aber für uns waren sie doch so radikal unauthentisch, dass sie schon irgendwie ironisch sein mussten. Grenzüberschreitung war für uns nie eine Frage der Moral, sondern sinnstiftend in einer begrenzten Welt.

 

© Niklas Pollmann