Foto/Schrift und Sprach/Film

Autosoziobiografische Abstände bei Annie Ernaux

 

 

Abstract

Annie Ernaux hat in ihrem Projekt „Écrire la vie“ ihr autobiografisches Schreiben in den Kontext einer autosoziologischen Analyse gestellt. Darüber hinaus experimentierte sie mit medialen Erweiterungen der Schrift. Sie verknüpfte das gedruckte und geschriebene Wort mit Fotografien aus ihrem persönlichen Leben und kombinierte im Film „Annie Ernaux – Die Super-8 Jahre“ ihren gesprochenen Kommentar mit Home Movies der eigenen Kleinfamilie. In meinem Vortrag gehe ich dem Verhältnis von Schrift und Fotografie, Sprache und Film bei Annie Ernaux nach. Im Zentrum steht die Frage nach den medialen Brüchen und Verknüpfungen, durch die Annie Ernaux einen autosoziobiografischen Pakt mit den Leser*innen und Zuschauer*innen schließt.

 

 

Annie Ernaux, 1940 in der französischen Provinz geboren, stammt aus der Arbeiterschaft. Ihre Herkunft und ihren Wechsel in ein bürgerlich-intellektuelles Milieu machte sie seit den 1970er Jahren zum Thema ihres Schreibens, für das sie 2022 den Literaturnobelpreis erhielt.

 

I. Ausgehend von Fotos schreiben

Seit 1984 wandte sich Ernaux ausdrücklich von der klassischen autobiografischen Erzählung ab und begann fotografische Praktiken in ihre Texte zu integrieren. Mich interessieren die unterschiedlichen Funktionen des Fotografischen in Ernaux‘s Schreiben[1] und vergleichbare Effekte in dem autosoziobiografischen Film Annie Ernaux. Die Super 8 Jahre von 2022.

In dem Buch über ihren Vater Der Platz von 1984 nutzte Ernaux zum ersten Mal eine literarische Form, die sie analog zur Fotografie entwickelte und als Gegenentwurf zum konventionellen Roman verstand:

„Seit Kurzem weiß ich“ schreibt sie, „dass der Roman unmöglich ist. Um ein Leben wiederzugeben, das der Notwendigkeit unterworfen war, darf ich nicht zu den Mitteln der Kunst greifen […]. Ich werde die Worte, Gesten, Vorlieben meines Vaters zusammentragen, das, was sein Leben geprägt hat, die objektiven Beweise einer Existenz, von der auch ich ein Teil gewesen bin. […] Der sachliche Ton fällt mir leicht, es ist derselbe Ton, in dem ich früher meinen Eltern schrieb, um ihnen von wichtigen Neuigkeiten zu berichten“.[2]

 

 

Innensicht/Außensicht

Das Kunstlose sucht Ernaux in einer auf Fakten reduzierten Sprache. Es ist eine indexikalische Schreibpraxis des fotografischen „Da! Das da!“, die sich mit dem Zeugnischarakter der Fotografie verknüpft. So verknappt sie ihre Sätze an bestimmten Stellen sehr stark und lässt das Geschilderte wie zu einem Tableau gefrieren. Entsprechend lautet Ernaux‘s Charakterisierung des Vaters in Der Platz: „Er war vernünftig, für einen Arbeiter jedenfalls, kein Nichtsnutz, kein Säufer, kein Herumtreiber. Kino und Charleston, aber keine Kneipen. Beliebt bei den Chefs, keine Gewerkschaft, keine Politik.“[3]

Wie in einer Vignette schafft Ernaux hier ein Soziogramm des Vaters; allerdings aus der normativen Außenperspektive der Gesellschaft. Dem stellt Ernaux immer wieder lapidare Einschübe aus der Sicht ihres Vaters zur Seite, zum Beispiel, er sei „der Überzeugung, dass man nicht glücklicher sein kann, als man ist“.[4] Solche Anmerkungen, die die innere Lebenseinstellung des Vaters zu fassen suchen, baut Ernaux auch visuell wie Fremdkörper in ihre Sätze ein, indem sie sie kursiviert. Den Außenblick auf die Figur etabliert sie so durch quasi fotografische Verfahren der Verknappung, des Innehaltens und Einkapselns von Sprachinseln, während sie die innere Befindlichkeit des Vaters durch dessen eigene Redewendungen und das optisch abgesetzte Schriftbild hervorhebt. Diese wechselnde Perspektive einer momenthaften Außen- und Innensicht vermittelt uns ein Vorstellungsbild von Ernaux‘s Vaters als jemand, der sich im Verlauf des Lebens immer neu aus dem formiert, was ihm von außen zustößt, und dem, was er von innen dagegensetzt oder adaptiert. Beide Ebenen versteht Ernaux als sozial bedingt. Über den Abstand zwischen ihnen hinweg, das heißt in einem permanenten Schreibakt der Überbrückung, hofft sie, der ‚Wahrheit‘ des Vaters nahe zu kommen.[5]

 

Authentizität, Erinnerung und Autorschaft

Seit Der Platz nutzt Ernaux zudem häufig Bemerkungen über die Materialität von Fotos, etwa über den Rahmen, die Färbung oder Inschriften, um nahezulegen, dass sich ihre Beschreibungen auf reale Vorlagen beziehen, ohne dass sie diese jedoch zeigt. Dennoch entsteht ein medialer Beglaubigungseffekt. Die schriftliche Beschwörung eines tatsächlich existierenden analogen Abzugs weist nämlich auch dessen Inhalt als real ‚da gewesen‘ aus. In einem Zirkelschluss gewinnen Ernaux‘s Beschreibungen einen Authentizitätsgrad, als stammten sie aus ihrem persönlichen ‚Familienalbum‘.[6]

Mit der Referenz auf diese soziale Gebrauchsweise der Fotografie versucht Ernaux, dem Verlust persönlicher Erinnerungsbilder entgegenzutreten. „Alle Bilder verschwinden“ [7], schreibt sie und meint damit, dass am Ende ihres Lebens die in ihrem Gedächtnis vorhandene visuelle Welt erlischt. Diesem absehbaren Bilderverlust stemmt sie sich mit einer dichten Folge verschriftlichter Erinnerungssplitter entgegen, die sich wie in einer imaginären Fotostrecke aneinanderreihen: „die Frau in Yvetot, die sich am helllichten Tag zum Pinkeln hinter die Baracke hockte (…)“ / „das tränenüberströmte Gesicht von Alida Valli, die in Noch nach Jahr und Tag mit Georges Wilson tanzt“ / „die Begegnung mit dem Mann im Sommer 1990, auf einer Straße in Padua, seine an den Schultern angewachsenen Hände (…)“.[8]

Mit dieser Engführung von Fotografie und autobiografischer Schrift im Sinne authentischer Erinnerung verfolgt Ernaux jedoch keine Stärkung ihrer Autorinnenposition. Vielmehr kreiert sie in der Auseinandersetzung mit dem zeitlichen Dispositiv des fotografischen Mediums eine brüchige, teils widersprüchliche Erzählerinnenfigur. So lässt sie in ihrem Buch Die Jahre von 2008 konträre Perspektiven aus ‚ich‘, ‚sie‘ (in der dritten Person Singular) und dem verallgemeinernden ‚man‘ aufeinanderprallen. Das erinnernde Ich der Schriftstellerin versetzt sich dabei in ihre frühere Existenzform. Zugleich distanziert sie sich von ihr, indem sie ihre Vergangenheit einem soziologischen Blick unterwirft. In Erinnerungen eines Mädchens (2016) reflektiert sie diese Zerreißprobe zwischen heterogenen Standpunkten angesichts eines Fotos vom Frühjahr 1958:

„Ich betrachte das schwarz-weiße Ausweisfoto im Jahrbuch des Pensionats Saint-Michel, Yvetot, Abiturklasse C, altsprachlicher Zweig. Ich sehe ein ebenmäßiges Gesicht im Halbprofil, eine gerade Nase, dezente Wangenknochen, eine hohe Stirn (…). / Je länger ich das Mädchen auf dem Foto betrachte, desto größer wird der Eindruck, dass sie mich ansieht. Ist sie ich? Dieses Mädchen? Bin ich sie? Um sie zu sein, müsste ich / eine Physikaufgabe und eine Gleichung zweiten Grades lösen können / jede Woche den Roman lesen, der der Frauenzeitschrift Bonnes soirées beiliegt / […] /Annie Duchesne heißen. / Natürlich dürfte ich auch nichts von der Zukunft wissen, von diesem Sommer 1958. Ich müsste schlagartig unter Amnesie leiden und die Geschichte meines Lebens und der ganzen Welt vergessen. Das Mädchen auf dem Foto bin nicht ich, aber sie ist auch keine Fiktion.“[9]

Das fotografische Grunddispositiv, wonach der materiell existierende analoge Abzug die vergangene Existenz des Abgebildeten verbürgt, die Betrachtung des Fotos aber die zeitliche Distanz zum abgebildeten Referenten zementiert, bringt Ernaux dazu, die klassenspezifische und zeitliche Kluft, die sich zwischen ihrer Jugend und ihrer Gegenwart auftut, als real zu konstatieren. Ihre Position ist ein ‚entre deux‘ zwischen dem ‚sie‘ des Mädchens auf dem Bild, dem ‚man‘ einer sozialen Kontrolle, das deren Habitus mitbestimmt, und der Ich-Position der Autorin von 2016. Ausgehend von der Fotografie konstruiert Ernaux eine konfligierende Schreibposition aus Vergangenheitsbeschwörung und analytischer Distanznahme und schafft eine Form des fotografischen Erinnerns, das sich irisierend zwischen einst und jetzt, ‚Ich und Nicht-Ich‘[10] bewegt.

 

Écriture immediate und äußere Wirklichkeit

Wie eingangs erwähnt, entwickelte Annie Ernaux in der Auseinandersetzung mit fotografischen Verfahren eine écriture immédiate,[11] die sie mehr und mehr als literarische Mimikry des Schnappschusses herausarbeitete. Sie schuf eine Art instantaner literarischer Aperçus, mit denen sie die momentane Erscheinung von Menschen und Dingen festhielt und sie zugleich zu Objekten ihrer nachträglichen Deutung machte.

In ihrem Journal du dehors, das Annie Ernaux zwischen 1981 und 1992 verfasste, wandte sie sich explizit von der Innenschau ihrer Tagebücher und dem retrospektiven Blick auf ihren Werdegang ab und entwickelte ein Schreiben, das versuchte, ihre unmittelbare Umgebung auf sich wirken zu lassen und dabei weitgehend von sich selbst abzusehen:

„Ich versuchte, mich so wenig wie möglich einzubringen und meine Gefühle auszudrücken […]“, schreibt sie, „Im Gegenteil, ich versuchte eine Art fotografisches Schreiben des Realen, wo die sich kreuzenden Existenzen undurchschaubar und geheimnisvoll bleiben.“[12]

Ausgangspunkt dieses Tagebuchs der äußeren Wirklichkeit ist ihr Wohnort Cergy, eine geschichtslose Vorstadt von Paris mit ihren Supermärkten, Parkplätzen und Regionalbahnstrecken in die Metropole. Hier ist jede zufällige Begegnung, jedes Ereignis absolut gegenwärtig, da es sozial und kulturell als banal und ephemer gilt. Die Wirklichkeit kommt Ernaux hier bereits in Form von unmarkierten Bruchstücken entgegen und lädt sie zu einer ‚ungefilterten‘, kontingenten fotografischen Beschreibung ein.

Doch letztendlich gesteht sie sich ein, dass es keinen neutralen fotografischen Blick gibt und sie viel mehr Persönliches in ihre Texte eingebracht hatte als vorgesehen. Es sind immer auch „Vorlieben, Erinnerungen, die unbewusst die Wahl der Worte und der beschriebenen Szenen lenken.“[13]

Auch die Einsicht, dass jede noch so neutrale fotografische Notation imprägniert ist von subjektiven Spuren der Fotografierenden, macht Annie Ernaux für sich produktiv und leitet daraus eine erweiterte autobiografische Schreibweise ab.

„Ich bin heute sicher“, schreibt sie 1996, „dass man mehr über sich entdeckt, indem man sich der Außenwelt aussetzt, als durch die Introspektion eines intimen Tagebuchs […]. Es sind die anderen, die anonymen Menschen in der Metro, in den Wartehallen, die durch ihre Neugierde, ihre Wut oder ihre Scham, mit denen sie unser Dasein durchkreuzen, unsere Erinnerungen wecken und uns über uns selbst aufklären.“[14]

 

II. Mit Fotos Schreiben

Hors Cadre

Von ihrer langjährigen Praxis, fotografisch zu schreiben ohne Fotografien zu zeigen, nimmt Annie Ernaux relativ spät Abstand. Das Buch L‘Usage de la photo von 2005 ist das erste Experiment, in dem sie Fotos tatsächlich abbildet und von ihnen ausgehend ihre Texte schreibt. Das Buch handelt von einem wichtigen Jahr in ihrem Leben, in dem sie sich einer Krebsbehandlung unterziehen musste und zugleich ihre leidenschaftliche Affäre mit dem Journalisten Marc Marie durchlebte. Marc Marie ist Co-Autor des Buches und die Grundkonzeption der Foto-Text-Anordnung geht auf beide zurück. Dennoch ist es Ernaux, die dem Ganzen einen mehrfachen erzählerischen Rahmen verleiht. In einem Vorwort beschreibt sie den Ursprung und die Versuchsanordnung: Eines Morgens fiel ihr Blick auf die fortgeschleuderten Kleidungsstücke des Paares, die sie nach der Liebesnacht auf dem Gang verstreut vorfand. Spontan machte sie zwei Fotos. Marc Marie nahm diese Des-Arrangements fortan immer wieder auf.[15]  Dabei stellte das Paar die Regel auf, dass nichts an der zufälligen Anordnung verändert werden durfte.

Die meisten Fotos zeigen die Kleider, Schuhe, Dessous auf Teppichen, Fliesen, Dielen, unter Betten verstreut. Angeschnittene Möbel, Wände und Fenster geben dem Ganzen eine vage Verortung im Raum, ohne diesen genau zu charakterisieren. Die teils plastisch zusammengeballten, teils filigranen Textilien lassen den männlichen und weiblichen Körper spüren, der sie gerade abgestreift hat. Eine Türschwelle gibt ihnen häufig eine Richtung: hin zu einem Ort, der sich in der fotografischen Raumtiefe verliert. Die Schwelle bildet den Umschlagplatz von der Hauptbühne, auf der die Kleider ihren Auftritt haben, zum Backstage eines realen, aber uneinsehbaren Raums. Vorne fand das sichtbare Vorspiel, hinten der unsichtbare Liebesakt statt.

Gerade das aber wird von dem Paar als Mangel empfunden. Und so wird hier das mediale Ungenügen der Fotografie zum springenden Punkt literarischer Produktion: „Nichts von unseren Körpern auf den Fotos“, schreibt Ernaux, „Nichts von der Liebe, die wir machten. Die unsichtbare Szene. Der Schmerz der unsichtbaren Szene. Der Schmerz des Fotos.“[16]

Weil die Liebesszene im Off des Fotos bleibt, kann die Deutung der Bilder dieses Ereignis nicht erreichen. Weil die leeren Kleiderhüllen nur Relikte der lebendigen Körper sind, bleiben die Abzüge nichts als Reste des Restes; allerdings sind es nicht nur Spuren, sondern sie legen auch Spuren: zu jener anderen Szene nämlich, die nur das Schreiben erreicht. Das Foto selbst wird hier zur produktiven Schwelle. Sein Potenzial liegt in der Beweiskraft, dass jenseits des Ausschnitts der Ort jener ‚anderen Szene‘ des Liebesakts tatsächlich existiert hat. Und das Foto wird zum Auslöser der literarischen Erkundung dieses nie gezeigten Ortes.

Das Paar entschloss sich daher, aus einer Zahl von ca. 40 Bildern 14 Abzüge auszuwählen, zu denen beide je einen Text beitrugen und die fotografierte Szenerie um Ungesehenes erweiterten. Als Lesende und Betrachtende werden wir so in eine Deutungs-Schere versetzt, die in alle Richtungen ins Leere läuft. Die sichtbaren fotografierten Schauplätze bleiben in ihrer Signifikanz für das Geschehen relativ, während die im Off situierten, beschriebenen Szenen sowohl real stattgefunden haben können, wie auch reine Erfindungen sein können.

Ernaux und Marie führen hier einen Wettstreit zwischen Fotografie und Schrift auf und lassen am Ende die Schrift gewinnen: Sie ist es, die das Foto nicht nur ergänzt, sondern es in ein anderes Medium zu transferieren und zu ersetzen vermag; und die Schrift ist es, die die Fotografie nicht nur deutet, sondern eine völlig losgelöste imaginäre Narration entfalten kann, die zugleich ihren Beweischarakter von dem fotografischen Ausgangsmedium entlehnt. Fotografie ist hier weniger produktiv für das Schreiben in dem, was sie zeigt, als in dem, was sie nicht zeigt. Das, was außerhalb des Bildes ist, hors cadre, die Szene, die jenseits der fotografischen Grenze, off scene, spielt, ist für Ernaux aber die eigentliche Szene der Schrift.

 

Foto/Schrift-Palimpsest

2011 geht Annie Ernaux in ihren fotoliterarischen Experimenten noch einen Schritt weiter. Auf Anfrage des Verlags Gallimard, sie möge einem Band ihrer Schriften eine Autorinnenbiografie voranstellen, entscheidet sie sich für eine Fotoautobiografie und begründet dies so:

„Einer Biografie, deren pure Fakten oft stören, ziehe ich die Verbindung zweier persönlicher Dokumente vor, das Fotoalbum und das intime Tagebuch; so entsteht eine Art Fotojournal. Den Menschen, Orten, die für mich bis heute zählen – in meinem Leben wie in der Literatur – habe ich Auszüge aus meinem Tagebuch zur Seite gestellt; es ist der Versuch, einen anderen autobiografischen Raum zu eröffnen, indem ich die unbestreitbare materielle Wirklichkeit der Fotos, deren Sukzession ‚Geschichte erzeugt‘ und einen sozialen Werdegang nachzeichnet, mit der subjektiven Realität des Tagebuchs und seinen Träumen, Obsessionen, ungezügelten Affekten und der beständigen Neubewertung des gelebten Lebens kombiniere.“[17]

Erstmals sehen wir Fotos von Ernaux‘s Geburtsort Lillebonne in der Normandie, den Ort ihrer Kindheit Yvetot, das Geschäft ihrer Eltern, die Schule, den Wohnort nach der Heirat in Savoyen, ihr Haus in Clercy; und den Vater, die Mutter, die Schwester, ihre Freundinnen, ihren späteren Mann, die Kinder: Auf hundert Seiten sind sie in eine Chronologie gebracht. Dies entspricht den Formen und Gebrauchsweisen des Familienalbums. Erst die Tagebucheintragungen und das Layout durchbrechen diese Konvention. So springen die Abbildungen von seitenfüllenden Fotos zu alten Abzügen mit gezacktem Rand, von sequenziellen Anordnungen wie auf einem Filmstreifen zu Passfotos im Originalformat. Immer wieder überlagern sich die Bilder zu luftigen Collagen, hinter denen blasse Schemen anderer Fotos hervortreten. Faksimilierte Handschriften Ernaux‘s begleiten die Bilder wie Leitmotive. Dagegen erscheinen die gedruckten Texte aus ihren intimen Tagebüchern wie massive Blöcke innerhalb der Gesamtcollage. Inhaltlich wie formal sind sie ein Widerpart zur Chronologie der Fotos. Manchmal beziehen sie sich auf einen Gegenstand im Bild, manchmal spiegeln sie eine soziale Atmosphäre der Zeit, manchmal konfrontieren sie die Fotos mit zeitlich völlig unabhängigen Beobachtungen. Wie die Abstände zwischen den Fotos, ihre Überschneidungen und ihr Ausschnittcharakter die Lücken, das Verdeckte und Verkürzte des Gedächtnisses markieren, so auch die kontingenten Relationen zwischen den Texten untereinander und zu den Fotos.

Während die Text-Bild-Collage von Tagebuch und Familienfotos die Brüchigkeit der Repräsentation einer vergangenen Wirklichkeit zeigt, haben die blassen Hintergrundfotos und Ernaux‘s Handschrift eine andere Funktion. Sie bilden einen visuellen Fond, aus dem die disparaten Erinnerungen Stück für Stück aufzutauchen scheinen. Das Palimpsest aus zarten Schriftzügen und den transparenten Fotos illustriert weniger das Bruchstückhafte der Gedächtnis-Collage als das Prozesshafte einer auftauchenden und wieder verschwindenden Erinnerung.

 

III. Den Film sprechen lassen                   

Welche Effekte hat nun Annie Ernaux’s Schreiben ausgehend von Fotografie und mit Fotografie auf ihren Film Annie Ernaux. Die Super-8- Jahre von 2022?

Die visuelle Basis für den Film sind keine Fotografien, sondern Super8filme, die Ernaux‘s Ehemann Philippe Ernaux zwischen 1973 und 1981 von seiner Frau und den zwei kleinen Söhnen machte. Jahrzehntelang lagerten sie ungesehen in einem Schrank der Autorin, bevor Ernaux sie zusammen mit ihrer Familie sichtete und mit ihrem Sohn David Ernaux-Briot neu edierte. Es sind wie die Fotos aus dem Familienalbum Home Movie-Szenen vom Urlaub, bei festlichen Anlässen, auf Reisen ins Ausland, über die sich ein Kommentar Ernaux‘s aus dem Off legt. Ernaux hat hierfür ein Manuskript verfasst, in dem sie aus einer zweifachen historischen Position heraus spricht: zum einen zog sie ihr damaliges Tagebuch heran, um die Gegenstimme ihrer inneren Verfasstheit angesichts der klischeehaften äußeren Idylle auf dem Celluloid zu artikulieren. Darüber hinaus kommentiert sie die Szenerien aus der heutigen Sicht, das heißt aus dem soziohistorischen Abstand zu den gezeigten Filmausschnitten, die sie als junge Ehefrau und Mutter, als Tochter einer Arbeiterin, die damals mit der Familie lebte und auch im Film auftaucht, und als berufstätige Lehrerin zeigen. Was im Filmbild jedoch unsichtbar bleibt, ist ihr damaliges Dasein als heimliche Schriftstellerin, denn in jener Zeit schrieb sie ihren ersten Roman, ohne dass ihre engste Familie davon wusste. Dieses damals gesellschaftlich Unpassende und Unangepasste bricht in dem Film nun in der Kluft zwischen den Filmbildern und der Sprache hervor.

„Unter all dem nehme ich jetzt,“ hören wir Ernaux aus dem Off, „eine andere Realität wahr, die Nachmittage, wenn ich nicht unterrichte und heimlich schreibe, einen Roman, der erzählt, wie die Bildung und die Kultur mich getrennt haben von der Arbeiterwelt meiner Geburt, heimlich, weil ich es meinem Mann nicht sagen kann, meiner Mutter noch weniger.“

Ernaux nutzt die zeitgleiche und die rückblickende Sprache dazu, den indexikalischen Effekt einer äußeren Realität, den die analogen Filmbilder produzieren, zu hinterfragen, zu korrigieren und zu ergänzen mit jenen inneren Erfahrungen, die in ihnen aufgehoben aber verborgen sind. Auf eindrückliche Weise wird diese doppelte Korrektur nicht nur in der zweifachen Perspektive der jungen Frau, die aus den Tagebüchern der damaligen Zeit spricht, und der über 80jährigen Autorin, die sich zurückerinnert, deutlich, sondern wir hören sie ganz körperlich im Zweiklang von Annie Ernaux‘s Stimme: Sie hat die mädchenhafte Tonhöhe ihrer jungen Jahre und zugleich die fragile Brüchigkeit der Greisin. Wie in ihren Experimenten eines Schreibens ausgehend von Fotos und mit Fotos changiert auch hier die Ichfigur zwischen damals und heute, Bild und Text, on screen und off screen. In der Stimme jedoch amalgamieren sie in einer auditiven Gegenwärtigkeit Ernaux‘s, die bei jeder Filmvorführung aktiviert wird. Kurzum: In Annie Ernaux. Die Super-8-Jahre kollidieren Bild und Text auf vergleichbare Weise wie in ihren fotoliterarischen Verfahren. Durch ihre Stimme überwindet der Film aber immer wieder die Abstände zwischen den Bildern und Texten, dem Vergangenen und Gegenwärtigen, dem Innen und dem Außen des Subjekts. Die Autorin gewinnt damit ein mediales Momentum, in dem das ‚ich‘, das ‚sie‘, und das ‚man‘ vorübergehend in einer homogenen Verkörperung zusammenfließen.

 

 

[1] Die Gedanken zum Verhältnis von Fotografie und Schrift bei Annie Ernaux gehen auf folgenden Aufsatz zurück: Katharina Sykora: „Das Leben schreiben. Annie Ernaux‘s Fotosoziobiografie“, in: Camera Austria, 146 (2019), S. 9-20.

[2] Zit. Annie Ernaux: Der Platz (1984), Berlin 2019, S. 19-20.

[3] Zit. ebd., S. 29.

[4] Zit. ebd., S. 65.

[5] Anders als Roland Barthes in La Chambre claire gelingt es Ernaux jedoch bei keinem Einzelfoto, diese Wahrheit zu finden; denn ihr Zugang zum Subjekt ist ein soziologischer, kein individualpsychologischer und bedarf daher einer Kontextualisierung durch das Schreiben.

[6] Einzige Ausnahme ist L’usage de la photo.

[7] Zit. Annie Ernaux: Die Jahre (2008), Berlin 2017, S. 9.

[8] Zit. ebd.

[9] Zit. Annie Ernaux: Erinnerungen eines Mädchens (2016), Berlin 2018, S. 18-19.

[10] Vgl. Christina von Braun: NICHT ICH ICH NICHT, Logik, Lüge, Libido, Frankfurt am Main 1985.

[11] Vgl. Akane Kawamaki: Photobiography. Photographic Self-Writing in Proust, Guibert, Ernaux, Macé, London 2013, S. 97.

[12] Zit. Annie Ernaux: ‚Avant-Propos‘, in: Dies.: „Journal du dehors“ (1993), Paris 1996, S.7-10, hier: S. 9.

[13] Zit. Enaux, ebd., S. 9f.

[14] Zit. Ernaux, ebd., S. 9.

[15] Ernaux schreibt, dass sie wenig Übung im Fotografieren hatte und es deshalb vorzog, das Marc Marie die Aufnahmen machte. Vgl. Annie Ernaux / Mark Marie: L‘usage de la photo, Paris 2005, S.13.

[16] Zit. Ernaux, ebd., S. 144.

[17] Zit. Annie Ernaux: Écrire la vie, Paris 2011, S. 8.