Werkstattgespräch

In Nina Kusturicas künstlerischem Forschungslabor setzen sich mehrere Artistic Researcher mit dokumentarischen, fiktionalen, essayistischen und hybriden filmischen Strategien auseinander und suchen nach Möglichkeiten, neue Einblicke in gesellschaftspolitische Realitäten und Repräsentationen von Klasse zu gewinnen. Das Gespräch bezieht sich auf Nina Kusturicas erste LAFA-Gruppe[1] (2021–2023).

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Claudia Walkensteiner-Preschl (CWP):

Wie gestaltete sich der Forschungsprozess mit deinem Team im Labor, wie habt ihr begonnen?

 

Nina Kusturica (NK):

Wir haben mit intensiven Diskussionen zum Thema begonnen. Zunächst lag der Fokus unserer Gespräche auf dem Teilen von biografischem Material, von Erinnerungen. Jede*r von uns hat aus der Kindheit und Jugend erzählt, damit wir einander kennenlernen und einordnen konnten, wer wo steht und warum wir für dieses Thema brennen.

Auch die Frage, wie man überhaupt als Künstler*in überleben, also von der Kunst leben kann, beschäftigte einige im Labor Forschende von Beginn an. Bei anderen ging es stark um die Repräsentation in Bezug auf soziale Klasse und Herkunft. Intersektionalität spielte schnell eine große Rolle, die Themen Gender und Race waren von Anfang an präsent und fast nicht zu trennen von Fragen nach sozialer Klasse, zu denen wir immer wieder zurückgekehrt sind. Wichtig war nicht zuletzt das Thema, wer welche Geschichten erzählen darf oder soll.

Es waren sehr intensive und schöne Tage, in welchen es uns gelungen ist, einen Raum aufzumachen, gemeinsam mit Studierenden der Filmakademie Wien sowie externen Artistic Researchern, die aus einer diverseren Welt kommen als die Studierenden. All das ist in einer sehr schönen Qualität passiert, in welcher auch das Gemeinsame gesucht wurde.

Wir haben uns etwa mit der Frage beschäftigt, wie und ob ein zum Beispiel österreichischer Drehbuchstudent einen Film über eine Person mit einer nigerianischen Biografie schreiben darf. Und natürlich waren wir zuerst versucht zu sagen, dass das gar nicht geht, aber als wir begonnen haben, einen Destillationsprozess zu starten, also zu verstehen, was ihn als Autor antreibt, wurde es konkreter. Warum stellt er diese Frage, was ist ihm wichtig? Wenn ich einen Impuls verspüre, eine Geschichte zu erzählen, dann frage ich: Warum will ich diese Geschichte erzählen? Kommt der Impuls aus einer wenig hinterfragten eurozentristischen Haltung, mit der wir uns einfach der Welt und ihrer Geschichten bedienen? Oder stammt der Wunsch, diese Geschichte zu erzählen, aus einem tiefen künstlerischen und gesellschaftlichen Interesse? Und das ist in diesen Gesprächen passiert, diese Erkenntnis, dass wir uns als Künstler*innen nicht in irgendwelche Identitätsentscheidungen oder Ecken oder Zuschreibungen drängen sollen, sondern uns die richtigen Fragen stellen wollen. Wenn wir etwas machen, möchten wir fragen, warum wir es machen, um dann auch gut in diesen Stoff, in diese Geschichte eintauchen zu können.

Das waren also die ersten Gespräche, in welchen wir einerseits biografische Elemente geteilt und uns andererseits auch schon die Frage gestellt haben, wie wir als Künstler*innen überleben wollen und wie wir arbeiten möchten. Und dann, etwas später im Prozess, ging es auch um den universitären Raum, den wir kritisch hinterfragt haben. Einige fühlen sich in diesem Raum, der nach zahlreichen ungeschriebenen Regeln zu funktionieren scheint, wie Gäste und für manche hat sich die wichtige Frage gestellt, was überhaupt passieren muss, damit man an so einer Institution studieren kann. Menschen mit welchen Biografien werden an künstlerischen Universitäten bevorzugt? Mein Eindruck war, dass in diesem Kontext die Frage nach der sozialen Klasse die entscheidende war. Ich habe mich auch an meine Aufnahmeprüfung an der Filmakademie Wien erinnert und davon erzählt, was für eine Rolle es gespielt hat, dass mein Vater Dirigent ist und meine Mutter Schauspielerin. Ich habe Deutsch damals noch gelernt, ich war 18 und fühlte mich aufgrund der Flucht aus Sarajevo in der ersten Zeit in Wien komplett verloren. Trotzdem habe ich in diesem Moment gespürt, dass die Berufe meiner Eltern für die Aufnahmekommission relevant waren und es mir vielleicht auch eine Tür geöffnet hat. Ich wurde aufgrund der sozialen Herkunft meiner Familie als einer solchen Institution zugehörig gesehen.

Im Labor hatten wir eine Diskussion darüber, wie wir als Künstler*innen von uns selbst erzählen können. Wir sind natürlich immer wieder zur autosoziobiografischen Literatur zurückgekehrt, zu Annie Ernaux, Édouard Louis und anderen. Viele von uns kennen einen Klassenwechsel oder vielleicht auch ein Beharren oder eine Fixierung auf eine Klasse, die ungewollt ist.

Wie können wir von unseren Geschichten erzählen, von unseren Klassengeschichten, in diesem Medium Film, in welchem wir doch ganz stark mit unserem Körper – auch wenn das nicht der Körper im Bild ist, im Picture – präsent sind, durch unseren Blick, durch unsere Position, durch unsere Perspektive, durch unser Voice-Over, das sehr oft zum Einsatz kommt? Wie können wir davon erzählen, aber trotzdem den künstlerischen Ausdruck, die künstlerische Form finden und dabei verhindern, dass es nicht bloß ein Ausstellen der eigenen Geschichte wird? Das war und ist für mich noch immer die wichtigste Frage. Auch jetzt, wo ich an meinem Kinodokumentarfilm Marienhof arbeite, der der Arbeit im Labor zum Teil entspringt. Du bist gleichzeitig Material, im Sinne des Inhalts, und Formende, sozusagen gleichzeitig Objekt und Subjekt, Benennende und Benannte. Es sind sehr unterschiedliche Dimensionen, die da zusammenkommen. Das hat uns beschäftigt, auch im Hinblick auf die Ergebnisse: Mit welchem Projekt möchten wir uns genau beschäftigen? Wenn eine Idee herangereift ist, das Produkt nach außen geht, hinterlässt das auch ein spezifisches Bild von der Person selbst. Und im Medium Film bleibt es fixiert.

 

Aber es gibt noch viel mehr Fragen, die sich herauskristallisiert haben in der ersten Phase. Regelmäßig hat uns die Frage begleitet, was eine Autosoziobiografie überhaupt ist. Handelt das autosoziobiografische Erzählen automatisch vom Klassenwechsel, von transclasse? Sind das immer Aufsteigernarrative? Und falls ja, geschieht das, weil wir in einer Aufsteigergesellschaft leben? Wo sind die anderen Geschichten zu finden? Wir haben uns mit vielen Texten und Filmen beschäftigt, haben viel gelesen, gesichtet und besprochen. Ungefähr nach einem Drittel der Projektzeit, als wir das Gefühl hatten, wir kennen uns bereits besser, haben wir ausführlich über Filme gesprochen und sind ins Museum gegangen. Zum Beispiel in die Ausstellung von Belinda Kazeem-Kamiński in der Kunsthalle Wien im Jahr 2022. Unser Artist Researcher Ayo Aloba war in ihrer Videoarbeit Fleshbacks (2021) Teil der Ausstellung. Belinda Kazeem-Kamińskis Kunstwerke haben uns auch in ihrer politischen Dimension inspiriert: Sie schaffen Bedingungen und Räume, in denen die Vergangenheit reflektiert, die Zukunft imaginiert und die Gegenwart kritisch betrachtet wird.

 

Um einen Überblick über die Fülle des schon vorhandenen künstlerischen Diskurses zu unserem Thema zu bekommen, sammeln wir in einem großen gemeinsamen Ordner online PDFs, Notizen und Links zu Podcasts, Fernsehsendungen, Beiträgen und Filmen. Dieser gemeinsame Ordner wächst immerzu. Basierend auf dieser Fülle von Materialien konnten wir unser Wissen und unsere Gespräche immer wieder vertiefen.

Dann kam die Frage nach der praktischen Umsetzung unserer Ideen. Ich kenne diesen Prozess vom Theater, wo man so lange am Tisch sitzt und Texte liest, über Gott und die Welt spricht, recherchiert und ins Thema eintaucht, bis dann irgendwann dieser Schritt passiert, um in den Körper zu kommen, in Theatersprache gesprochen. Der Schritt auf die leere Bühne und die Frage: Okay, was machen wir jetzt aus diesem Ganzen? Am Anfang ist man immer ein bisschen blockiert. Es ist eine Übertragung aus einer Ebene in die andere, aus dem Intellekt, aus dem Kopf heraus, auch ein bisschen aus der Sicherheit heraus natürlich, in der man sich durch das viele Sprechen befunden hat. Was machen wir jetzt damit? Wie wird daraus eine praktische Sache? Ich habe den Artist Researchern das Angebot gemacht, mit künstlerischen Anleitungen zu arbeiten, und da ich sie im Prozess gut kennengelernt habe, hat jede*r eine eigene Aufgabe bekommen, etwas zu entwickeln und zu verwirklichen. Damit ist der Stoppel sozusagen aufgegangen und die künstlerischen Prozesse haben gestartet.

Zum Beispiel habe ich Denice Bourbon darum gebeten, einen künstlerischen Beitrag zum Thema Die Erinnerung an Silvester 1989/1990 zu machen. Bei Marius Mertens war das Thema Die Erinnerung an einen der ersten Abschiede, bei Niklas Pollmann Was ich werden sollte. Bei Ruchi Bajaj war es Die Erinnerung an den Lieblingsplatz in meiner Jugend, bei Ayo Aloba und bei mir Über die Hände meiner Mutter. Laura Ettel bekam die Anleitung, zum Thema Die Erinnerung an ein Weggehen mit Umdrehen zu arbeiten. Wir wollten beginnen, etwas zu erzählen und zu gestalten, und danach darüber sprechen. Wenn die Artist Researcher mit dem vorgeschlagenen Thema nichts anfangen konnten, haben wir das auch als Material betrachtet und darin eine gute Möglichkeit gesehen zu erforschen, warum jemand mit diesem Thema nichts anfangen kann oder auch will. Sie konnten die Impulse als Ansporn nehmen, um thematisch woanders – im Rundherum, im Davor oder im Danach – zu landen. Den Umfang betreffend war alles möglich, von 30 Sekunden bis 30 Minuten, von 3 Sätzen bis 30 Seiten. Formate und Medien standen offen: Foto, Video, Text, Musikalisches oder auch verschiedene Formen wie Videonotiz, Audionotiz, (Video-)Tagebuch, Brief, Essay(-Film), Performatives. Diese Arbeiten waren sehr schöne Türöffner, um den Prozess starten zu können, auf Basis dieses großen angeeigneten Wissens und des vielen Nachdenkens über Autosoziobiografie in der ersten Phase des Projekts in die Praxis, in die Umsetzung zu gehen.

 

CWP:

Diese Hausübungen hast du mithilfe von euren Gesprächen und dem gemeinsam Erarbeiteten entwickelt?

 

NK:

Ja, ich kenne das auch von mir, manchmal stehe ich vor so vielen Möglichkeiten, dass ich nicht weiß, wohin. Vor allem, wenn man sich lange theoretisch mit etwas auseinandersetzt, wenn die Recherche umfangreich ist, wenn man dann das Gefühl hat, dass das Thema sehr groß ist und sich die Frage stellt, ob man ihm überhaupt gewachsen ist. Wie kann ich das künstlerisch fassen? Es gibt einen schönen Spruch von Ernst Strouhal, der sagt: Man kann die Welt über jeden Gegenstand betreten.[2] Man kann auch mit jedem oder durch jeden Gegenstand einen künstlerischen Prozess betreten, finde ich. Und da wir einander so gut kennengelernt haben, war das möglich. Diese vielen Gespräche, die es auch im Theater oft braucht, halfen uns sehr. Beim Film sitzt oft Regie oder Autor*in alleine da, auch diese einsame Phase ist mir bekannt. Man musste viele Wege gehen, um zu so einer Klarheit im Ausdruck zu kommen. Wir stehen mit einigen neuen Artistic Researchern noch vor diesen Aufgaben. Laura Ettel hat an einer Fotostrecke gearbeitet, Marius Mertens hat ein Musikstück komponiert, Denice Bourbon und Niklas Pollmann haben Texte basierend auf ihren Jugend-Erinnerungen geschrieben, Ruchi Bajaj hat einen Ort ihrer Jugend aufgesucht und eine Videoarbeit darüber gemacht. Basierend auf dem Film hat sie sich für das Format Video-Diary begeistert und hat eine Trilogie in Vorbereitung, der dritte Film ist noch in Arbeit. Ayo Aloba hat einen sehr visuellen, filmischen Text über die Hände seiner Mutter geschrieben und in einem Videoformat vorgelesen. Als Schauspieler ist es für ihn das richtige Format, den Text auch zu sprechen.

Ich habe die Hände meiner Mutter während alltäglicher Arbeiten im Haushalt gefilmt. Es gibt dazu 15 Minuten Rohmaterial und ich werde damit ein paar Minuten filmisch gestalten. Das waren unsere Wege hinein in die praktische Arbeit.

 

CWP:

Wie sehr und wann waren spezifisch filmische Gestaltungsmöglichkeiten ein Thema? Ging es zum Beispiel in der Umsetzung auch um die Frage nach fiktivem respektive dokumentarischem Erzählen? Welche Perspektiven wurden eingenommen? Habt ihr das diskutiert?

 

NK:

Ja. Das haben wir diskutiert, etwas später im Prozess und auch je nach Fachgebiet der Artistic Researcher. Die Performer*innen wollten mehr über Narrative sprechen und die, die an der Filmakademie Wien in Ausbildung sind, haben sich mit Fragen zu filmischen Werkzeugen beschäftigt. Das war schon klar, dass die Gruppe unterschiedliche Expertise und Interessen mitbringt. An diesem Punkt habe ich gespürt, dass es verschiedene Zugänge zu der Frage gibt, was Film ist. Wir haben uns durch ganz viele filmische Formate durchgearbeitet und über sie nachgedacht. Was kann ein Essayfilm, was kann ein Spielfilm? Ab wann ist ein Spielfilm, der von der eigenen Jugend erzählt, autosoziobiografisch? Welches ist das richtige Alter, um so einen Film zu machen? Ab wann kann man reflektierend gut zurückblicken? Wir haben festgestellt, dass die besseren Coming-of-Age-Filme, die von sozialer Klasse erzählen, von älteren Filmemacher*innen gemacht wurden. Was schafft diese Distanz? Wir haben auch über Dokumentarfilme gesprochen, über performative Dokumentarfilme, die mit einem Moment des Empowerment verbunden sind. Weil man auch die eigene Geschichte nicht eins zu eins übernimmt, aus einem imaginären oder pseudo-objektiven Erzählstandpunkt heraus, der trotzdem geprägt ist von ganz vielen Haltungen, mit welchen wir durch die Welt gehen. Was macht das Performative in einem Dokumentarfilm sichtbar? Was schafft es für ein Gefühl, wenn man dieser Subjekt-Objekt-Frage nicht ausgeliefert ist?

Dann haben wir mit der Kamerafrau Laura Ettel und Ruchi Bajaj, die auch Schauspielerin ist, das Verhältnis zwischen Kamera und Spielerin geprüft und beobachtet, was der Körper macht, und das sehr genau analysiert. Wir haben eine kleine Dialogszene auf verschiedene Arten gefilmt. Das war wie eine Kamera-Regie-Spiel-Übung, aber trotzdem auch eine super Möglichkeit, um zu analysieren, in welcher Art von Film wir welche Art von Kamera einsetzen würden und warum. Warum gehen wir etwa bei einem Telefongespräch mit dem Arbeitsmarktservice automatisch davon aus, dass wir eine Handkamera brauchen? Und was macht es, wenn wir eine ruhigere Kamera einsetzen, die wir eher einem Arthouse-Spielfilm zuschreiben würden, mit bestimmten Schärfe- oder Unschärfeverhältnissen? Was macht das mit der Spielerin? Wie fühlt sie sich? Wie verstehen wir dann die Textur, die Visualität, den Stil des Films? Wir haben mit den Mitteln des Films gespielt.

 

CWP:

Vorhin hast du einen schönen Satz geäußert: Man kann die Welt über jeden Gegenstand betreten. Im Zusammenhang mit autosoziobiografischem Erzählen haben Gegenstände häufig eine wesentliche Bedeutung, wie wir im Forschungsprojekt immer wieder diskutiert haben. Ich ziehe ein ganzes simples Beispiel heran: Fotografien, die eingesetzt werden, um etwas zu zeigen, um über eine bestimmte Periode, einen Vorfall, ein Ereignis zu sprechen. Fotografien, die gezeigt werden und für sich stehen, manchmal auch im Hintergrund gewissermaßen als Dekor fungieren, Stimmungen auslösen oder einfangen. Habt ihr euch damit konkret beschäftigt?

 

NK:

Das Thema Fotografie haben wir relativ schnell hinter uns gelassen, weil wir Wege gesucht haben, nicht zu illustrieren oder zu bebildern. Wir haben uns die Filme Les années Super 8 von Annie Ernaux und Retour à Reims von Didier Eribon angeschaut, die sehr unterschiedlich funktionieren. Bei Ernaux haben wir viel mehr Qualitäten entdeckt, bei Eribon hatten wir das Gefühl, dass es nur ums Bebildern geht. Das ist nicht das, was wir vom Film wollen. Für uns geht es nicht darum, wie literarische Autosoziobiografien ins Kino übertragen werden können, sondern wir fragen uns, was das Filmimmanente ist. Wie kann man eine Autosoziobiografie filmisch erarbeiten? Ohne Voice-Over oder Fotoarchive? Fotos drängen sich immer wieder auf. Auch jetzt in meinem Projekt stehe ich vor ihnen und stelle fest, dass ich der Frage so lange ausgewichen bin. Ich werde Fotos verwenden, weil sie ganz wichtig sind und eine Welt erzählen, eine Zeit, weil sie auch einen Look mitbringen, Vintage, Charme. Es sind so viele da, nicht nur meine, sondern auch aus den Archiven von Fotograf*innen. Aber ich stehe vor der Frage, wie ich sie einsetze. Ein Weg könnte sein, mit ihnen in einen Dialog zu treten. Wie kann ich sie für meine filmische Erzählung verwenden? Was machen sie mit den Inhalten, die ich erzählen will? Hinterfragen sie diese, bestätigen sie oder setzen einen Kontrapunkt?

Gemeinsam mit meinem Vater habe ich die Fotos unserer ersten Wiener Wohnungen angeschaut. Dabei haben wir uns daran erinnert, dass, als wir nach Wien geflüchtet sind, im Radio im Bus eine Sinfonie lief, die mein Vater als Dirigent in Sarajevo aufgenommen hat. Und wir haben uns gedacht: Wie symbolisch, dass genau das jetzt läuft. Beim Durchblättern der Fotos bin ich darauf gekommen, dass ich in einem Voice-Over über diese Sinfonie und über diesen Bus sprechen und gleichzeitig die Fotos von unserer ersten Wohnung in Wien zeigen könnte, die so verschimmelt war. Die bringen es auf den Punkt, da hat das Foto Sinn, weil es den Klassenabsturz erzählt.

 

CWP:

Auch Annie Ernaux hat das Medium Fotografie häufig in ihre Literatur miteinbezogen, konkrete Bilder besprochen. Als Ausgangsmaterial kommt ja Literatur und Fotografie in einem Wechselspiel zum Tragen. Ich finde es sehr schön, wie du die Möglichkeiten eines Dialogs aufgrund eines Fotos beschreibst.

 

Camilla Henrich (CH):

Wir wollen als Nächstes auf das Thema Nachvollziehbarkeit zu sprechen kommen. Laut Jens Badura geht es bei der künstlerischen Forschung um ein erweitertes Verständnis von Erkenntnis. Dass es nicht nur eine rationale Erkenntnis sein kann, sondern auch eine sinnliche, subjektive und objektive. Wie seid ihr in diesem experimentellen Prozess vorgegangen, in dem Materialien entstehen und für das Publikum nachvollziehbar werden sollen? Wenn man einen Filmclip sieht, wie wird nachvollziehbar, dass ihm dieser Prozess einer künstlerisch-wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Autosoziobiografien vorangegangen ist?

 

NK:

Ich glaube, das ist bei manchen Filmen sichtbar und wird auch im Voice-Over reflektiert. Bei manchen von uns geht es darum, das Publikum auf eine Reise mitzunehmen und einige Filme sind auch Forschungsreisen. Die Kamera, der Schnitt und die Menschen im Bild, Protagonist*innen oder Schauspieler*innen, das sind unsere Forschungsinstrumente, wenn man es in die wissenschaftliche oder naturwissenschaftliche Sprache übertragen will. Die Kamera ist unser Mikroskop, und auch der Schnitt. So würde ich das sehen. Und im Voice-Over ist es auch das Offenlegen der Mittel, der Wege, die wir gegangen sind, das ist oft ein Teil des Films. Bei anderen werden wir eine Art von Begleittext brauchen, um das zu kommunizieren.

 

CWP:

Es geht einen Schritt weiter, wenn es um diese Nachvollziehbarkeit geht. Was wird einsichtig, was wird sichtbar? Der Film, also das Gestaltende am Film, hat immer die Möglichkeit, zum Beispiel mithilfe von Voice-Over dieses Gemacht-Sein auszustellen, Prozesse sichtbar zu machen oder zu erzählen. Das ist das eine. Und das andere ist das digitale Archiv DAFA, wieder ein anderes Umfeld, um etwas nachvollziehbar zu machen, sichtbar werden zu lassen. Ich glaube, es ist ganz wichtig, diesen Erfahrungsraum miteinzubeziehen, bei dieser künstlerischen Forschung geht es nicht so sehr um rationale Methodik, sondern auch um sinnliche Erfahrung. Das funktioniert über die Filme, denke ich, sehr gut, genauso wie übers DAFA, wenn es mitgedacht wird. Wie vermittelt sich das? Wie kann ich es so gestalten, dass ein Teil des Prozesses nachvollzogen werden kann? Das ist für mich ein wesentlicher Punkt.

 

NK:

Ja, Film ist für mich ein Kommunikationsmittel. Ein guter Film kommuniziert, wendet sich ans Publikum und lädt es ein, sich Fragen zu stellen.

 

CWP:

Was würdest du als Erkenntnis nach diesen zwei Jahren formulieren?

 

NK:

Was für mich am stärksten hervorsticht, ist der Gedanke, dass die intensive Beschäftigung mit der eigenen Biografie in Bezug auf die soziale Klasse ein Wissen mit sich bringt. Wie tief muss man in andere Geschichten eintauchen, um sie gut erzählen zu können, um nicht an der Oberfläche zu operieren? Bevor ich jetzt ein neues Projekt entwickle, gehe ich mit dem Wissen darüber, wie tief wir gegraben, was wir alles berücksichtigt haben, welche Fragen wir uns gestellt haben über Figuren, über Welten, über Blicke, Bilder, Perspektiven, Narrative, Formen und Formate, in Zukunft anders an meine Projekte heran und lese vielleicht andere Projekte, wenn ich sie berate, auch anders.

 

CWP:

Ihr begreift euch ja sehr stark als Künstler*innen. Und da ist natürlich die Frage nach der sozialen Klasse schon nochmal was anderes. Habt ihr das aufgegriffen als Erkenntnis? Welche Möglichkeiten man auch aufgrund seiner sozialen Klasse hat, Künstler*in zu werden?

 

NK:

Das war als Thema präsent, weil es auch ganz stark um prekäre Lebenssituationen ging. Frei künstlerisch arbeiten zu können, ist ein riesiges Privileg. Das war in unserer Gruppe nicht besonders vorhanden. Man bräuchte finanzielle Absicherung, um auch Prozesse beginnen zu können, die nicht auf den ersten Blick Ertrag bringen und effizient sind. Das haben wir angesprochen, immer wieder. Ebenso war ein Thema, decodieren zu wollen, was Establishment ist, was auch immer man als Establishment versteht. Bei vielen von uns ging es auch um die Frage, wo man überhaupt dazugehören will. Ich suche mir meine Community, innerhalb der ich gut arbeiten, mich sicher fühlen kann, und will mich nicht alten Systemen der Deutungshoheit ausliefern und von ihnen beurteilt werden.

Es hat sich auch herausgestellt, dass es ein riesiges Privileg ist, manche ausgrenzende Erfahrungen nicht gemacht haben zu müssen. Aber wir wollten es nicht so defizitär betrachten, deshalb haben wir uns die Frage gestellt: Wo liegt die Kraft in dieser Position, in die ich hineingeboren oder hineinkatapultiert wurde? Diese beinhaltet eine eigene Qualität. Man will positiv mit den Dingen umgehen, aus dieser Kraft heraus, und nicht das übernehmen, was die Gesellschaft oder unser Wirtschaftssystem mit der Bewertung macht.

 

 

 

CWP:

Mir fällt ein, dass du einmal in dem Kolloquium erwähnt hast, dass das Konzept der Autosoziobiografie sehr stark diese Aufstiegserzählungen beinhaltet, und dann hast du die Frage gestellt, wie es mit dem Abstieg aussieht. Auch das Künstler*innendasein muss nicht automatisch ein Aufstieg sein.

 

NK:

Das ist ein sehr sensibler Bereich in dieser Auseinandersetzung.

 

CWP:

Was ist Aufstieg, was ist Abstieg.

 

NK:

Ja, und wo befindet man sich selbst gerade? Bei einigen von uns stellt sich die Frage: Will ich da überhaupt hinschauen? Die Aufstiegsgeschichten kann man auch leichter kritisieren – natürlich, es ist jetzt eine andere Person geworden, die schreibt, und sie hat eine Distanz zu ihrer Herkunftsfamilie aufgebaut. Wir haben uns sehr oft gefragt, ob diesem Blick die Liebe fehlt.

Die eigene soziale Klasse zu verlassen, ist ein Thema in meinem Marienhof-Projekt. Meine Eltern haben sich hochgearbeitet. Meine Oma hat erst mit 50 schreiben und lesen gelernt, obwohl sie drei Sprachen sprechen konnte. Die ganze Generation meines Vaters und meiner Mutter hat einen Klassenaufstieg gemacht.

Ich bin noch dabei herauszufinden, wie ich von unserem ökonomischen Klassen-Absturz, der mit der Flucht passiert ist, filmisch erzählen kann.

Wo sind die literarischen Werke, die davon erzählen, dass jemand steckengeblieben ist zwischen den Klassen? Das sind die selteneren Geschichten. Wir haben wirklich viel gesucht, aber die gibt es nicht, oder sie kommen erst.

 

CH:

Autobiografisch von sich selbst als Person zu erzählen, das hat viel mit Scham zu tun. Nicht zu funktionieren in diesem System. Wenn du dich bemühst, wird uns ja auch suggeriert, dann schaffst du es irgendwie. Und wenn du es nicht schaffst …

 

NK:

Es ist schwer, das zu trennen, dass man nicht die Situation ist, in der man sich befindet. Das wird in dieser Welt immer schwieriger. Darüber würde ich gerne noch mehr erfahren, das wäre mein nächster Schritt, wenn noch Zeit und Ressourcen bleiben, um genauer hinzuschauen.

 

CWP:

Wir haben hier noch die Frage formuliert, inwiefern diese Erkenntnisse – ganz weit gefasst – verbunden sind mit einer politischen Haltung und Dimension. Du hast gesagt, dass die Gruppe sich sehr stark damit beschäftigt hat, ob Establishment – ja oder nein –, das ist ja aus dem Nachdenken über politische Haltungen entstanden.

 

NK:

Ja, das war ein fixer Bestandteil jedes Gesprächs und jeder Auseinandersetzung, ich habe es gar nicht extra hervorgehoben. Auch in Bezug auf Kino, das stark meinungsbildend ist. Die Frage, wer welche Mittel hat, ist auch eine politisch-ökonomische Dimension. Welches Kino verfügt über welche Mittel? Es hat sich ein bisschen eingeschlichen, dass man, wenn man über benachteiligte soziale Schichten spricht, automatisch eine verwackelte, unscharfe Handkamera wählt, und dass Geschichten über Gutbürgerliche oft auch mit gutbürgerlichen Mitteln verknüpft sind. Da können viel mehr Akzente gesetzt werden. Das Licht orientiert sich mehr an der Malerei, an Gemälden. Es wäre ein spannender nächster Schritt, gemeinsam mit Kamerapersonen zu prüfen, was passiert, wenn man es umdreht. Eine kleine Szene von fünf Minuten mit unterschiedlichen Mitteln.

Aber das ist wieder eine Art Ermächtigung. Wie möchte ich erzählen? Wo ist meine künstlerische Handschrift? Wichtig ist, wirklich zu dem vorzudringen, was der Film braucht, und den Film nicht für eine politische Botschaft zu verwenden, sondern ein künstlerisches, sinnliches Erlebnis, eine Erzählung an die erste Stelle zu setzen. Wir sind durch unser Projekt mit dem Thema soziale Klasse automatisch mitten im Politischen.

 

CH:

Es geht ja auch darum, die Welt zu zeigen, in der die Figur lebt und aufwächst und agiert. Und da stellt sich die Frage: Wie zeigt man das? Ich kann einen Perspektivenwechsel vornehmen und mich in die Personen einfühlen, die vielleicht eine ganz andere Herkunft hat als ich und andere Dinge erlebt hat.

 

NK:

Es besteht immer die Gefahr, dass man didaktisch wird, wenn man die Strukturen kennt und auf sie aufmerksam machen will. Wie kannst du sie miterzählen? Dieses mit hilft mir dann, nicht mit dem Zeigefinger darauf zu zeigen. Das unglaublich Kostbare an unserem Projekt ist, dass das Wissen um die Sache mir in meiner Arbeit die Kraft gibt, das nicht benennen zu müssen, sondern basierend auf diesem Wissen Entscheidungen zu treffen. Und dann bin ich nicht Didaktikerin, sondern Künstlerin, die sich mit dem Thema beschäftigt hat und einen Ausdruck dafür findet.

 

CH:

Inwieweit ist Fiktion erlaubt? Oder muss es doch sehr realitätsnah, dokumentarisch sein, weil wir gesellschaftliche Themen verhandeln, Dinge, die wirklich passiert sind?

 

NK:

In Bezug auf Film finde ich, dass das nicht getrennt zu betrachten ist, weil auch ein Dokumentarfilm ein Ausschnitt ist und gestaltet. Ein Dokumentarfilm hat 40 Stunden Material und wir zeigen nur 60 Minuten daraus. Ich will mit dieser Aufrichtigkeit das Kino und das Filmemachen verstehen. Ein fiktionaler Schritt kann notwendig sein, um etwas auf den Punkt zu bringen. Es ist die Frage der Mittel, wie sehr wir das Publikum verführen wollen. Ich würde das nicht in Genres einordnen, es gibt ja auch Hybride. Ich finde, im Kino muss man wissen, dass man da vor etwas sitzt, das gestaltet wurde. Es gibt keine Wirklichkeit außerhalb des Bildes. Für uns als Kinomacher*innen ist das das Einzige. Und wir wissen, dass wir ganz viel nicht zeigen, um das zu zeigen, was wir zeigen.

 

CWP:

Im Moment spricht man in der Literatur meist über Autofiktionen, weil darin immer fiktionale Anteile sind, es ist immer eine Erzählung. Und beim Film stellt sich die Frage, wie die Gewichtung ist, wie sehr setze ich ganz bewusst stärkere fiktionale Elemente ein?

 

NK:

Die Frage ist auch, welchen Eindruck man erwecken möchte. Spielfilme zielen oft auf den Realitätsfaktor ab, nach einer wahren Begebenheit steht dann da, als würde das irgendetwas aufwerten. Im Dokumentarfilmbereich finde ich auch ganz schön, dass Filme gestaltet werden, in denen sich die Filmemacher*innen mit einer stark gestaltenden filmischen Stimme zu Wort melden, nicht immer mittels Voice-Over.

 

CWP:

Aber mir fällt das Neorealism Cinema ein, wo es auch sehr stark um den Aspekt des Einfangens der Realität geht, mit langen Szenen. Oder Kelly Reichardt, wo filmische Zeit und erzählte Zeit gleich sind. Es gibt ja starke dokumentarische Elemente im Fiktionalen und umgekehrt auch. Diese hybriden Formen werden mehr und mehr verwendet. Und es geht um die bewusste Entscheidung, was man bewirken will.

 

NK:

Ja, welchen Eindruck möchte ich dem Publikum vermitteln? Ich finde es wichtig, das Publikum in einen Prozess einzubeziehen, vor allem im Dokumentarischen, aber auch grundsätzlich. Film ist eine Kunst der Zeit. Sie hat ihre Minuten, und mit dieser Zeit müssen wir, wollen wir arbeiten, das ist nichts Fertiges, sondern etwas, das noch werden darf. Wenn es gut funktioniert, dann bindet es das Publikum, dranzubleiben.

 

CWP:

Und dieser Prozess geht ja weiter in der Rezeption, ist dann aber auch wieder sehr vielfältig, weil …

 

NK:

… zauberhaft. Wenn es gut läuft.

 

CWP:

Wenn es gut läuft, zauberhaft. Ein schönes Schlusswort.

 

Lektorat: Marilies Jagsch

 

[1] mit folgenden Artistic Researchern:

Ayo Aloba: Schauspieler, Musiker, Performer

Ruchi Bajaj: Schauspielerin, Künstlerin

Denice Bourbon: Performerin, Autorin, Musikerin, Moderatorin und Podcasterin

Laura Ettel: Künstlerin, Kamerafrau und Forscherin

Marius Mertens: Regisseur, Drehbuchautor, Tonmeister

Niklas Pollmann: Regisseur, Drehbuchautor, Medienwissenschafter

[2] Ernst Strouhal, Die Kunst des Schachspiels.

https://www.bibliothekderprovinz.at/media/leseprobe/9783991260721_lsp_eins_web.pdf