Claudia Walkensteiner-Preschl
Die Dinge ins Licht rücken
Autosoziobiografisches Erzählen im Film
Abstract
Was erzählen Dinge – seien es persönliche Requisiten, Fotografien an den Wänden, Gegenstände in einer Landschaft – im Kontext filmischer Autosoziobiografien? Wie verweisen sie auf außer – sowie innerdiegetische Bezüge, welche Erinnerungen rufen sie hervor, wie bestimmen sie Handlungsabläufe? Der Vortrag stellt erste Überlegungen zum autosoziobiografischen Erzählen vor und bezieht sich auf einige Filmbeispiele, um die vielfältigen Facetten dieser Erzählform anhand von ausgesuchten Dingen, der spezifischen filmischen Verfahrensweisen, des filmischen Materials vorzustellen.
Die von der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux so bezeichnete Autosoziobiografie wird mittlerweile als ein neues, vor allem literarisches Format gesehen. Viele aktuelle Geschichten in diesem Feld erzählen von Ungleichheiten, von Klassismus sowie von Klassenwechsel aufgrund von Bildung und bieten zugleich Analysen bestehender sozialer Verhältnisse.[1]
Im Zusammenhang mit filmischen Autosoziobiografien hat mich speziell beschäftigt, wie autobiografische Erzählungen im Film konstruiert werden, welche spezifisch filmischen Möglichkeiten existieren, um eine subjektive Perspektive zu erzeugen, und welche Rolle diverse Objekte in einzelnen Szenen spielen, die nicht zuletzt auf außer- wie auch innerdiegetische Bezüge verweisen.
Im Folgenden möchte ich einige Überlegungen anhand von drei Beispielen vorstellen, die zeigen, wie filmische Autosoziobiografien – insbesondere im Kontext von kinematografischen Objekten[2] – funktionieren, wie Filmemacher*innen ihre Lebensgeschichten, ihre soziale Herkunft anhand von Dingen, Fotografien etc. reflektieren, wie sie auf bestehende soziale Verhältnisse Bezug nehmen und wie sie filmische Verfahrensweisen nützen, um Autobiografie, Fiktion und Gesellschaftsanalyse – laut Eva Blome[3] wichtige Gemeinsamkeiten zwischen literarischen Texten und Filmen – miteinander zu verbinden. Eine Möglichkeit, das speziell Filmische an den Autosoziobiografien auszumachen, liegt eben darin, die kinematografischen Objekte, die Fotografien, das private Filmmaterial (Super-8-Formate) in den Blick zu nehmen. In gewisser Hinsicht darauf zu achten, wie diese Gegenstände bzw. Materialien speziell bei autosoziobiografischen Erzählungen verwendet, gezeigt, besprochen, eben wie sie eingesetzt werden.
In ihrem Artikel Céline Sciamma’s Quest For a New, Feminist Grammar of Cinema schreibt die Autorin Elif Batuman (New Yorker, 31.1.2022) über die Filme der französischen Drehbuchautorin und Regisseurin Sciamma und lässt auch einige persönliche Erzählungen der Filmemacherin einfließen. In diesem Artikel erfahren wir zum Beispiel, wie sehr Sciamma beim Schreiben ihrer Drehbücher ihre soziale Herkunft, ihre Erlebnisse in der Kindheit in den Banlieues von Paris und ihr Leben als lesbische Filmemacherin in der Metropole thematisiert. In Cergy-Pontoise, wo sie größtenteils aufgewachsen ist, dreht sie vorzugsweise auch ihre Filme. Für ihren Film Petite Maman (F 2021) zum Beispiel, den sie auch in der Nähe von Cergy-Pontoise produzierte, stattete sie die Räume nach dem Vorbild des Interieurs aus, das sie aus ihrer Kindheit kannte, verwendete den Gehstock ihrer Großmutter, bezog ihre frühen Notizbücher mit ein und einiges mehr.
Als ich zum ersten Mal Petite Maman im Kino sah, fiel mir der hölzerne Gehstock mit silbernem Knauf im Film zwar auf, ich betrachtete ihn allerdings mehr als ein beiläufiges Objekt, das eingesetzt wird, um eine Beziehung zwischen den Filmfiguren herzustellen. Der Film erzählt die Geschichte des achtjährigen Mädchens Nelly, das gemeinsam mit seinen Eltern zum Haus der verstorbenen Großmutter fährt, um es zu räumen. Nelly begegnet dort der gleichaltrigen Marion, mit der sie eine Zeitreise in die Vergangenheit beginnt.
Die ersten Szenen des Films zeigen Nelly mit dem Gehstock ihrer Großmutter, die soeben in einem Altersheim verstorben ist. Sie wandert damit den Gang entlang, von Zimmer zu Zimmer, um sich von den anderen älteren Menschen zu verabschieden. In der weiteren Erzählung spielt der Stock kaum eine Rolle. Er taucht als Requisit im Haus der Großmutter immer wieder auf, wird als Gehhilfe der Mutter eingesetzt, lehnt am Herd in der Küche und Ähnliches. Und dennoch –, als ich Batumans Artikel las, wurde deutlich, welche komplexe Bedeutung dieses Objekt im Film eigentlich hat, zumal Sciammas Großmutter mütterlicherseits hinkte und einen Gehstock benützte und sie eben diesen auch im Film verwendete.
Auf der Handlungsebene des Films, der eine komplexe zeitliche Struktur aufweist, ist es die Großmutter im Altersheim und später die Mutter, die den Gehstock aufgrund einer nicht durchgeführten Hüftoperation benützt. Selbst bei den Dreharbeiten fungierte dieses persönliche Erinnerungsstück Sciammas als ein hilfreiches Objekt. Wie Batuman berichtet, griff die Filmemacherin am Set sogar einmal instinktiv nach dem Stock, als sie vermeinte, ihre Großmutter im Hintergrund zu hören.
Oftmals stellen Objekte in Filmen einen mehrfachen Sinnzusammenhang her, sie fungieren als kinematografische Objekte, indem sie gewissermaßen Übergänge zwischen vorfilmischem Raum, Filmbild und apparativem Feld schaffen. (Marius Böttcher, Dennis Göttel u. a., 10)
Demzufolge verweisen Objekte in einem Spielfilm grundsätzlich auf eine komplexe Struktur der Erzählung: Hinsichtlich der konkreten Produktion an Drehorten, der Herstellung der Filme am Set, gehören sie zwar im praktischen Verständnis zur Ausstattung, zum Szenenbild. Somit wirken sie in diversen Räumen meistens wie beiläufig, selbstverständlich vorhanden. Wenn sie allerdings speziell ins Licht gerückt oder als wichtiges Detail einer Handlung inszeniert werden (eine Waffe in Großaufnahme zum Beispiel), dann erhalten sie nicht selten eine besondere Bedeutung. Wenn darüber hinaus zusätzlich private Gegenstände der Filmcrew oder der Schauspieler*innen im Film verwendet werden, können sie eine eigene narrative Spur bilden, die oft im Verborgenen bleibt und sich nur erschließt, wenn darüber berichtet oder in Interviews Einblick gewährt wird. Damit erweitern sich sozusagen die Erzählebenen der Objekte in Filmen abermals. Der Gehstock in Sciammas Film ist nur ein besonderes Beispiel für die unzähligen Möglichkeiten kinematografischer Objekte und ihren mehrfachen Sinnzusammenhang.
Nicht selten sind es (alte) Fotografien, die in autosoziobiografischen Kontexten jene Übergänge zwischen vorfilmischem Raum, Filmbild und apparativem Feld strukturieren: zum Beispiel gerahmte Fotografien an Wänden, sorgfältig arrangierte Fotoalben, Familienporträts in Großaufnahme. All diese Objekte fungieren oft als visuelle Gedächtnisprotokolle generationenübergreifender Erzählungen.
Der Film Visages Villages, in deutscher Fassung Augenblicke: Gesichter einer Reise, der Filmemacherin Agnès Varda und des Fotokünstlers JR (F 2017) dokumentiert eine Reise der beiden in französische Provinzen. Der Film zeigt, wie sie gemeinsam mit der Bevölkerung vor Ort ins Gespräch kommen und interaktiv überlebensgroße Porträt-Fotografien herstellen, die an Häuserfassaden, Zügen oder Schiffscontainern affichiert werden.
Agnès Varda ist zum Zeitpunkt des Drehs bereits 88 Jahre alt, JR 33 Jahre jung – beide verbindet nicht nur die Leidenschaft zu Bildern, sondern auch das Interesse daran, unterschiedliche Orte aufzuspüren, an denen Bilder – in diesem Fall Schwarz-Weiß-Fotografien – produziert sowie gezeigt werden können. Im Off spricht Varda in Ich-Form über ihr Verhältnis zur Fotografie, über ihre frühen Filmarbeiten, über Freundschaft und über die Beweggründe, diesen Film zu machen. Sie reflektiert selbstbewusst ihren künstlerischen Werdegang als Fotokünstlerin sowie später als Filmemacherin. Wer Vardas Filme kennt, weiß, dass sie selbst darin oftmals präsent ist, die Bilder in besonderer Weise inszeniert und unterschiedliche mediale Bezüge herstellt.
Der französische Fotograf und Streetart-Künstler JR tritt stets mit Hut und Sonnenbrille auf und arbeitet seit vielen Jahren mit großformatigen Fotografien, die häufig verschiedene Menschen porträtieren.
In Visages Villages reisen Varda und JR mit einem Kleintransporter, der gleichzeitig als Druckeinrichtung für überlebensgroße Fotos dient, in unbekannte Dörfer, verlassene Industriegebiete, weitläufige Hafenanlagen sowie an Orte aus Vardas Vergangenheit. Während ihrer Aufenthalte an den unterschiedlichsten Orten kommen sie mit Passant*innen, mit Bewohner*innen sowie Fabriksarbeiter*innen ins Gespräch und produzieren überlebensgroße Fotoporträts von ihnen. Parallel dazu stellen sie historische und soziale Kontexte her, indem sie die Leute konkret nach ihren Lebens- und Arbeitsverhältnissen fragen und allenfalls die Veränderungen aufgrund der an Wände geklebten öffentlichen Fotografien gemeinsam mit allen Beteiligten reflektieren.
So treffen sie die letzte Bewohnerin einer Bergarbeitersiedlung, die von ihrer Kindheit erzählt und von der harten Arbeit der Bergarbeiter. Historische Postkarten von Bergarbeitern aus der Gegend wie auch das Porträt der letzten Bewohnerin werden überlebensgroß an Mauern der vorwiegend leerstehenden Häuser geklebt. In einem anderen Fall erklärt eine Bäuerin, warum sie ihren 60 Ziegen nicht die Hörner entfernen lässt, was sie aufgrund einer EU-Vorschrift tun müsste. Es folgt, für die ganze Gegend sichtbar, ein riesiges Porträt einer Ziege mit Hörnern an einer Hausmauer. Dann werden Frauen von Hafenarbeitern in Le Havre befragt und ihre kolossalen Porträts in einer aufwendigen und fröhlichen Aktion auf Schiffscontainer geklebt.
Außergewöhnlich bei Visage Villages ist, dass die biografischen Narrationen im Film generationenübergreifend erfolgen und dass die beiden Künstler*innen ein weitreichend mediales Konzept verfolgen: Sie fotografieren sich wiederholt gegenseitig, blättern private Fotoalben durch, sprechen dazu, setzen gefundene Fotografien respektive Porträtfotos als historische Dokumente ins Bild und betrachten die überlebensgroßen Porträtfotos gemeinsam mit den aufgenommenen Personen. Auch das Herstellen von Selfies mit einer jüngeren Generation fehlt im Film nicht.
Doro Wiese beschreibt in ihrem Aufsatz zu Visage Villages die spezielle Produktionsform und das analytische Verfahren der Vorgehensweise: „JR und Varda untersuchen Produktionsverhältnisse, inklusive ihres eigenen Films, die sie auf unaufdringliche Weise in einen geschichtlichen und sozialen Kontext stellen. Wenn also die Land- und Ziegenwirtschaft, der Bergbau, die Fabrik, der maritime Transport ebenso thematisiert werden wie die Recherchearbeiten, die Herstellungs- und Aufnahmebedingungen von Fotografie, Film und Wandbild, werden mediale Formen und dargestellte Inhalte einer historisch-materialistischen Analyse unterzogen.“ (Wiese, 75)
Der Dokumentarfilm Visages Village stellt einen anschaulichen Einzelfall dafür dar, wie Fotografien in einer reflexiven, interaktiven, sowie performativen Filmpraxis verwendet werden können, um autosoziobiografische Erzählweisen zu konstruieren.
Bei unabhängigen, experimentellen Filmen sind es neben (alten) Fotografien nicht selten private Super-8-Filme, die in filmischen Herkunftsgeschichten miteinbezogen werden[4]. Ein sehr schönes und eindringliches Beispiel für den Einsatz des Super-8- Filmmaterials im Kontext autosoziobiografischer Erzählungen zeigt Gabriele Mathes’ Film Eine Million Kredit ist normal, sagt mein Großvater (A 2006). Für diesen 23 Minuten langen Film verwendete Mathes vorwiegend private Familienfilme, die ihr Vater in den späten 1960er-Jahren aufgenommen hatte, sowie selbst gedrehtes Material.
Zu Beginn des Films sind Aufnahmen einer Straßenasphaltierung zu sehen. Die Bilder zeigen harte Arbeit, Häuserfronten, Feuer und Rauch beim Arbeitsvorgang des Asphaltierens. Es folgt eine Ich-Erzählung im Voiceover, die eine unterschwellige Tragik der Familiengeschichte ahnen lässt. An einer Stelle im Film erzählt die Stimme im Off Folgendes: „Es ist der 30. Dezember, mein Vater fährt nach Hause. Er ist 54 Jahre alt. Er hat nicht geschlafen in der vorangegangenen Nacht. Er hat jede Stunde seinen Rundgang in der großen Halle mit den Brennöfen gemacht. Mein Vater hat 100.000 Schilling in der Tasche. Die hat er in zwei Monaten Nachtschicht verdient. Heue ist Silvester. Mein Vater fährt nach Hause, um meine Mutter zu umarmen. Mein Vater ist kein Nachtwächter. Mein Vater ist Tischler. Mein Vater ist Chef. Mein Vater war Chef. Mein Vater war Chef einer Möbelfirma. Ich träume von meiner Mutter. Sie sitzt im Wohnzimmer und lauscht. Worauf lauscht meine Mutter? Sie lauscht, ob Besuch kommt. Sie mag es nicht, wenn Besuch kommt. Meine Mutter will nicht, wenn man merkt, wenn es ihr schlecht geht.“
Im Verlauf des Films kommt es mehrfach zu detaillierten Beschreibungen von abgelaufenen Lebensmitteln im Küchenkasten, von zwei Tiefkühltruhen mit Fleisch, von dem zwei Drittel schon verdorben sind, von verfaulten Kartoffeln und Zwiebeln. Es ist die Rede von frischem Fleisch im oberen Bereich der Tiefkühltruhe, von Schnitzeln, Koteletts, Grammeln, Suppenfleisch. So anschaulich die Dinge auch geschildert werden und wie oft sie auch erwähnt werden, sie sind niemals im Bild zu sehen. Und dennoch drängen sie sich förmlich auf, prägen sich ein, formieren sich als innere Bilder.
Dass es Gabriele Mathes darum ging, beim Publikum innere Bilder zu erzeugen, bestätigte sie in einem langen Gespräch über ihre Arbeit.[5] Sie wollte mittels wiederholter Schilderungen in poetischer Form Bilder im Kopf der Zuschauer*innen entstehen lassen – Bilder, die die Dinge sozusagen anders ins Licht rücken. Indem in diesem Film die Dinge nicht als sichtbare Objekte zu sehen, sondern vielmehr als vorgestellte Bilder präsent sind, bilden sie gewissermaßen ein besonderes Geflecht von Übergängen: eines zwischen vorfilmischem Raum, vorgestellten Bildern und apparativem Feld.
Mathes sprach außerdem in unserem Gespräch über ihre Beweggründe, einen autobiografischen Film mit einer Gesellschaftsanalyse zu verbinden. Sie erzählte davon, wie sie ihr ländliches Elternhaus früh verließ und sich selbstständig machte. Sie lebte damals 220 Kilometer entfernt von zu Hause in Wien und begann mit Mitte zwanzig ein Filmstudium an der Filmakademie Wien. Wobei sie damals im Gegensatz zu vielen anderen Studierenden in prekären Verhältnissen lebte. Als sie viele Jahre später bei ihren Recherchen zu ihrer Familiengeschichte die Super-8-Filme ihres Vaters sichtete, bemerkte sie, dass diese ausschließlich einfache Szenen des Alltags in vergnüglicher Form zeigten – das neu eingerichtete Wohnzimmer, Landausflüge, Urlaubsituationen an der oberen Adria und vieles mehr. Überraschend für sie war, dass die Filme vieles aussparten, was sie als Kind durchaus wahrgenommen hatte: nämlich den enormen Druck des Vaters, weil er eine Möbelfirma gegen seinen Willen übernehmen musste, die Sorgen der Eltern, die Bankschulden nicht bezahlen zu können, die schwelende Katastrophe aufgrund von Zahlungsunfähigkeit sowie die Auswirkungen der Insolvenz auf die Familie.
Mathes entwickelte daraufhin ein spezielles Konzept: Sie wollte in ihrer Erzählung über ihre soziale Herkunft vieles von dem sichtbar machen, was die Super-8-Filme des Vaters nicht zeigten. Dafür wählte sie eine komplexe Struktur, um das Nicht-Sichtbare – das Abwesende – gewissermaßen durch zwei Sprach-Bild-Ebenen deutlich hervorzuheben. Auf der Bildebene verwendete sie also vorwiegend privates Super-8-Filmmaterial und bearbeitete dieses auf experimentelle Weise, indem sie zum Beispiel einzelne Bildfolgen wiederholte sowie diverse monochrome Farbflächen einsetzte. Auf der Tonebene ist ein durchgängiges Voiceover einer Frauenstimme zu hören. Die Erzählungen sind punktgenau auf einige dramatische Geschehnisse in der Familie gerichtet. Grundsätzlich sollte der Film keine einfache Bebilderung des autosoziobiografischen Textes bieten, sondern vielmehr ein Wechselspiel von Bildern und gesprochenen Textpassagen, in gewisser Weise eine rhythmische, assoziative Allianz erzeugen. Die Absicht der Filmemacherin war es, einen filmischen Raum zu schaffen, indem Bilder durch Sprache erzeugt werden, die von Bildern auf der Leinwand nicht gestört werden.
Im Gespräch mit Gabriele Mathes kamen wir zudem darauf zu sprechen, wie ein autosoziobiografisches Erzählen im Film eigentlich konstruiert werden kann, welche Möglichkeiten der Film im Wesentlichen bietet, um eine Ich-Perspektive zu erzeugen.
Ich sagen zu können in einem Film, bedeutet für Mathes, eine kraftvolle Position einzunehmen. Obwohl die kollektive Arbeitsform beim Filmemachen für sie selbstverständlich ist – sie arbeitet vielfach mit vertrauten Kolleg*innen, mitunter auch mit einer Komponist*in zusammen –, schöpft sie bei der Herstellung ihrer Filme vorwiegend aus ihren eigenen Erfahrungen und verbindet persönliche Erlebnisse
mit gesellschaftspolitischen Analysen. Mathes betont allerdings, dass, wenn in ihren Filmen ein „Ich“ vorkommt, es jeweils konstruiert wird, ein hergestelltes Ich ist,
das für etwas steht, das im Dialog mit dem Publikum standhalten muss. Oberste Richtschnur ist für sie ohnedies eine gelingende Kommunikation mit dem Publikum.
Die Thematik der Ich-Position im Film hat Christine N. Brinckmann in ihrem 1988 erschienenen Aufsatz Ichfilm und Ichroman aufgegriffen. Sie stellte damals fest, dass die Kategorie Ichfilm im Bewusstsein des Publikums respektive der Kritik eigentlich nicht vorhanden ist. Denn die Ich-Perspektive ist im Film, so Brinkmann, „meist unauffälliger, weniger ausschlaggebend, weniger umfassend, weniger konsequent als im Roman, und sie ist formal viel uneinheitlicher“. (Brinckmann, 83)
Was ist damit gemeint? Was genau ist der Unterschied zwischen der Autor*innenschaft in einem Film und einem Roman? Brinckmann bezieht sich auf die Herstellung eines Spielfilms, die – anders als beim Roman – in einem kollektiven Arbeitsprozess erfolgt und sich schon dadurch weniger einheitlich gestaltet. So gesehen sei eine Ich-Perspektive im Film nur partiell vorhanden, weil eben nicht wie im Roman nur ein Autor, eine Autorin an einer Ich-Erzählung beteiligt ist, sondern ein ganzes Filmteam inklusive Schauspielerinnen und Schauspielern daran arbeitet. (Brinckmann, 88) Dazu kommt, dass der Spielfilm eine filmische Aufnahme mit Schauspieler*innen an unterschiedlichen Orten voraussetzt. Für Brinckmann ist der filmische Herstellungsprozess stark mit dieser vielschichtigen Präsenz von Personen verbunden, das heißt, dass die Erzählung ebenso das Augenblickliche der Aufnahme vor Ort miteinbezieht. Auch dieser Aspekt trägt im Gegensatz zum Roman laut Brinkmann zum „Uneinheitlichen“ der Ich-Position im Film bei.
Die Möglichkeiten, eine – wie die Filmtheoretikerin es nennt – partielle Ich-Perspektive im Spielfilm einzunehmen, respektive einen subjektiven Standpunkt im Film zu betonen, beschreibt sie im Zusammenhang mit spezifischen filmischen Verfahrensweisen, die erstmals in den 1940er-Jahren in Hollywood-Filmen verstärkt eingesetzt wurden: subjektive Kamera, Voiceover und Flashbacks. Für Brinckmann existiert allerdings im Zusammenhang mit der subjektiven Kamera eine spezifische Problematik: Genau genommen müsste die Kamera an die Stelle der Augen einer fiktionalen Person treten, um eine Ich-Perspektive einzunehmen. Damit ist die Ichfigur selbst allerdings von der Leinwand verbannt: Indem die Kamera ihren Augenstandpunkt einnimmt, ist die Ichfigur unsichtbar geworden. (Brinckmann, 110)
An dieser Stelle ließe sich hinzufügen: Was heute größtenteils Mobiltelefonkameras leisten, wurde lange Zeit mit 16 mm respektive Super-8-Equipments in besonders artifizieller Weise hergestellt.
Mit dem Aufkommen der 16mm-Kameras in den 1920er-Jahren respektive Super-8-Film-Kameras in den 1960er-Jahren kam es, so betont auch Brinckmann, zu weiteren Gelegenheiten, eine partielle Ich-Perspektive zu entwickeln und zu neueren ästhetischen Formen, vor allem im Dokumentar- sowie Experimentalfilmbereich zu gelangen. Mittlerweile zeugen unzählige Filmbeispiele von einer Ich-Perspektive, besser gesagt, autosoziobiografischen Erzählweise im Film. Gabriele Mathes’ Film ist im Experimentalfilmbereich eine herausragende aktuelle Variante davon.
Ich komme zum Schluss meines Vortrags. Den Blick auf kinematografische Objekte zu richten und zudem danach zu fragen, wie ein subjektiver Standpunkt in einer kollektiven Filmproduktion zu denken wäre, erscheint mir ein gangbarer Weg zu sein, um einige Facetten des autosoziobiografischen Erzählens im Film zu beschreiben. Darüber hinaus bieten freilich persönliche Aussagen von Filmemacher*innen – seien es Interviews, Facebook-Eintragungen sowie konkrete Gespräche mit ihnen – wichtige Informationen, um autosoziobiografisches Erzählen im Film in seiner Komplexität überhaupt erfassen zu können. Je mehr ich als Rezipient*in über den Herstellungsprozess, den Einsatz diverser persönlicher Objekte weiß, umso reichhaltiger gestalten sich die jeweiligen Narrationen.
Literatur:
Elif Batuman: Sciamma’s Quest For a New, Feminist Grammar of Cinema, New Yorker, 31.1.2022.
Eva Blome, Philipp Lammers, Sarah Seidel (Hg.): Autosoziobiographie. Poetik und Politik. Berlin 2022.
Marius Böttcher, Dennis Göttel u. a. (Hg.): Wörterbuch kinematografischer Objekte. Berlin 2014.
Christine N. Brinckmann: Ichfilm und Ichroman. In: dies.: Die anthropomorphe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration. Zürich 1997.
Doro Wiese: Augenblicke. Gesichter einer Reise von JR und Agnès Varda als Repräsentation der „Klasse ohne Privilegien“. In: zfm, Zeitschrift für Medienwissenschaft, Nr. 19, 2/2018.
Lektorat: Marilies Jagsch
[1] Beispiele dafür sind Erzählungen von Annie Ernaux, Didier Eribon, Édouard Louis, Daniela Dröscher, Andrea Roedig, Anke Stelling, um einige zu nennen.
[2] Vgl. Marius Böttcher, Dennis Göttel u. a. (Hg.): Wörterbuch kinematografischer Objekte. Berlin 2014.
[3] Ich beziehe mich hier auf einen Vortrag, den Eva Blome anlässlich des Symposiums Confronting Realities. Filmische Autosoziobiografien im Oktober 2022 in Wien gehalten hat. Siehe auch: Eva Blome, Philipp Lammers, Sarah Seidel (Hg.): Autosoziobiographie. Poetik und Politik. Berlin 2022.
[4] Beispiele dafür sind Filme von Gabriele Mathes, Sibylle Bauer, Chloé Zhao, Olga Kosanovic, Maria Lang, Su Friedrich, Annie Ernaux – um einige wenige zu nennen.
[5] Das Gespräch mit Gabriele Mathes fand im August 2022 in Wien statt.