Fr, 13:00
Jürgen Oberschmidt Pädagogische Hochschule Heidelberg
Musikunterricht zwischen Divertimento und Etüde. Über das Spannungsverhältnis zwischen fremdgesteuertem Anpassungsdruck, musikimmanenten Steigerungsstrategie und kontemplativen Zugängen
In seinem Aufsatz „Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ beschreibt Friedrich Nietzsche die „schwindelnde Hast unseres rollenden Zeitalters“. Schon lange vor den aktuellen Elitedebatten, den PISA-Gefechten und Beschleunigungsdiskussionen des 20. Jahrhunderts äußerte sich Nietzsche kritisch über das damalige Bildungssystem und fand als Schüler bereits seine eigene Partisanentaktik, um all diesem zu entkommen: Schon im 19. Jahrhundert schien die Schule kein Ort der Muße, „der Konzentration, der Kontemplation“ zu sein und bereits hier hatten die Musen einen äußerst schweren Stand: „Zeit zum Denken gibt es nicht“ (Nietzsche). Im Rahmen dieses Beitrags soll ein besonderer Blick auf unsere Schule geworfen werden, um zu diskutieren, wie unsere Vorstellungen vom Musikunterricht sich von aktuellen Bildungsdebatten einfangen lassen und diese sich tief in den Unterricht eingraben. Dabei soll deutlich werden, dass wir als Lehrerinnen und Lehrer hier nicht allein den manipulativen Steuerungen einer ökonomischen Ausrichtung unseres Bildungssystems erlegen sind. Wir bewegen uns vielmehr in einer Optimierungsgesellschaft mit immer neuen Leistungsimperativen, die nicht nur die Erntetabellen von Musikwettbewerben, sondern all unsere Lebensbereiche betreffen. Schließlich hat auch die Musik selbst die Etüde als Instrument der Selbstoptimierung entdeckt: Wie stellen wir uns heute den Widersprüchen unserer formalen Bildungsrituale? Haben die Schutzgöttinnen der Künste ihre Macht gänzlich verloren? Vielleicht müssen wir wieder andere Seiten der Kunst entdecken und die Musen um Inspiration bitten. Es gibt also genügend Gründe, „Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ neu nachzudenken.
Jürgen Oberschmidt, Dr. phil., ist Professor für Musik und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Nach dem Studium an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover war er zuvor als Lehrer für Musik und Deutsch an einem Gymnasium in NRW und in der Lehrer_innenausbildung an der Universität Kassel tätig. Promotion mit einer Arbeit über metaphorisches Sprechen im Musikunterricht. Seine Arbeitsschwerpunkte sind fachübergreifende Unterrichtskonzepte und Beiträge zum kreativen Klassenmusizieren. Zur Zeit beschäftigt er sich mit bildungstheoretischen Grundlagen des Musikunterrichts.
Veröffentlichungen (Auswahl):
Jürgen Oberschmidt, Mit Metaphern Wissen schaffen – Erkenntnispotentiale metaphorischen Sprachgebrauchs im Umgang mit Musik. Augsburg: Wißner 2011
Ders (Hg.): Geräuschtöne. Über die Musik von Carola Bauckholt. Regensburg: ConBrio 2014
Ders Stefan Zöllner-Dressler (Hg.): Musik – Bild – Bewegung – Sprache. Zu Theorie und Praxis der ästhetischen Transformation. Essen: Die blaue Eule 2019