Musical Digitology – Musik und Musikgeschichte in Zeiten von Digitalisierung und WWW

Ringvorlesung am IMI

Konzept: Juri Giannini / Julia Heimerdinger / Nikolaus Urbanek

Organisation: Julia Heimerdinger

Kontakt: heimerdinger[at]mdw.ac.at

Zeit: 17.30–19.00 Uhr
Ort: IMI, Raum A 0101 | 1010 Wien, Seilerstätte 26

Wie verändern die Möglichkeiten der Digitalisierung und das World Wide Web die Darstellung und Wahrnehmung von Musik und Musikgeschichte?

Was bedeutet die Entwicklung entsprechender Technologien und Medien für uns als Musikhörer*innen, an Musikgeschichte Interessierte und Forschende?

Die öffentliche Vortragsreihe möchte bewusst keine konkreten (Digitalisierungs)projekte vorstellen, die ja immer unter einem gewissen Erfolgsdruck stehen, sondern mit Blick auf digitale oder digital vermittelte Musik und Projekte thematisieren und kritisch reflektieren, welche eigenen Formen von Musik und Kunstvermittlung, der Rezeptionsästhetik und der Betrachtung historischer Quellen sich in diesem Zusammenhang ausgeprägt haben und ausprägen.

» Flyer "Musical Digitology"

 

Vorlesungstermine

 

16.10. Juri Giannini / Julia Heimerdinger / Nikolaus Urbanek: Musik und Musikgeschichte in Zeiten von Digitalisierung und WWW - Einführung

23.10. Thomas Desi: Ein Phantom der Oper: Was aus der Cyber-Opera wurde

30.10. Alenka Barber-Kersovan: Musikerbe im digitalen Zeitalter

13.11. entfällt! Ersatztermin 29.1.2020 Matthias Pasdzierny: Popgeschichte als "music metadata" - Zur Platformization von Hören und Wissen

20.11. Julia Heimerdinger: Die Fluxus-Renaissance im WWW

27.11. Thomas Ahrend: Das World Wide Web als Medium musikphilologischer Forschung

04.12. Juri Giannini und Magdalena Fürnkranz: (Selbst)darstellung auf YouTube – „Musical Personae“ 2.0

11.12. Offenes Sofa: Internetschnipsel-Mashup - Eine kollektive Analyse der bemerkenswertesten Internetfundstücke aus der weiten Welt der Musik/geschichte (Linkmitbringsel erwünscht). Seilerstätte 26, Raum A 0416

08.01. Anne Holzmüller: Augmented Listening, Musical Holodecks. Digitale Perspektiven auf musikalisches Erleben

15.01. Das Telling Sounds-Team: Wiens wilde 70er im Netz der medialen Bezüge

22.01. Alvaro Díaz Rodriguez: The Berlin Philharmonic Digital Concert Hall. New Strategies of Music Knowledge and Conception

29.1.2020 Matthias Pasdzierny: Popgeschichte als "music metadata" - Zur Platformization von Hören und Wissen

 

Die Ringvorlesung ist als 03.0023 Musikwissenschaftliche Spezialvorlesung als Lehrveranstaltung absolvierbar.

 

Abstracts
 

23.10. Thomas Desi: Ein Phantom der Oper: Was aus der Cyber-Opera wurde

Die "Cyber-Opera", oder auch "Internet-Opera", erweist sich als Phantom des Internets (oder der Oper) und als Paradox: Etwas, das in den 1990er Jahren antrat, im Digitalen und der Netz-Kommunikation beheimatet zu sein, lässt sich gerade dort kaum noch ausfindig machen. War die "Cyber-Opera" eine künstlerische Utopie für überzogene Erwartungen an den "Cyberspace"? Geht die Idee einer solchen musiktheatralen Form im virtuellen Raum des "Web 2.0" Hand-in-Hand mit einer "Entzauberung" des Internets in der aktuellen sogenannten "dritten Kommerzialisierungs-Welle"? Was wären Genre-Grenzen, die "Oper" gerade noch zulassen, oder besser: erneuern?
Fallbeispiele und Gedanken zu einem Phantom der neueren Opern- und/oder Internet-Geschichte.

 

30.10. Alenka Barber-Kersovan: Musikerbe im digitalen Zeitalter

Der gegenwärtige ‚Geschichtsboom‘, der uns popkulturell recycled in unterschiedlichen medialen Formaten (Unterhaltungsliteratur, Film, Comic, Video, Computerspiel, Musik), publikumsfreundlich aufgearbeitet in Ausstellungen und Themenparks und lebensnah inszeniert auf den Mittelaltermärkten begegnet, wird auch von der zunehmenden Sorge um das sogenannte „Kulturerbe“ mitgetragen. Anders als bei der Historiographie handelt es sich beim Kulturerbe um keine objektive Widergabe geschichtlicher Tatsachen, sondern um Geschichtsinterpretationen des Vergangenen, die auf einem bewussten oder unbewussten Auswahlprozess basieren und bestimmen, was von einem Individuum oder einer sozialen Gruppe erinnert werden soll und was nicht. Die einzelnen, auch musikalischen Erinnerungspraktiken können mit unterschiedlichen Valenzen ausgestattet werden, die von der Identitätskonstruktion und Kommerzialisierung des geschichtlichen Kapitals (History Marketing) bis zum Musiktourismus, politischer Instrumentalisierung und Histotainment reichen.
Die Pflege des Musikerbes (Denkmäler, Gedenktage) hat bereits eine lange Tradition und war auch bislang stets eingebunden in mediale Zusammenhänge. Mit der Digitalisierung erfuhr jedoch dieser Bereich einige neue Qualitäten. Neue Speichermöglichkeiten lassen eine beinahe unbegrenzte Ansammlung von materiellen und immateriellen Sachverhalten, und neue Distributionsnetzwerke machten Millionen von Musikstücken jederzeit für jedermann verfügbar. Über digitale Plattformen haben nun auch die Fans einen unmittelbaren Zugang zur Überlieferung und deren (Re)Interpretation, wodurch einer nach Objektivität strebenden ‚Geschichtsschreibung von oben‘ eine subjektiv motivierte ‚Geschichtsschreibung von unten‘ gegenübergestellt wird. Auswirkungen dieser Trends sind allerdings ambivalent, zumal das Überangebot an Daten und Fakten die ohnehin bestehende Unübersichtlichkeit (Jürgen Habermas) verstärkt. Das hat einerseits eine Zunahme der Selektions- und Kanonisierungsverfahren (Charts; elektronische Suchmaschinen) zu Folge, wodurch die bestehende Diversität musikalischer Ausdrucksweisen reduziert wird. Andererseits weckt das Überangebot bei den Rezipienten ein verstärktes Bedürfnis nach Sicherheit und Struktur, was das Interesse an der (realen oder auch erfundenen) Geschichte verstärkt und sich in Nostalgie, diversen Retro-Trends und musikalischen Revivals wiederspiegelt.

 

13.11. 29.1.2020 Matthias Pasdzierny: Popgeschichte als "music metadata" - Zur Platformization von Hören und Wissen

Die sogenannte Plattform-Ökonomie hat mit Apple Music, Spotify oder Amazon Music längt auch die Musikindustrie erreicht und beeinflusst nachhaltig die Art und Weise, wie wir Musik hören und verstehen. Mit der kuratierten und über Social Media teilbaren Playlist ist dabei eine neue "Großform" entstanden, die in der Popmusik an die Stelle von Album und Single getreten ist und mit der versucht wird, frühere Formen und "Institutionen" der Wissens- und Geschmacksvermittlung (das Albumcover und/oder CD-Booklet, der Plattenladen, das Fanzine, die Szene) zu ersetzen. Aber wie generieren und akkumulieren solche Plattformen (pop)musikkulturelle Wissensbestände, woher beziehen sie die benötigten Informationen und Kontexte, und wie werden diese den Nutzer*innen dargeboten? Hier kommen auf "music metadata" spezialisierte Anbieter wie das in Kalifornien ansässige Medienunternehmen TiVo ins Spiel, mit dem Versprechen "[to go] beyond basic descriptions to include artist biographies, reviews, related editorial content, song samples, music videos and social media" (https://business.tivo.com/products-solutions/data/music-metadata). Der Vortrag nähert sich diesem bislang kaum bekannten musikhistoriographischen Ökosystem an, stellt die in diesem Gebiet zentralen Akteure vor und setzt sich mit den angebotenen Inhalten und Vermarktungsmechanismen auseinander.

 

20.11. Julia Heimerdinger: Die Fluxus-Renaissance im WWW

Abstract folgt.

 

27.11. Thomas Ahrend: Das World Wide Web als Medium musikphilologischer Forschung

Das WWW wird in der alltäglichen Wahrnehmung (sicherlich zurecht) vor allem als ein Medium betrachtet, in dem Musik als Klang rezipiert und „geteilt“ werden kann. In dieser Hinsicht stellt das WWW eine Fortsetzung eines historischen Medienumbruches dar, der bereits seit der Einführung technischer Klangaufzeichnung um 1900 begann und der den Begriff von Musik sowie den Umgang mit ihr maßgeblich verändert hat und weiter verändert. Hieraus resultieren zahlreiche Möglichkeiten und Herausforderungen einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Musik im Zusammenhang einer allgemeinen Medienphilologie bzw. einer spezifischen ‚Klangdatei‘-Philologie.
Unabhängig davon ist jedoch die Notenschrift, die seit ihrer Entstehung und lange Zeit auch noch neben der Klangaufzeichnung das vorherrschende Speicher-, Übertragungs- und Bearbeitungsmedium von Musik gewesen ist, ebenfalls im WWW in verschiedensten Formen präsent: Zwischen den Polen der einerseits bloßen „Archivierung“ von Dokumenten und Materialien eines historischen Wissens über Musik (d. h. einem Wissen auch über deren materialen Verfasstheit als Schrift auf dem „Beschreibstoff“ Papier) und andererseits der Weiterentwicklungen von Musiknotation als digitaler „Code“ sowie den prinzipiellen Möglichkeiten einer „Verlinkung“ der an musikalischer Schrift beteiligten Elemente finden sich im WWW zahlreiche Beispiele.
Der Vortrag will anhand einiger ausgewählter Beispiele (Web-Präsenzen von Archiven, digitalen Editionen, zeitgenössischen Komponisten, IMSLP, YouTube, Semantic-Web-Ansätzen) versuchen, diese (transitorische?) mediale Situation sowie deren Konsequenzen für den philologischen Umgang mit „musikalischen Texten“ im WWW zu beschreiben und zu reflektieren.

 

04.12. Juri Giannini und Magdalena Fürnkranz: (Selbst)darstellung auf YouTube – „Musical Personae“ 2.0

„[T]o be a musician is to perform an identity in a social realm“ (Auslander 2006: 101). In Philip Auslanders Theorie der „Musical Personae“ geht es um die kontextuelle Darstellung von Identitäten. Musikalische Objekte dienen hier überhaupt nur als ‚Vorwände‘ für die Handlungen von PerformerInnen. Auslander definiert den Begriff „Musical Personae“, indem er sich auf Simon Friths Betonung der performativen Aspekte der „star personality“ und der „song personality“ (Frith 1996: 212) in Performing Rites, einem der Standardwerke der Popularmusikforschung, bezieht. Auslander ergänzt das von Frith bezeichnete „double enactment“ durch eine dritte Komponente, „the real person (the performer as human being), the performance persona (the performer as social being) and the character (what Frith calls ‚song personality’)“ (Auslander 2009: 305). In den Vorarbeiten zu dieser Theorie beschäftigte sich Auslander unter anderem auch mit Fragen der Performanz im Cyberspace (Auslander 2002). Es handelte sich allerdings noch um ein ‚unausgereiftes‘ Untersuchungsobjekt in Hinblick auf musikalischer Performance, schließlich war damals die Plattform YouTube noch nicht gegründet worden und somit konnte einer der wichtigsten Faktoren von Auslanders performativen Theorie – die Interaktion mit dem Publikum – nicht oder nur bruchhaft untersucht werden. In diesem Vortrag wollen wir ausgehend von Auslanders theoretischem Input untersuchen, inwieweit seine Betrachtungen auf gegenwärtige musikalische Erscheinungen (Performances) im Netz anwendbar sind bzw. wie sie durch die Möglichkeiten des Web 2.0 erweitert werden sollten und welche Rolle Aspekte der Intermedialität im Kontext des Cyberspace spielen. Nach einer theoretischen Einführung wollen wir zwei Fallstudien aus verschiedenen Stilfeldern des aktuellen Musiklebens präsentieren und über möglichen Konsequenzen in Zusammenhang mit Musikgeschichtsschreibung nachdenken. Darüber hinaus wollen wir im Dialog auf die jeweiligen Fallstudien eingehen (die zwei Vortragenden kennen bis zum Tag des gemeinsamen Vortrages das Fallbeispiel des/der anderen nicht!).

 

08.01. Anne Holzmüller: Augmented Listening, Musical Holodecks. Digitale Perspektiven auf musikalisches Erleben

Digitale Medien verändern unsere Perspektive auf ästhetische Wahrnehmung. Immersion ist in den letzten Jahren zu einer Art buzz word in Zusammenhang mit dem Erleben virtueller Welten geworden und hat neben der neuen Medienkunst und den Medienwissenschaften auch den Kulturbetrieb voll erfasst. In meinem Vortrag möchte ich zunächst die hier weitverbreitete „technikdeterministische“ Perspektive (Hochscherf et. al. 2011) hinterfragen, die immersives Erleben als durch neue Medientechnologieneingeleiteten Paradigmenwechsel in der Ästhetik verseht, um im nächsten Schritt zu fragen, welche neuen Perspektiven sich ausgehend von den Möglichkeiten digitaler Medien auf das musikalische Erleben ergeben können. Aktuelle Debatten drehen sich hier u.a. um die Frage, ob wir Musik als eine Virtuelle Realität erfahren, die als eine abgetrennte Weltvergleichbar mit der Simulation eines Holodeckswahrgenommen wird, oder ob es sich bei musikalischen Erlebnissen um eine Augmented oder Mixed Reality handelt, insofern sich Alltagswelt und musikalischer Raum immer schon durchdringen (van Elferen 2019). Meine Argumentation wird dahin gehen, dass beide Ausprägungen im musikalischen Praktiken der Gegenwarteine Rolle spielen, dass portable Audiomediennutzung dazu tendiert, sich in Alltagshandlungen und –situationen zu integrieren, dass aber gleichzeitig auch im Umgang mit diesen Medien Hörpraktiken selbstverständlich sind, die Musik als eine alternative Raumerfahrung zelebrieren. Dieses Erleben von Musik als eine andere „Welt“ steht in einer kulturgeschichtlich weit zurückreichenden Tradition, die ich in meinem Vortrag hörgeschichtlich umreisen möchte. Heute steht sie nach wie vor nicht nur im Zentrum von institutionalisierten Hörsituationen (Konzertsaal), sondern spielt auch in der populären Musik eine wichtige Rolle, wie ich an ausgewählten Beispielen zeigen möchte.

 

15.01. Das Telling Sounds-Team: Wiens wilde 70er im Netz der medialen Bezüge

Anhand von audiovisuellen Dokumenten von und über die 1970er Jahre wird das TellingSounds Team Einblicke über seine Forschungsmethode vermitteln. Da 2020 das 50-Jährige Jubiläum des Jahres 1970 gefeiert wird, ist das Jahrzehnt Gegenstand zahlreicher zeitgeschichtlicher Betrachtungen. Die 1970er werden als gesellschaftspolitischer und technologischer Umbruch verstanden: Tatsächlich verortet man in den 1970ern eine letzte Phase des ungetrübten Glaubens in die Technik, und Hoffnung in die Zukunft. In Österreich wird diese Phase mit der Ära Kreisky assoziiert. Wir interessieren uns dafür, ob und wie dieser Umbruch musikalisch in den österreichischen Medien vermittelt wurde. Dies zeigt ein vielschichtiges Geflecht von Bezügen: das Beethoven Jubiläum 1970, der imaginierte Westen durch Rückgriff auf das klassisch-romantische Repertoire, die weiblichen Stimme im Radio und eine sich zögerlich entwickelnde Jugendkultur. Zwischen diesen auf den ersten Blick so unterschiedlichen Themengebieten gibt es dennoch Verbindungen. Diese nicht offensichtlichen Verbindungen wollen wir mithilfe unseres digitalen Forschungstools finden und sichtbar machen.

 

22.01. Alvaro Díaz Rodriguez: The Berlin Philharmonic Digital Concert Hall. New Strategies of Music Knowledge and Conception

Today’s society is immersed in a system in which Information and Communication Technology has been integrated to such an extent that it is impossible to live, work, research and socialize without it. It is essential in all areas of daily life and is part of a global process in which information flows instantly and without geographic boundaries. It allows communication in ways unimaginable just five years ago. Statistics of users world-wide show how the Internet has transformed societies as well as the preferences of users in their gregarious or isolated lives.  
Cyberculture, understood as the link between man and machine, has become a way of communication in everyday life creating new ties and new rituals of coexistence.  In turn, new forms of community integration have been generated, in many cases virtual, thus creating a dichotomy between ideological association and geographic division.
In the music environment, we have observed how this relationship has reconceptualized the way of appropriating this artistic discipline generating new types of knowledge that originate from the actual experience of the listener. This is the case of the Digital Concert Hall of the Berlin Philharmonic Orchestra, which was first announced in 2009. There would be someone who get amazed with the fact that the orchestra with the greatest tradition, discipline and link to world technology would seek to penetrate the world of cyberculture. But having delved deeply into the history of the Philharmonic and its relationship with technology, this was a natural and logical step that could not have been done otherwise.