Vincent Casagrande
Die Einsamkeit oder das Gefühl, verlassen zu werden
In Ariadne auf Naxos findet man – komisch oder tragisch gewendet – die gleiche Wunde der Seele: die Einsamkeit. Im Vergleich der gegensätzlichen Figuren wird dies offensichtlich: Auf der einen Seite haben wir Ariadne, die von Theseus im Stich gelassen wurde, auf der anderen Seite Zerbinetta, die entschieden hat, sich nicht in eine exklusive Liebe einsperren zu lassen. Doch so gegensätzlich ihr Erscheinungsbild, beide Figuren sind letztlich verlassene und sehr einsame Frauen.
In der Oper von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss sieht man zwei Frauenfiguren von höchst gegensätzlicher Natur, die gerade auch durch ihre gegenseitige Überlagerung dramatische Tiefe erhalten. Es ist übrigens diese Überlagerung – der Figuren, aber auch der Genres –, die das Werk einzigartig macht. Die Überlagerung des Genres zwischen Komödie (opera buffa) und Tragödie (opera seria) nutzen Hofmannsthal und Strauss als Verstärker: Ariadnes Verhalten, sich ihrem Schicksal zu beugen, wird durch die Überlagerung des Komischen als überzogen, ja absurd enttarnt.
Im Herzen der Komödie findet sich ein Kern des Tragischen, während die Tragödie nie so erschütternd ist, wie wenn sie sich von der Farce beeinflussen lässt. Und so ist Zerbinetta Ariadnes Antithese: Erstere steht für Vergänglichkeit, letztere für Ewigkeit. Zerbinetta nimmt ihr Schicksal in die Hand und spielt mit Männern und Liebe, während Ariadne als Fatalistin ihr Schicksal erduldet und einem einzigen Mann Treue geschworen hat. Erstere ist die komische Überzeichnung einer sehr menschlichen Figur, letztere eine mythologische Figur, die die Tradition verkörpert.
Strauss und Hofmannsthal bieten uns mit den beiden Frauenfiguren und ihrer unterschiedlichen Haltung zur Liebe eine doppelte, philosophisch tiefe Perspektive, eingekleidet in hörbare Kontraste: Um Treue und Adel in Ariadnes Figur zu repräsentieren, verwendet Strauss in ihrer Arie „Ein Schönes war…“ im Orchester tiefe und schwere Klänge, indem er tiefe Bläser, Harmonium und tiefe Streicher kombiniert. Im Gegenteil dazu schreibt er Zerbinetta in ihrer Arie „Großmächtige Prinzessin“ klare Klänge zu, indem er Klavier und Streichinstrumente kombiniert. Der Ausdruck von Untreue und Leichtsinn als Quelle des Lebens steht dem Moment des Todes entgegen, den Ariadnes Figur verkörpert. Auch in Zerbinettas Stimme hört man diese Leichtigkeit, während Ariadne durch lange Legato-Bögen ihrer Fatalität Nachdruck verleiht.
Aber obwohl sich diese gegensätzlichen Naturen auch in der Musik konkretisieren, verleihen Hofmannsthal und Strauss beiden ein gemeinsames Gefühl: das Gefühl der Einsamkeit.
Dieses Gefühl manifestiert sich bei Ariadne konkret durch ihre physische Isolation auf einer einsamen Insel. Aber vor allem durch ihre Besessenheit, ihre Verzweiflung wiederzubeleben. Sie überlässt sich dem Schicksal. Bei Zerbinetta zeigt sich das Gefühl der Einsamkeit in der Abwesenheit von Illusionen über die Folgen ihres leichtherzigen Verhaltens. Sie sagt es selbst zur Figur des Komponisten: „Ich scheine munter und bin doch traurig, gelte für gesellig und bin doch so einsam.“ Sie traut sich nicht, an die ewige Liebe zu glauben. Und eben das isoliert sie.
Zu den beiden weiblichen Figuren gesellt sich übrigens noch der Komponist. Seine psychologischen Merkmale entsprechen in einem metatheatralen Symmetriespiel denen von Ariadne. Ein Grund dafür ist, dass er der Schöpfer der Ariadne-Figur ist. Auch er ist seinem (künstlerischen) Ideal treu, das er unter keinen Umständen verleugnet und leidet ebenso unter Einsamkeit. Er fühlt sich missverstanden und allein.
Interessant zu bemerken ist freilich, dass jede dieser drei einsamen Figuren sich gegenseitig beeinflussen, sich durch ihre Interaktionen verwandeln. Zwar vereint sie das Gefühl der Einsamkeit, aber vor allem die Verwandlung. Ariadne erlebt die Verwandlung nicht bewusst und nicht als etwas Reales. Symbolisch betrachtet aber begeht sie den Tod ihres alten Lebens. Sie glaubt, dass Bacchus der Tod sei, lässt sich von ihm mitnehmen und gewinnt ein neues Leben zu zweit. Der Komponist lässt sich von Zerbinetta verführen, mit der er das gleiche Gefühl der Verlassenheit teilt. Und schließlich vertraut sich Zerbinetta dem Komponisten im Vorspiel und vor allem Ariadne in der Oper an, indem sie zugibt, Männer genauso zu lieben wie alle anderen Frauen.
Auf diese Art und Weise gelingt es, die verrückte Aufgabe, zwei unterschiedliche Genres zu vermischen, dazu zu nutzen, die Gefühle der beteiligten Figuren zu schärfen: die bitter-süße Einsamkeit und ihre Verwandlung.