Interview des Monats August
Dorothea Oberegelsbacher
geboren 1959 in Schlanders (Italien)
derzeit berufstätig als Psychotherapeutin und Musiktherapeutin in freier Praxis in 1030 Wien, als Assistenzprofessorin für Psychotherapiewissenschaften und als Leiterin des Fachspezifikum Individualpsychologie an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien sowie als Lektorin für Musiktherapie im Bereich Psychosomatik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.
Liebe Thea,
Du bist so jung wie die Musiktherapie. Entschuldige bitte die Frage: "Wie fühlt sich das an?"
Dass die Ausbildung in Wien und ich dasselbe Geburtsjahr haben, finde ich nett. Also, es ist eher ein positives Gefühl.
Wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass Du in Wien Musiktherapie studiert hast?
Ein Jahr vor dem Abitur befasste ich mich intensiv mit meiner Berufs- bzw. Studienwahl. Ich stand zwischen Musik und Medizin, hatte jedoch auch eine geisteswissenschaftliche Neigung. Gleichzeitig wollte ich zum damaligen Zeitpunkt nicht sehr viele Jahre studieren, sondern bald mein eigenes Geld verdienen. In einer Broschüre mit paramedizinischen Berufsausbildungen in Österreich fand ich auf den letzten Seiten einen Kurs in Orff-Musiktherapie am Mozarteum in Salzburg und einen dreijährigen außerordentlichen Hochschullehrgang Musiktherapie an der Musikhochschule in Wien. Das war's! Schmölzens Antwortbrief traf umgehend ein und hat mich in seiner Seriosität und Verbindlichkeit angesprochen. Der Traumstadt Wien war ich zudem aus anderen Gründen zugeneigt. Eine Suche nach einer vergleichbaren italienischen Ausbildungsstätte blieb damals erfolglos. Meine Eltern ermöglichten mir das Studium in Wien.
Wenn Du nicht Musiktherapie studiert hättest – was hättest Du stattdessen getan?
Ich wäre voraussichtlich den langen Weg über das Medizin-und Psychiatriestudium oder Psychologiestudium hin zur Psychotherapie gegangen. Mit 13 Jahren hatte ich den Berufsberater an unserer Schule gefragt, wie man Psychotherapeutin werden könne. Einigermaßen fassungslos erklärte er mir die Mühsal eines vorangehenden Psychologiestudiums, wo man zuerst Experimente mit Ratten lernen müsse, und riet mir davon ab. Vielleicht wäre ich auch Pianistin geworden, wenn mich der unüberhörbare soziale Ruf nicht daran gehindert hätte.
Was bedeutet für Dich "Wiener Schule der Musiktherapie" heute?
Es ist ein seltener und einzigartiger Ort der Ausbildung und Persönlichkeitsentwicklung, in der es letztlich um Musik und die Liebe zu leidenden Menschen geht. Dessen Bedeutung und Entwicklung ist noch immer in Entfaltung begriffen.
Es ist – eine innewohnende Ironie – ein exklusiver Ort, wo einerseits nur ganz Wenige durch limitierte Studienplätze Zutritt bekommen und wo andererseits die Zielrichtung der dort vermittelten Dinge es aber ist, den heilenden Einsatz von Musik und menschlicher Beziehung letztlich inklusiv und emanzipatorisch, also für grundsätzlich a l l e bereitzustellen.
Ganz persönlich freut es mich natürlich, dass der Begriff „Wiener Schule der Musiktherapie“ jetzt wieder ganz offiziell Verwendung findet – das war nicht immer so.
Zu Deiner musiktherapeutischen Arbeit bzw. zu Deinem musiktherapeutischen Handwerk: Gibt es da immer noch etwas, das aus Deiner Ausbildung stammt und sich nie/kaum verändert hat?
Das ist eine schwierige Frage, weil ich mich im Laufe der Jahre weiter entwickelt habe. Aber ja, es gibt sehr viel an meinem musiktherapeutischen Handwerk, das ich nach wie vor gewinnbringend anwende: Eine Person nicht nur anzureden, sondern auch anzuspielen. / Einfaches Tonmaterial wirken lassen, etwa im Einzeltonspiel / Wechselspiele als Basis für musikalischen Dialog / Die freie Gruppenimprovisation / Das frei improvisierende Partnerspiel / Die persönliche musikalische Einstimmung, bevor ich die Patientin, den Patienten sehe u.v.m.
Und umgekehrt: Was aus Deiner Ausbildung hast du schnell verworfen bzw. was hat sich als nicht alltagstauglich innerhalb Deiner Arbeit erwiesen?
Auch eine schwierige Frage. Ich habe das Wenigste verworfen, sondern adaptiert / transformiert. Das gefällt mir besser. Zu dieser Adaptierung gehört vermutlich, dass ich den Wert des Reflektierens, Interpretierens dessen, was hier geschieht durch analytisch-psychotherapeutisches Tun noch mehr abgesichert bzw. verfeinert habe.
Wie ist das in Deiner Ausbildungsgeneration: trifft man sich noch immer, weiß man voneinander oder ist man etwa befreundet?
Ja, unser Jahrgang 1978–1981, wir waren 12 Personen, trifft sich noch immer: früher alle zwei Jahre, dann spätestens alle fünf Jahre. Tagungen sind hierfür eine gute Gelegenheit. Es gibt einen harten Kern von fünf bis sechs Personen. Wir wissen von allen bis auf zweien, wo sie jetzt leben, was sie machen, wie es ihnen geht. Rund die Hälfte des Jahrganges von uns ist/war seit Jahren aktiv in diversen Musiktherapie-Ausbildungen lehrend oder sogar leitend tätig (Sandra Lutz-Hochreutener in Zürich, Tonius Timmermann in Augsburg, Nicola Scheytt-Hölzer in Ulm, Heidi Huber und ich in Wien). Freundschaften und Arbeitsgemeinschaften gehören auch dazu! Es ist erstaunlich, wie prägend und gemeinschaftsstiftend die Wiener Ausbildungszeit doch war.
An welche Anekdote aus Deiner Ausbildungszeit erinnerst Du Dich besonders gerne (oder besonders ungerne)?
Es gibt viele Erinnerungen, sie sind durchwegs sehr persönlich. Angenehm, unangenehm und dazwischen. Hier vielleicht doch eine: Sie stammt aus einer Phase, in der die Wiener Ausbildung noch keine dezidierten musiktherapeutischen Selbsterfahrungsgruppen im Lehrplan hatte, aber aufgrund des allseitigen Bedarfs bereits Selbsterfahrungsgruppen unter der Anleitung von Psychiatern, die auch Psychotherapeuten waren, anbot. Es trug sich also während einer musikalischen Selbsterfahrungsgruppe, geleitet von dem adlerianischen Psychiater Peter Gathmann zu, dass alle Anwesenden in einem wortlosen fröhlichen Treiben Klänge, szenische Darstellungen und recht wirre musikalische Ausdrucksformen hervorbrachten. Dies dauerte nach meinem Geschmack schon viel zu lange, und der Sinn des Ganzen erschloss sich mir nicht. Angewidert von der fröhlichen, kritiklos sich amüsierenden Studiengruppe, erhob ich mich und schrieb mit einer Kreide auf die Tafel: „Ach wie gut funktionieren wir doch“. Niemand schien davon Notiz zu nehmen. Nach einiger Zeit erhob sich Gathmann, ging zur Tafel und machte sich mit der Kreide an meinem Satz zu schaffen: „Ach wie gut, funktionieren wir doch!“
Zurückblickend, wie denkst Du heute über Deine Musiktherapie-Ausbildung in Wien? Würdest Du sie noch einmal absolvieren? Oder würdest Du sogar Deinen Kinder zu dieser Ausbildung raten, wenn sie Dich fragen würden?
Ich bin mit der Musiktherapie-Ausbildung, welche ich in Wien in Anspruch nehmen durfte – ohne jegliche Studiengebühren – rückblickend zufrieden. Es gab neben klinisch-wissenschaftlichen Fächern und musiktherapeutischen Praxisseminaren vor allem sorgfältig eingerichtete Praktika mit musiktherapeutischer Live-Supervision. Vermittelt bekam ich ein solides Startpaket für erste berufliche Erfahrungen, vielfältige menschliche Vorbilder und darüberhinaus ein Konzentrat an Kenntnissen, welche ich in meinen nachfolgenden Ausbildungen (Psychologie und Psychotherapie) und Tätigkeiten (Krankenbehandlung, Lehre und Wissenschaft an zwei universitären Therapieausbildungen) entfalten konnte. Viel Gutes ist zwischenzeitlich in der Ausbildung noch dazugekommen.
Die Musiktherapie-Ausbildung kann ich jenen empfehlen, die einen starken Ruf nach der Nutzbarmachung von Kunst, insbesondere der Musik verspüren, um Menschen zu helfen, die Angst bzw. Leiden haben und deren basale menschliche Bedürfnisse im Bereich Beziehung unerfüllt blieben.
Wie lauten Deine Wünsche an das Geburtstagskind "Musiktherapie-Ausbildung in Wien"?
Die Musiktherapie-Ausbildung in Wien möge hochleben und noch viele weitere Jahre einen festen Platz im Ausbildungsangebot der mdw einnehmen.
Das Geburtstagskind möge darauf vertrauen, dass dereinst der Beruf, zu dem sie qualifiziert, auch eine angemessene Finanzierung durch die Krankenkassen erhalten wird.
Es möge versuchen, auch den salutogenetischen Wert der präventiven Musiktherapie in Schulen, Arbeitsstätten und Gesellschaft zu erforschen.
Es möge das Musikalische an der Musiktherapie weiterhin sorgfältig pflegen.