Joint Meeting der ICTM Study Groups on Music and Minorities und Music and Gender an der mdw
Study Groups sind kleinere, thematisch verbundene Organisationseinheiten innerhalb der größten internationalen ethnomusikologischen Gesellschaft ICTM, International Council for Traditional Music
(ictmusic.org). Diese Study Groups führen ein Eigenleben, manchmal sehr aktiv, manchmal weniger. Konferenzen werden alle zwei Jahre an unterschiedlichen Orten der Welt abgehalten. Gemeinsam mit Svanibor Pettan (Slowenien) habe ich vor 20 Jahren eine davon gegründet: die Study Group on Music and Minorities. Sie zählt heute etwa 250 Mitglieder und kann insofern auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken, als das Thema „Minderheiten in der Ethnomusikologie“ zu einem zentralen Thema im internationalen Diskurs wurde.
©IVE Yoder
Die Ethnomusikologie beschäftigt sich mit Musik im sozialen Zusammenhang, ihrem Gebrauch von Gemeinschaften/Individuen sowie der Bedeutung, die Musik für diese Personen hat. Das Fach umfasst alle Musiken der Welt – die nordindische Kunstmusik genauso wie die Musik der Burgenlandkroat_innen. Wichtigste Methode der Ethnomusikologie ist die Feldforschung, die im empirischen Bereich die Grundlage für wissenschaftliche Ergebnisse darstellt. In der Feldforschung, die entweder dokumentarisch oder explorativ ausgerichtet ist, werden Ton- oder Videodokumente erstellt. Deren Interpretation ermöglicht eine umfassende Betrachtung von Musikkulturen.
Die Entscheidung, sich in diesem fachlichen Zusammenhang mit marginalisierten Gruppen zu beschäftigen, verbindet die Mitglieder der Study Group on Music and Minorities. Dabei ist es wichtig, einen Konsens darüber zu finden, wie Minderheit definiert wird, deshalb ist die Minderheiten-Definition ein zentrales Diskussionsthema seit der Gründung dieser Study Group. Die derzeit gültige Definition lautet folgendermaßen: „Minorities are groups of people distinguishable from the dominantgroup for cultural, ethnic, social, religious, or economic reasons.“ (ictmusic.org/group/music-and-minorities)
Beim diesjährigen Symposium (23.– 30. 7. 2018) wurde diese Definition wieder diskutiert und es scheint sich eine Neuformulierung anzubahnen. Es sollen nach Meinung vieler Mitglieder vor allem indigene Gruppen und Migrant_innen sowie behinderte Menschen und die LGBT-Community explizit genannt werden, die ohnehin immer wieder Thema von Präsentationen im Rahmen der Study Group waren. Es geht oft um Machtverhältnisse und um das relationale Verhältnis zur Mehrheit, zur Dominanzgesellschaft. Die Forschungen sind oft mit gesellschaftspolitischem Engagement verbunden und die internationale Vernetzung ist unabdingbar, da die unterschiedlichen politischen Verhältnisse in der Welt auch sehr verschiedene Ausgangsbedingungen für Minderheiten schaffen. Der ICTM bietet den idealen Rahmen für den internationalen Austausch, und Symposien wie das genannte sind ein wesentliches Mittel zur erfolgreichen wissenschaftlichen Kooperation. Beim diesjährigen Symposium in Wien wurden die Kräfte mit einer anderen ICTM Study Group gebündelt, die ebenfalls gesellschaftspolitische Anliegen hat: Music and Gender. Die Gemeinsamkeiten schlugen sich u. a. in einem ganzen Block von „shared themes“ nieder, die jeweils beide Aspekte, nämlich Gender und Minderheiten zum Thema hatten (das genaue Programm finden Sie unter mdw.ac.at/ive).
Die angeregten, auch kontroversen Diskussionen und der persönliche Austausch trugen dazu bei, neue Denkräume zu öffnen und neue Formen der Kooperation auszuloten. Das Symposium ist sehr erfolgreich zu Ende gegangen, die Eckdaten sprechen für sich: 70 aktive Teilnehmer_innen (Vortragende und Chairs) und zusätzlich etwa 60 Zuhörer_innen aus 39 Ländern und sechs Kontinenten. Dies ist selbst für eine ICTM-Veranstaltung erstaunlich und spricht für die Attraktivität der Themen sowie des Veranstaltungsortes. Die Symposien des IVE an der mdw haben in der ethnomusikologischen Community weltweit den Ruf, hervorragend organisiert und vergnüglich zu sein, und die Attraktionen der Stadt Wien vergrößern die Anziehungskraft.
Ein wichtiger Ausgangspunkt für die internationale Minderheitenforschung in der Ethnomusikologie war der Minderheitenschwerpunkt am Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie der mdw. Er wurde 1990 aufgrund der vom FWF finanzierten Forschungsprojekte zu Roma und Burgenlandkroat_innen eingerichtet und begann, sich zunehmend an politisch brisanten Themen zu orientieren. Insbesondere die Romaforschung war eine Triebfeder zur internationalen Vernetzung, denn erstens war ich in Österreichs Ethnomusikologie allein mit dem Thema und zweitens leben Roma auf der ganzen Welt als Minderheit. In der weiteren Entwicklung reagierte der Minderheitenschwerpunkt jeweils auf politische Ereignisse: Die Musik der bosnischen Flüchtlinge wurde zum Thema, als durch den Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien etwa 100.000 bosnische Flüchtlinge in Österreich ihre neue Heimat suchten, die steirischen Slowen_innen, als es um die Anerkennung als Volksgruppe ging. Bei diesen Projekten waren bereits Angehörige der Gruppen selbst als Forscher_innen in die Projektarbeit einbezogen, was bis heute ein Grundprinzip darstellt. Der urbane Raum erforderte als Forschungsfeld ab 2003 viele Neudefinitionen von Fragestellungen und Methoden, was eine wesentliche Weiterentwicklung darstellte. Ab 2016 sind es Projekte zur musikalischen Identifikation jugendlicher Geflüchteter, die sich mittlerweile zu einem Schwerpunkt im Bereich Musik aus Afghanistan entwickelt haben und vor dem Hintergrund der derzeitigen fremdenfeindlichen und islamophoben politischen Debatten zu sehen sind. Die theoretischen Grundlagen haben sich weiterentwickelt.Genderstudies und Postcolonial Studies gewinnen an Einfluss ebenso wie die Diskurse zur Transkulturalität.
Der Transkulturalitäts-Schwerpunkt als universitätspolitische Strategie der mdw wurde vom Minderheitenschwerpunkt inspiriert, jedoch ist der Transkulturalitäts-Diskurs bildungspolitisch weiter gefasst. Er wurde nun über vier Jahre in einer interdisziplinären Ringvorlesung mit internationalen Wissenschaftler_innen und Künstler_innen geführt. Ergebnisse dieses Diskurses werden in Form einer Publikation am 7. November der Öffentlichkeit vorgestellt (siehe Tipp).
Die Minderheitenforschung in ihrer modernen Ausrichtung wird an der mdw weiterhin der Ethnomusikologie zugeordnet bleiben, wenn auch durch die Transkulturalität wesentliche interdisziplinäre Anregungen eingeflossen sind. Durch das internationale ICTM-Symposium hat die Forschung weitere Impulse erhalten, die der Weiterentwicklung des Themas, aber auch der gesellschaftspolitischen und universitätspolitischen Anwendung dienen.
Veranstaltungstipp
Mi, 7. November 2018, 17.00 Uhr
Transkulturelle Erkundungen
Wissenschaftlich-künstlerische Perspektiven
Buchpräsentation mit wissenschaftlichen und künstlerischen Beiträgen
Joseph Haydn-Saal
Anton-von-Webern-Platz 1, 1030 Wien