Mit einem Klangexperiment der besonderen Art beweist Wien Modern in Kooperation mit der mdw heuer unter dem Festival-Motto „Die letzten Fragen: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? und wo zum Teufel sind wir hier überhaupt?“ einmal mehr Mut zu Ungewöhnlichem.
Dmitri Schostakowitsch (1906 – 1975) gilt als einer der produktivsten und vielseitigsten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Im Alter von nur 19 Jahren wurde er mit der Komposition
seiner ersten Sinfonie weltweit bekannt. Im Laufe seines Lebens komponierte er insgesamt 15 Sinfonien und 15 Streichquartette sowie zahlreiche Werke für vielfältige Genres wie Film, Chor oder Bühne. Im Rahmen von Wien Modern werden seine 15 Streichquartette heuer erstmals simultan in einem Konzertsaal aufgeführt. Unter der neuen künstlerischen Leitung von Bernhard Günther wagt das Festival für Musik der Gegenwart einen Versuch, der an die gar nicht so kurze Tradition der musikalischen Collage anknüpft: Schon der junge Joseph Haydn rief 1753 andere Musiker dazu auf, sich am Tiefen Graben in Wien zu treffen, zu verteilen und jeweils das zu spielen, worauf sie gerade Lust hatten. ¹
15 Streichquartettensembles, darunter fünf von der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, werden gleichzeitig die 15 Schostakowitsch-Quartette im großen Saal des Konzerthauses Wien aufführen, manchmal synchron, dann wieder einzeln. Die Dramaturgie des Konzerts zielt auf ein abwechslungsreiches Hörerlebnis für das Publikum, das sich (möglichst leise) durch den von Sesseln befreiten Konzertsaal bewegen kann. Der von Bernhard Günther entwickelte Zeitplan der Einsätze wird im Vorfeld einstudiert, die jeweiligen Interpretationen der Quartette sind aber komplett frei und kein Dirigent wird das Konzert leiten.
Johannes Meissl vom Joseph Haydn Institut für Kammermusik, Alte Musik und Neue Musik wählte fünf Ensembles der mdw aus, die an diesem spannenden Vorhaben teilnehmen: „Als Bernhard Günther mir von dem Projekt erzählt hat, war ich gleich fasziniert von der Idee. Ästhetisch gesehen, ist diese ‚Soundcloud‘ für mich eine radikale Fortschreibung von Gustav Mahler und Charles Ives.“ Haydns Aufruf kann also durchaus als Vorwegnahme dessen gesehen werden, was später u. a. Charles Ives mit seinen Collagen wollte. „Das Simultane, Mehrschichtige kennt man ja aus dem Alltag, aber auch als eine von vielen ästhetischen Strategien der Neuen Musik hat das eine lange Tradition“, so Günther. „Bei der Auswahl der Ensembles ging es nicht nur um eine starke Schostakowitsch-Interpretation, sondern auch um die richtige Konzentration und Coolness, die man für die viel ‚zeitgenössischere‘ Dichte und Gleichzeitigkeit in dieser Situation mit 14 anderen Quartetten im selben Saal braucht. Während einige so weit wie möglich voneinander entfernt positioniert werden, sitzen einzelne Quartette doch Rücken an Rücken“, so der Festival-Leiter. Räumliches und musikalisches Zentrum der Aufführung ist das letzte und längste Streichquartett, interpretiert von dem seit 1974 bestehenden Arditti Quartet, das seit der Festival-Gründung vor 29 Jahren nahezu in jedem Jahr bei Wien Modern zu hören war. Gleich daneben sitzt das New Yorker JACK Quartet mit dem 14. Streichquartett, dazu kommen je drei Quartette des Ensemble Resonanz aus Hamburg und des Solistenensemble Kaleidoskop aus Berlin. In die Auswahl der fünf Quartette der mdw habe man sich nicht eingemischt und vollstes Vertrauen in Johannes Meissl gesetzt. Neben international bereits erfolgreichen Ensembles wie dem Giocoso Quartett, das bei der Melbourne International Chamber Music Competition 2015 mehrfach ausgezeichnet wurde, dem ebenso aufstrebenden Adamas Quartett und dem Quatuor Akilone aus Paris, Gewinner des Bordeaux-Wettbewerbs 2016, werden auch das Doreen Quartett und das Atalante Quartett von der mdw gestellt. „Das wird nicht nur eine neue Hörerfahrung für das Publikum, sondern auch eine ganz neue Spielerfahrung für die beteiligten Ensembles“, betont auch Johannes Meissl. Zudem sind zwei von der MUK (Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien) gestellte Quartette an der Aufführung beteiligt. „Neben ‚solistischen‘ Momenten, in denen im gesamten Saal nur ein einziges Quartett zu hören sein wird, wird es auch Passagen geben, in denen man – je nach Position im Saal – ein Quartett in der Nähe sehr deutlich und andere aus der Ferne hören wird, sowie dichte Augenblicke der Gleichzeitigkeit, in denen der ganze Saal von spielenden Streichquartetten erfüllt sein wird“, so Günther im Gespräch.
Dmitri Schostakowitsch zählt für den neuen künstlerischen Leiter zu den Referenzpunkten der Quartettliteratur des 20. Jahrhunderts: „Ob man seine Musik nun mag oder nicht – seine Quartette spielen im Repertoire zahlreicher Häuser und Ensembles eine prominentere Rolle als die meisten anderen aus dieser Zeit. Manche werden sich fragen, warum man das dann auch bei Wien Modern zu hören bekommt, und nicht wenigen ist Schostakowitsch sicher nicht zeitgenössisch genug – aber diese neue Art der Auseinandersetzung ist es allemal. Die Werke zeichnen sich durch eine gewisse Robustheit aus, enthalten beispielsweise lange Passagen mit Repetitionen, markante Soli, hochdramatische Fortissimo-Ausbrüche, einen inhärenten Hochdruck – mit sehr fragilen, komplexen, introvertierten Kompositionen permanent am Rande der Stille, um ein extremes Gegenbeispiel zu nennen, läge diese Art von Experiment für mich viel weniger auf der Hand.“ Denn gerade die Tatsache, dass Schostakowitsch in seinen Quartetten ständig mit existenziellen Fragen zu ringen scheint, war ausschlaggebend für die Idee zu dieser Simultanaufführung. „In diesem fast privaten Genre der Streichquartette stand er weniger unter der Beobachtung des Staatsapparats und der Zensur, als bei seinen Sinfonien, die immer etwas stärker Repräsentatives hatten“, so Günther. Heuer stehen besonders viele Streichquartette auf dem Festival-Programm. Ausgehend von den „letzten Fragen“ konzentriert man sich in diesem Jahr verstärkt auf dieses intime Genre. Insgesamt sind 19 verschiedene Streichquartett-Ensembles im Festival-Programm vertreten, neben Schostakowitsch gelangen u. a. auch alle Streichquartette von Arnold Schönberg und Harrison Birtwistle zur Aufführung.
In den Vorbereitungen auf den 11. November 2016 gehe es für die Ensembles vor allem darum, eine autonome Interpretation der jeweiligen Quartette umzusetzen. Innerhalb eines Konzertabends wird ein Querschnitt durch vier ereignisreiche Jahrzehnte im Leben Schostakowitschs – von 1938 bis 1974 – gezogen. „Die ZuschauerInnen sind eingeladen, sich visuell und auditiv ganz auf dieses Gesamtklang-Event einzulassen“, freut sich Meissl auf diesen außergewöhnlichen Abend.
¹ Neuwirth, Olga. Neuwirth über Haydn. Erschienen im profil 14/09
masennus
Donnerstag, der 16. Februar 2017 at 05:44
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