Von 1945 bis zu seinem Tode im Jahr 1973 unterrichtete der Musiktheoretiker Erwin Ratz Formenlehre (später Grundlagen der musikalischen Analyse bzw. Analyse der Beethoven-Quartette und -Sonaten) an der Akademie beziehungsweise Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien, der heutigen mdw. 1957 wurde ihm der Professorentitel verliehen.
Der Schüler von Guido Adler, Arnold Schönberg und Anton von Webern, der maßgeblich zum Verständnis der Neuen Musik mit der Mitbegründung des Vereins für musikalische Privataufführungen beitrug, prägte Generationen von DirigentInnen und KomponistInnen. Internationale Anerkennung fand insbesondere sein unermüdliches Engagement im Rahmen der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft, dem wir die Veröffentlichung der kritischen Gesamtausgabe der Werke Gustav Mahlers verdanken. Erwin Ratz erlangte aber nicht nur in seinem Fach nachhaltige Bedeutung. Gemeinsam mit seiner Frau Leonie (Lonny) zeigte er zur Zeit des Holocausts außerordentliche Zivilcourage.
Während der Naziherrschaft hielt Erwin Ratz jüdische MitbürgerInnen in seiner kleinen Wohnung im 3. Wiener Gemeindebezirk versteckt und bewahrte sie dadurch vor Deportation und Ermordung. Unter ihnen befand sich der Berliner Hans Buchwald, den Lonny Ratz 1943 auf abenteuerliche Weise nach Wien lotste, wo ihn Erwin Ratz bis zum Kriegsende erfolgreich verstecken konnte. Am 25. November 2014 beschloss die Kommission von Yad Vashem in Jerusalem, der nationalen Gedenkstätte für die sechs Millionen im Holocaust ermordeten Jüdinnen und Juden, Erwin und Lonny Ratz als „Gerechte unter den Völkern“ anzuerkennen.
In Rahmen eines Festaktes der Israelischen Botschaft im Wiener Rathaus verlieh Botschafterin Talya Lador-Fresher am 29. März 2016 die Ehrung von Erwin und Lonny Ratz als „Gerechte unter den Völkern“ in Anwesenheit von VertreterInnen der Familie, der Wiener Landesregierung, der mdw und von Yad Vashem.
Stadträtin Sonja Wehsely betonte: „Überall dort, wo die Gleichheit und die Würde der Menschen auch nur ein klein wenig angezweifelt wird, braucht es einen lauten Aufschrei. Damit wir uns eben nicht an die Unmenschlichkeit gewöhnen. Genauso wie sich Erwin und Lonny Ratz nicht an sie gewöhnt haben. Ihr Erbe weiter zu tragen, ihrer zu erinnern und ihre Taten zu würdigen, ist Aufgabe für die Zukunft.“ Katharina Maróthy-Ratz, Enkelin von Erwin Ratz, berichtete in ihrer berührenden Dankesrede, dass innerhalb der Familie des Öfteren festgestellt wurde, dass es damals leider zu Wenige waren, die diesen Mut aufgebracht haben.
Unsere Universität darf sich glücklich schätzen, mit Professor Erwin Ratz eine Persönlichkeit von solch vorbildlicher menschlicher Größe unter ihren Lehrenden gehabt zu haben.