Ursula Hemetek vom Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie der mdw beleuchtet für das mdw-Magazin die Bedeutung des Singens: Anhand einiger Thesen zeigt Sie auf, warum wir alle − am besten sofort − mit dem Singen anfangen sollten.

Sängergruppe in Sardinien
Sängergruppe in Sardinien im Rahmen einer Feldforschung zur Mehrstimmigkeit ©Ardian Ahmedaja

In der Ethnomusikologie/Volksmusikforschung hat man es zentral mit dem Singen als kulturelle Ausdrucksform zu tun. Man erfährt in jeder Feldforschung, dass Menschen singen, sogar in einer Zeit, in der immer mehr unterschiedlichste Medien das zu ersetzen scheinen, was als primäre musikalische Ausdrucksform des Menschen – egal in welchem Kulturkreis −
gelten kann.

These 1: Singen ist gesund

„Bewiesener Maßen sind singende Menschen im Durchschnitt signifikant physisch gesünder als nicht singende Menschen“1. Dieser Satz entstammt einer Diplomarbeit am Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie. Die Autorin Katharina Einsiedl belegt die Behauptung durch Zitate aus der einschlägigen Literatur und führt die positiven Wirkungen des Singens auf das Immunsystem, die Hirnfunktionen oder die emotionale Verfassung vor Augen. Es geht um den Vorgang des Singens an sich. Der Ansatz ist stimmig und die Auffassung wird wohl von Menschen, die die Erfahrung des Singens teilen, bestätigt werden.

These 2: Singen strukturiert das Leben

Singende Menschen Trentinern
Singende Menschen im Rahmen einer Feldforschung zu Trentinern in Vorarlberg ©Paolo Vinati

In der Volksmusikforschung und Ethnomusikologie spielt Vokalmusik eine ganz wesentliche Rolle, weil Singen den Körper als Instrument benutzt und es dadurch eine sehr direkte persönliche musikalische Ausdrucksform darstellt, die allen Menschen ab dem Kleinkindalter möglich ist. Die Wissenschaft betrachtet Musik im sozialen Zusammenhang. Dabei spielen Bräuche und Handlungen − kollektiv oder individuell − die den Lebensweg oder den Jahresablauf begleiten eine wichtige Rolle. Wir begegnen dabei Liedern oder anderen vokalen Ausdrucksformen in großer Zahl und Vielfalt: Geburt, Hochzeit und Tod wird vom Singen begleitet und Feste wie Weihnachten sind ohne Weihnachtslieder kaum denkbar. Singen ist essenzieller Bestandteil von Bräuchen und weltweit singen Mütter ihre Kinder in den Schlaf, natürlich mit unterschiedlichem Repertoire. Singen kann auch zum „Lebensmittel“ werden, zum Beispiel für geflüchtete Menschen, die sich durch Singen neu verorten.

These 3: Singen erleichtert das Lernen

Viele Instrumentalmusikformen der Welt gehen in ihrer Vermittlung vom Singen aus. So wird beispielsweise in der Tradition des Sitar-Unterrichts in der nordindischen klassischen Musik zunächst gesungen. SchülerInnen müssen die Gestaltungsprinzipien der Musik (Raga-System) zunächst singend erfassen, bevor sie sie auf das Instrument übertragen dürfen. Das kann je nach Fortschritt bis zu einem Jahr dauern. Durch diese Art des Lernens verfestigen sich Inhalte wesentlich besser. Dies ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn es um Musiken geht, die nicht über Notation funktionieren übrigens die Mehrzahl aller Musiken der Welt − sondern in denen das Gedächtnis als Speicher fungiert, aus dem beim Musizieren alles abgerufen wird.

These 4: Singen ist wirkmächtig

Sevko Pekmezovic
Ševko Pekmezović, traditioneller Sänger, 1992 geflüchtet aus Bosnien nach Österreich ©Rudolf Pietsch

Politische und religiöse Machthaber der Welt setzen gerne das Singen als politisch-strategisches Mittel – insbesondere bei Massenveranstaltungen − ein. Der emotionalen Wirkung, die das gemeinsame Singen mit einer größeren Anzahl von Menschen hat, kann man sich kaum entziehen. Nationalhymnen spielen naturgemäß im Zusammenhang mit politischer Machtdemonstration eine wichtige Rolle. Aber auch auf der Seite des Widerstands gegen politische Machtapparate macht man sich die Wirkung des Singens zunutze. Die sogenannte „singende Revolution“ im Baltikum im Jahr 1991 als letztendlich erfolgreicher Widerstand gegen die Sowjetherrschaft kann als eines von vielen Beispielen gelten.

Die letzte These zeigt sehr deutlich, dass es nicht egal ist, was gesungen wird. Die Sprache und die musikalische Struktur können zu Symbolen werden, die für Nationen, politische Haltungen, religiöse Inhalte stehen, die im Einklang mit der Macht stehen oder gegen sie wirken. Deshalb ist Achtsamkeit und Reflexion geboten, was das Repertoire betrifft. Für das Singen sollte man trotzdem plädieren, ob allein oder gemeinsam, spontan oder angeleitet, im Unterricht oder im Privaten und ganz besonders an der mdw, denn, wie es schon bei Georg Philipp Telemann (1681-1767) heißt, „Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen“.

1 Einsiedl, Katharina. 2013. Von der Bedeutung des Volksliedersingens im Alltag. Diplomarbeit an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. S.19

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