Fotogalerie: „In Wahrheit ist’s ne Lüge“ feiert am 17. Mai 2017 Premiere im Schlosstheater Schönbrunn.
Das Theaterlied hat Tradition. Nicht nur, aber ganz besonders in Wien, Nestroy sei Dank. Der Theaterbetrieb fordert heute immer stärker singende SchauspielerInnen.
Entsprechend ist die musikalische Ausbildung am Max Reinhardt Seminar neben Rollenunterricht, Sprachgestaltung und Körperunterricht die vierte Säule der Schauspielausbildung. In sieben Semestern wird die Stimmbildung/der Gesangsunterricht angeboten, was in enger Zusammenarbeit mit Sprech- und Körperunterricht die Basis für die stimmliche Funktionalität und Vielseitigkeit der angehenden SchauspielerInnen schafft. Die künstlerisch-musikalische Ausbildung sieht im zweiten Ausbildungsjahr Liedinterpretation im Einzelunterricht vor, was im dritten Jahr in einen musikalisch-szenischen Abend mündet.
Im Zentrum steht das Erarbeiten der Fähigkeit, selbstständig Lieder zu interpretieren. Daneben gibt es viele Inhalte, die Schauspielerin/den Schauspieler fächerübergreifend bei ihrem/ seinem Beruf unterstützen können. Das soll anhand einer exemplarischen Lied-Erarbeitung gezeigt werden:
Geschichtenerzählen ist unsere erste Aufgabe. Daher steht der Text am Anfang der Auseinandersetzung. Er wird wie im Rollenunterricht zerlegt, wieder zusammengesetzt, geknetet und durchgekaut, bis sein Inhalt sich beim Sprechen ganz natürlich entfaltet. Das ist ein intellektueller, aber auch ein assoziativer, intuitiver Prozess.
Dann hören die Studierenden die Musik, hören ihre eigene Erzählung aus Stimmungen, Klangfarben, Spannungen, Rhythmen. Das steht oft scheinbar im Gegensatz zum Text, und im Zusammenfügen von Sprache und Musik baut sich das Spannungsfeld auf, das diese Arbeit so besonders macht: Denn Musik und Text haben ihren eigenen Rhythmus, ihre eigene Melodie, und ringen darum, gehört zu werden. Gewinnt die Musik, tritt der Inhalt zugunsten des überhöhten Ganzen zurück. Sind Textrhythmus und -melodie hörbar, wird die Erzählung geerdet und unmittelbar.
Ein fließendes Gleiten zwischen Text- und Melodierhythmus, zwischen Sprach- und Liedmelodie lässt aus einem Musikstück mit Inhalt eine durch Musik erhöhte Erzählung werden. Diese Umkehrung der Vorzeichen ist essenziell und erlaubt den SchauspielerInnen, eine Interpretation zu finden, die auf ihren Qualitäten aufbaut, aber die unterschiedlichen musikalischen Begabungen in den Hintergrund rückt.
Das ist freilich oft auch der schwierigste Teil: Aus dem Liedrhythmus in den freien Prosarhythmus zu wechseln scheint manchmal wie der Versuch, mit dem Rennrad wieder aus den Straßenbahnschienen herauszukommen, in die man versehentlich hineingeraten ist. Wenn man denn endlich den Rhythmus gefunden hat. Der ist ja oft ein Stiefkind. Rhythmische Souveränität heißt: Den Beat in den Körper aufnehmen und nicht mehr loslassen. Den Groove, die Impulsantwort des Körpers auf einen Rhythmus, spüren und nicht mehr loslassen. Und darüber die rhythmischen Motive der Melodie, des Textes legen.
Grundvoraussetzung ist das, was ich als das größte Abenteuer dieser Arbeit empfinde: das Zuhören. Zuhören ist Kontrastprogramm zu der Welt, in der wir leben und die die Studierenden bestimmt: von einem Unterricht zum nächsten hetzen, gestalten wollen, Persönlichkeit zeigen, weiterkommen…
Wer zuhört, ist im Hier und Jetzt. Nicht eine Zehntelsekunde davor oder schon beim nächsten Satz. Hören heißt fließen. Dieser Flow ist ungewohnt, instabil, bedeutet loslassen, springen, Kontrollverlust, Hingabe. Zuhören ist das Wichtigste.
Als ZuhörerInnen gehen wir auf die Bühne, um etwas zu erleben. Wollen sie etwas vermitteln, schiebt sich die Absicht wie eine Glaswand zwischen sie und den Moment. Aber ist es nicht paradox, etwas erleben zu wollen, von dem man weiß, dass es passiert, und weitgehend, wie es passiert?
Musik ist hervorragend dafür geeignet, sich in dem Paradox zu üben: Etwas – passiv – zu erleben, was man selber – aktiv – tut, ohne dabei zur distanzierten Beobachterin/zum distanzierten Beobachter zu werden. Weil das seelische, emotionale Erleben von Musik so stark und unmittelbar ist. Gestalten ist vorher. Auf der Bühne ist erleben. Trainiert wird das mit dem SaReGaMaPa der indischen Musik, das in den Grundelementen einfach zu begreifen ist und auf ganz besondere Weise das Ohr und das Gemüt schult.
Natürlich gibt es auch viele musikalische Aspekte zu klären, Phrasierung, Atembögen, Dynamik. Aber zu diesem Zeitpunkt klärt sich vieles schon aus der bisher geleisteten Arbeit. Die Verknüpfung mit der Person der Schauspielerin/ des Schauspielers ist der nächste Schritt. Um den ureigenen Blick der Studierdenden auf die Themen des Liedes klar wahrnehmen zu können, kommen Entspannungs- und Imaginationstechniken angelehnt an autogenes Training und Focusing zum Einsatz. Hier findet man einen authentischen, direkten, persönlichen, vielleicht archetypischen Zugang, der seine Kraft aus ganz anderen Quellen speist als die Arbeit zuvor.
Und dann beginnt die szenische Arbeit…
Im Fach Musikalische Rollengestaltung wird dieser Prozess zur Gruppenarbeit erweitert. Chorproben mit viel rhythmischer Trancearbeit erschaffen das „viel mehr als seine Einzelteile“ des Theaters, das Ensemble, als Resonanzverstärker des Sinns, der aus Kontextualisierung entsteht: Themen, die uns und unsere Zeit bewegen, bilden die Nährlösung, aus der Liedperformance und Szenen entstehen, auch wenn sie thematisch scheinbar nichts gemeinsam haben. Formal schaffen diese Themen Struktur und Reibung: Im letzten Jahr führten uns Flüchtlingsstrom und rührende Ordnungsversuche zum Thema Entropie, formal zum Wechselspiel von Chaos und Ordnung. Dieses Jahr wenden wir uns mit In Wahrheit ist’s ne Lüge der Unfassbarkeit von Information im Informationszeitalter zu. Aber all das tritt zurück, wird Rahmen und Hintergrund für den Schauspieler und die Schauspielerin, die dann auf die Bühne kommen und singen: „Die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang, lang, lang, lang.“
- Alle Infos zur aktuellen Produktion sowie die Aufführungstermine finden Sie auf der Website des Max Reinhardt Seminars.