Florian Reiners, Professor für Sprachgestaltung und Mitglied des Leitungsteams des Max Reinhardt Seminars, sprach vor ihrem Besuch in Wien mit Mel Churcher über die Bedeutung von Film- und Kameratrainings, veränderte Bedingungen für SchauspielerInnen heute sowie ihre Meinung zum österreichischen Film.
Florian Reiners (FR): Warum halten Sie es für wichtig, dass Schauspielstudierende ein Filmtraining absolvieren?
Mel Churcher (MC): Die meisten SchauspielerInnen arbeiten heutzutage sowohl auf der Bühne als auch vor der Kamera. Manche entscheiden sich dagegen, aber die meisten genießen diese Kombination. Ich glaube, dass sich die beiden Genres gegenseitig bereichern und dass die im Film notwendige feine Detailarbeit auch fürs Theater ein tolles Lehrmittel ist. Im Vorwort meines letzten Buches schreibt Jeremy Irons, dass man vor der Kamera nicht so tun kann „als ob“. Du fliegst immer auf. Die „psychische Linse“, wie sie Martin Scorsese nennt, sieht, ob du tatsächlich zuhörst oder denkst. Beides solltest du auch auf der Bühne.
Ausgebildete TheaterschauspielerInnen haben alle Grundbausteine intus; sie verstehen es, eine Rolle vorzubereiten und die eigene Vorstellungskraft anzuwenden. Aber zwischen den beiden Medien gibt es viele Unterschiede. Folgende bezeichne ich als „die großen drei“:
Erstens, am Theater gibt es ein Publikum. Aber wenn man für die Leinwand arbeitet, gibt es KEINES. Klingt vordergründig selbstverständlich, aber die Konsequenzen sind sehr subtil. Von Anfang an lernen wir spielen, improvisieren und den dramatischen Text vor Publikum zu gestalten. Wenn wir erstmals vor der Kamera einen Text sprechen, versuchen wir instinktiv, „für“ jemanden zu spielen. Aber hier gibt es niemanden, abgesehen von den Menschen, die unsere imaginäre Welt bevölkern – gedreht wird ja ohne Publikum. Aber wir brauchen die kommunikative Energie innerhalb jener privaten Welt. Wir müssen uns nicht „klein“ machen oder weniger tun, als wir im Leben tun würden, und wir brauchen auch nicht das kleine bisschen Extra, um über die Bühnenrampe hinweg beim Publikum anzukommen. Die Kamera ist kein Publikum – sie ist eine intime Beobachterin. Die Crew ist auch kein Publikum. Wir existieren rein im imaginären alternativen Leben des Stücks – wie wir es als Kinder in unseren Spielen taten, oder manchmal in einer wunderbaren Probe tun, bevor das Publikum dazukommt.
Was uns zum zweiten großen Unterschied bringt: Im TV und im Film gibt es KEINE Proben (oder kaum welche). Am Theater gibt es wochenlang Proben, bei Anwesenheit aller SchauspielerInnen und der Regie. In der TV- oder Filmarbeit, ist man um acht Uhr früh am Set, und um zehn spielt man eine Liebesszene mit jemandem, den man gar nicht kennt. (Die Zeit dazwischen beanspruchen Maske und Kostümabteilung.) Irgendwie muss man sich alleine vorbereiten und trotzdem mit der Welt vertraut sein, von der man umgeben sein wird: SchauspielerInnen müssen Beziehungen erforschen; die Motivationen und Mechanismen hinter ihren Rollen verstehen; die Einzeldetails in den Leben ihrer Figuren ausfüllen – und sich trotzdem nie auf eine „Spielweise“ festlegen, nie wissen, wie sie es spielen oder sagen werden, und bereit sein, bei Erhalt einer veränderten Spielanweisung etwas hinzuzufügen oder abzuändern und sofort die bisher fremden SchauspielerInnen uneingeschränkt anzunehmen als die Menschen, die diese neue Welt bewohnen.
Drittens: Alles findet in umgekehrter Reihenfolge statt, und jede Szene wird mehrmals wiederholt. Dreharbeiten sind nicht linear: Deinen Liebhaber begräbst du, bevor du ihn geheiratet hast; den Krieg verlierst du, bevor du überhaupt in den Krieg gezogen bist; und mit dem gefundenen Gold kaufst du etwas, bevor du das Gold überhaupt gefunden hast. In jedem Moment darfst du nur das wissen, was man gerade macht; was die Zukunft der Figur mit sich bringt, darfst du nie wissen. Und bei jedem Take musst du den vorigen vergessen, vom Beginn weg spielen. (Das machen wir auch im Theater, aber meist gibt es ja Pausen zwischen den Vorstellungen.)
Daher: Auch wenn vieles an der Vorbereitung gleich sein mag, es gibt große Unterschiede. Das Technische erwähne ich hier gar nicht. Aber aus meiner Erfahrung finden SchauspielerInnen diese Unterschiede, sobald sie sich darauf eingestellt haben, extrem anregend. Viel zu lange, zumindest in Großbritannien, boten die Konservatorien nur wenige Kameratrainings für SchauspielerInnen an. Weshalb es mich freut, zu sehen, dass sich das nun ändert.
Ich befürchte, diese Antwort ist ziemlich lang ausgefallen…
FR: Was können die Studierenden des Max Reinhardt Seminars von Ihrem Workshop erwarten, und was erwarten Sie?
MC: Ich werde versuchen, in allen bereits erwähnten Punkten behilflich zu sein und mit den SchauspielerInnen zusammen die spezifischen Aspekte ihrer Szenen erforschen, sowie auch die Frage, wie man in einem Take eine Welt zum Leben erweckt: Wie man die richtigen Bilder im Kopf entstehen lässt, sich das Muskelgedächtnis für das in der Rolle geführte Leben der Figur aneignet, und entdeckt, was einen in der Rolle antreibt. Mittels Kamera und Monitor werden wir schauen, wie man in der Rolle lebendig bleibt (auch bei mehrfachen Wiederholungen). Meine Arbeit richtet sich immer nach den Bedürfnissen des Individuums und der Szene. Daher kann ich nie genau sagen, was ich tun werde, bis es läuft. Meinerseits freue ich mich darauf, mit ausgezeichneten, engagierten und talentierten SchauspielerInnen zusammenzuarbeiten, und von ihnen inspiriert zu werden – was für mich immer der Fall ist, wenn ich mit SchauspielerInnen arbeite.
FR: Sie haben mit so vielen unterschiedlichen SchauspielerInnen zusammengearbeitet: Was ist der Unterschied zwischen den Theaterstudierenden und SchauspielerInnen, die ausschließlich im Filmbereich arbeiten? Und warum wird das Kameratraining so sehr unterschätzt?
MC: Ich glaube, dass sich Theaterstudierende leichter an filmisches Arbeiten gewöhnen als umgekehrt. Daher finde ich es immer wünschenswert, wenn SchauspielerInnen für die Bühne ausgebildet werden, nebenher Kameraarbeit üben und zum Abschluss des Studiums sowohl in Theater- als auch in Filmprojekten involviert sind. Durch die Bühnenarbeit bekommt man ein Fundament für Teamarbeit und eine Gelegenheit, die Rolle tiefgehend zu erforschen, die man von einer reinen Kameraausbildung nicht bekommt. (Ich denke hier an jene einjährige Filmschauspiel-Lehrgänge, die es gibt – diese funktionieren am besten, wenn man bereits eine Bühnenausbildung absolviert hat oder anderweitig bühnenerfahren ist.)
Ich denke jedoch, dass die Kameraarbeit unterschätzt wird: Auch dafür muss trainiert werden. Bis man einmal im Film gearbeitet hat, sind die großen Unterschiede, die ich eingangs umrissen habe, nicht offensichtlich. Es gab mal den Gedanken, dass die schauspielerische Arbeit gleich sei, ob auf der Bühne oder vor der Kamera – doch obwohl vieles an der eigenen Vorbereitung in der Tat ident ist, weist das Arbeiten im Medium Film an sich enorme Unterschiede in der Ausführung auf.
Und Florian, wie du als Lehrender für Sprachgestaltung ebenfalls weißt, kann sich das Spielen für die Kamera auch zu einer großen stimmlichen Falle entwickeln. Im Theater muss die Stimme „geerdet“ sein, damit sie trägt. Im täglichen Leben ist sie geerdet, wenn wir entspannt sind. Aber auf der Leinwand, wo wir die Stimme oft nicht über die anderen DarstellerInnen hinausprojizieren müssen, sind wir keineswegs entspannt. Und wenn wir nicht sehr darauf achten mit unserer Stimme in Verbindung zu bleiben, hören wir auf zu kommunizieren und sprechen nur noch zu uns selbst. Wir verlieren dann diese „Klangfarbe der Echtheit“. Ich weiß, dass du deinen Studierenden diesbezüglich hilfst. Und es gibt übrigens viele SchauspielerInnen, die sich für das Filmen weder stimmlich aufwärmen noch abkühlen. Aber warum nicht?
FR: Sie kommen zum ersten Mal nach Wien. Welchen Eindruck haben Sie von der österreichischen Filmszene?
MC: Es arbeiten ja so viele österreichische RegisseurInnen und SchauspielerInenn weltweit. Traurigerweise scheint uns die Politik alle zu spalten, aber Film bringt uns nach wie vor zusammen. Viele Filme werden europaweit gecastet und finanziert, und die SchauspielerInnen arbeiten weltweit.
Einige der allergrößten Filmregietalente waren Österreicher – wie Billy Wilder, Fritz Lang, Fred Zinnemann und Otto Preminger, um nur einige zu nennen. Heutzutage sind die wunderbaren Filme von Michael Haneke überall bekannt und beliebt. Christoph Waltz ist ein internationaler Star, wie es auch viele der illustren AbsolventInnen des Max Reinhardt Seminars waren und sind.
Ich habe mal mit der wundervollen Schauspielerin Martina Gedeck für The Door (Regie: István Szabó) zusammengearbeitet, und sie lud mich zu einer Vorführung von Die Wand ein, bei dem noch ein Österreicher Regie führte: Julian Pölsler. Ich fand diesen Film fantastisch. Übrigens, Martina sagte über ihre mehrjährige Arbeit an diesem Film etwas sehr Schönes: Das Ganze habe sie zu einer besseren Filmschauspielerin gemacht (sie war bereits ohnehin fabelhaft), da man absolut wahrhaftig sein müsse, wenn man so lange mit Tieren zusammenarbeitet. Sie konnte nie „so tun als ob“. Ist dieser Gedanke nicht schön? Besonders weil sich das Spielen mit Tieren in technischer Hinsicht gesehen sehr problematisch gestalten kann…
FR: Warum ist es wichtig, dass Schauspielstudierende mit Lehrenden zusammenarbeiten, die selbst erfahrene SchauspielerInenn sind, statt nur mit RegisseurInnen und TheoretikerInnen?
MC: Ich denke, dass eine breit gefächerte Kombination bei den Lehrenden und in der Lehre nützlich ist. Ich glaube an die Vielseitigkeit der SchauspielerInnen. Ich glaube aber auch, dass Lehrende, die selber gespielt haben, wissen, wie es sich in der Arbeit anfühlt; dass sie die Innenansicht eines Dramas kennen; dass sie es verstehen, als SchauspielerIn zu denken und so manche Regieanweisung anders entziffern. (Aufgrund zeitlicher Beschränkungen wollen viele FilmregisseurInnen ja gleich Endresultate. Daher müssen SchauspielerInnen wissen, welche Notwendigkeiten der Rolle sie von innen heraus verändern müssen, um das spielen zu können, was die Regie sehen möchte.) Und vielleicht am wichtigsten: Lehrende, die selber gespielt haben, verstehen den Terror (lacht).
FR: Und zum Schluss: Mel, Sie unterrichten schon recht lange, Sie sind ein lebenslanges Mitglied bei der BAFTA und stimmberechtigtes Mitglied der EFA. Wie hat sich die Welt für SchauspielerInnen verändert?
MC: Medientechnologien sind viel billiger und leichter erhältlich geworden, weshalb viele SchauspielerInenn jetzt damit zu tun haben – auch wenn das nur darin besteht, dass sie mit dem Smartphone eine Szene drehen.
Die wichtigste neue Entwicklung ist das Aufkommen von Self-Taping oder E-Casting. SchauspielerInnen werden von Besetzungschefs gebeten, Filmszenen selber zu inszenieren und abzufilmen. Die daraus entstehende große Belastung macht es unabdingbar, dass sie einen guten Umgang damit beigebracht bekommen. Gleichzeitig schafft dieses Phänomen auch mehr internationale Chancen. Ich hatte neulich die Freude, einer Schauspielerin (die bereits einen meiner Workshops in Deutschland besucht hat) bei der Herstellung eines Self-Tapes behilflich zu sein. Sie bekam daraufhin die Hauptrolle in einer großen britischen Dramaserie, bei der ich sie dann auch gecoacht habe. Das war also für beide Seiten wunderbar!
Die andere große Veränderung ist die Verschiebung von Kinofilmen mit einer/einem RegisseurIn/Regisseur zu großzügig budgetierten Serien mit mehreren RegisseurInnen – nicht nur bei den klassischen Rundfunkanstalten, sondern auch bei ABC, HBO, Netflix, Amazon Prime und so weiter. Hinter diesen steckt enorm viel Geld und sie drehen weltweit. SchauspielerInenn haben es heutzutage gleichzeitig mit zehn Drehbüchern zu tun, an denen sie teilweise parallel arbeiten. Diese Projekte verkörpern nicht die jeweilige Vision einzelner RegisseurInnen, sondern werden von ProduzentInnen bestimmt und von mehreren RegiesseurInnen inszeniert. Daher müssen SchauspielerInnen extrem gut vorbereitet sein, wenig Hilfe erwarten und fähig sein, über lange Strecken mit vielen verschiedenen RegisseurInnen zusammenzuarbeiten – damit die „Seele“ einer Rolle erhalten bleibt. Ein junger Regisseur sagte mir neulich: „Heutzutage brauchen wir ‚emanzipierte’ SchauspielerInnen!“
Und in diesem Sinne freue ich mich sehr auf die Zusammenarbeit am Max Reinhardt Seminar!