vertreibung, verfolgung, kontinuitäten und neuzugänge
Ein Jubiläumsjahr darf nicht vergehen, ohne auch auf diejenigen Jahre der eigenen Vergangenheit zu sprechen zu kommen, über die eine Institution vielleicht lieber hinwegsehen würde, weisen sie doch auf die Fragilität von Bekenntnissen zu Werten hin, derer sich eine (Aus-)Bildungsanstalt rühmt – nämlich Menschen darin zu unterstützen, ihr höchstes Potenzial auszuschöpfen, Traditionen weiterleben zu lassen und neue, zukunftsweisende Maßstäbe zu setzen. Verfolgung und Vertreibung von Lehrenden und Studierenden sprechen hier eine andere Sprache. Menschen wurden im Nationalsozialismus als „anders“ markiert und verloren damit nichts Geringeres als ihre Daseinsberechtigung. Diesem Prozess, zu dem an der mdw bereits vielfach geforscht wurde, wird nun im Rahmen von spiel|mach|t|raum – frauen* an der mdw 1817–2017 dezidiert in Bezug auf Frauen* nachgegangen, ohne dabei die Männer zu ignorieren, die der vernichtenden Abwertung von Menschen aufgrund von, wie wir es heute formulieren, konstruierten und ihnen zugeschriebenen Merkmalen ebenso zum Opfer fielen. Es soll auch beleuchtet werden, wer verbleiben konnte, wer in dieser Zeit neu aufgenommen wurde und wie sich das auf Ebene der Studierenden widerspiegelte.
Die „Säuberung des Kunsttempels“ von „jüdischem Einfluß“, wie die Formulierung im Völkischen Beobachter am 16. März 1938 lautete, ging an der Staatsakademie, der Vorgänger-Institution der mdw, rasch vor sich. Alle bestehenden Verträge waren mit 30. Mai 1938 gekündigt worden, denn eine Nicht-Erneuerung von Verträgen erforderte keine Kündigung politisch untragbarer BeamtInnen mehr, wie sie die „Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums“ vorsah, die am 31. Mai 1938 in Kraft trat. Lynne Heller spricht von 26 Prozent der Lehrkräfte, die aus sogenannten „rassischen Gründen“ entlassen wurden (Heller 1992). Werden auch politische und andere Gründe hinzugezählt, waren es sogar 50 Prozent (die Geschichte der mdw: www.mdw.ac.at/geschichte).
Eine der bekanntesten Betroffenen der Verfolgung durch das NS-Regime war die Tänzerin, Choreografin, Tanzlehrerin und Pionierin des Ausdruckstanzes Gertrud Bodenwieser-Rosenthal, die im Jahr 1920 an die Akademie gekommen war. Ihr vom Ballett ausgehender neuer Tanzstil war damals auf große Begeisterung gestoßen. Sie konnte sich 1938 mit einigen ihrer Schülerinnen vor dem NS-Regime zunächst nach Kolumbien, später nach Australien retten.
Eine weitere Betroffene war Erna Kremer. Die Pianistin, die selbst Absolventin der Staatsakademie war, unterrichtete seit dem Jahr 1934 am Haus. Sie wurde 1942 im Vernichtungslager Maly Trostinec ermordet.
Die Verfolgungen des NS-Regimes von durch die Nürnberger Gesetze als jüdisch definierten Menschen und/oder politisch Andersdenkenden betraf auch viele Studierende (Posch/Ingrisch/Dressl 2008). Von den Zahlen her wurde dies im Wintersemester 1938/39 deutlich sichtbar, da es damals im Gegensatz zu 531 inskribierten Studentinnen im Jahr zuvor, nur mehr 326 waren, nicht einmal zwei Drittel davon. Bei den Studenten ist ein Rückgang von 479 auf 379 Personen zu verzeichnen. Bemerkenswert also, dass mehr Frauen als Männer betroffen waren. Die Namen der vertriebenen Studierenden werden im Rahmen eines neuen Beitrags auf der Website spiel|mach|t|raum genannt, ihre weiteren Werdegänge verlaufen jedoch vielfach im Dunkeln. Zwei Studentinnen und zwei Studenten, so der derzeitige Wissensstand, überlebten die Schoah nicht.
Das Jahr 1938 ist jedoch ebenso eine Zeit der Neuzugänge an die Akademie für Musik und darstellende Kunst, zu denen auch eine nicht geringe Zahl an Frauen zählte, vor allem im Bereich des Tanzes. Auch hier einige Beispiele: Tonia Wojtek-Goedecke, die u. a. als Sachberaterin der Reichstheaterkammer fungierte, war 1938 die Wunschkandidatin für die Leitung der Abteilung Tanz von Franz Schütz, dem Rektor der Staatsakademie. Im Jahr 1945 wurde sie vom Dienst enthoben und 1946 gekündigt. Zudem gab es im Bereich Gesang, Klavier und Korrepetition eine Reihe von Frauen, denen sich in dieser Zeit Chancen boten. Dies war vor allem im Bereich der Musikpädagogik (Schmidt 1986) der Fall. Die Gitarristin Luise Walker, verheiratete Heysek, war mit ihrem Instrument die erste lehrende Frau in den Fachbereichen Musikpädagogik und Streich- bzw. Saiteninstrumente. Sie wurde im Jahr 1940 an die Akademie berufen und verblieb ungebrochen über das Jahr 1945 bis zu ihrer Emeritierung 1980.
Erinnern kann sehr herausfordernd sein. Denn letztlich bleibt immer die Frage nach unserer Verantwortung für die Gegenwart. Die Frage nach den Maßstäben, nach denen wir denken und handeln – in der Kunst, der Wissenschaft, der Pädagogik, im Gestalten der Institution.
Auf der Website spiel|mach|t|raum – frauen* an der mdw 1817–2017 finden Sie ab 10. Oktober 2017 einen ausführlichen Beitrag zu der Thematik:
Literatur
- Lynne Heller, Die Reichshochschule für Musik in Wien 1938–1945, Dissertation Universität Wien 1992
- Herbert Posch, Doris Ingrisch, Gert Dressel, „Anschluß“ und Ausschluss 1938. Vertriebene und verbliebene Studierende der Universität Wien (Emigration – Exil – Kontinuität. Schriften zur Wissenschaftsgeschichte 8), Münster/Wien 2008
- Hans-Christian Schmidt, Handbuch der Musikpädagogik, 4 Bde., Kassel 1986