Die Idee, dass Lehrende und Studierende sich für den gemeinsamen Unterricht nicht im selben Raum befinden müssen, ist nicht neu. Mithilfe der Möglichkeiten des Fernunterrichts beziehungsweise des Distance Learning können Studierende über das Internet von jedem beliebigen Ort aus am Unterricht teilnehmen. Online übertragene Vorlesungen, beispielsweise in wissenschaftlichen Fächern, können sich Studierende bequem von zu Hause aus auf ihrem Laptop ansehen und haben zudem den Vorteil, die Unterrichtseinheiten mehrmals online abrufen zu können, was für das Verständnis überaus förderlich ist.

Distance Learning
©Gerard Spee

Bei Distance Learning in der künstlerischen Ausbildung geht es hingegen um den direkten Unterricht, also um die unmittelbare Umsetzung des eben Gehörten oder Gezeigten. Es ist daher wichtig, bei künstlerischen Distance-Learning-Einheiten ein technisches System einzusetzen, mit dem der Klang und die Feinheiten des künstlerischen Ausdrucks möglichst gut übermittelt werden können. Lehrende sollen die Studierenden über das Audio- und Videosystem möglichst genau hören und sehen, um ihnen präzise Anleitungen und Empfehlungen geben zu können. Eine besondere technische Herausforderung sind Konzerte, bei denen die MusikerInnen von verschiedenen Orten aus ein gemeinsames Konzert spielen und über Audio und Video miteinander verbunden sind und bei denen das Publikum einen Teil der MusikerInnen auf der Bühne nur über technische Hilfsmittel wahrnimmt.

„Das Ziel ist, einen möglichst echten Eindruck zu bekommen und qualitativ hochwertig zu übertragen“, sagt Thomas Lang, Leiter des Audio- und Videozentrums der mdw, der sich gemeinsam mit dem Zentralen Informatikdienst der mdw seit Jahren mit den technischen Möglichkeiten im Bereich Distance Learning beschäftigt. Das an der mdw am häufigsten verwendete Streaming-System für Distance Learning heißt LOLA – das Kürzel steht für Low Latency (dt. „geringe Latenz“). Mittels LOLA kann die zeitliche Verzögerung bei der Audio- und Videoübertragung so sehr reduziert werden, dass ein gemeinsames Musizieren von MusikerInnen, die sich an verschiedenen Orten befinden, möglich ist, da die Verzögerung im akademischen Netzwerk nur ca. 9 bis 25 Millisekunden innerhalb Europas beträgt.

Für MusikerInnen ergeben sich durch die verwendete Technik neue – und mitunter gewöhnungsbedürftige – Aspekte. Kopfhörer und Mikrofone können beim Spielen anfangs ungewohnt sein. Atmung und Augenkontakt über den Bildschirm genau wahrzunehmen ist nur unzureichend möglich. Eine reale Unterrichts- und Konzertsituation kann durch den Einsatz des LOLA-Systems keinesfalls ersetzt werden. Dies ist aber auch keineswegs die Intention. Die eingesetzte Technik soll vielmehr zusätzliche Möglichkeiten im künstlerischen Austausch bieten, wodurch neue internationale Kooperationsprojekte zwischen künstlerischen Universitäten entstehen.

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Eines dieser Projekte wird im Dezember an der mdw und am Royal College of Music London realisiert. Studierende beider Universitäten spielen zwei gemeinsame Konzerte und sind mittels LOLA-System verbunden. Bei Vienna Calling am 10. Dezember am Royal College of Music spielt ein Teil der MusikerInnen vor Ort in London, während zeitgleich der andere Teil von der mdw aus mitspielt. Am 13. Dezember erfolgt mit London Calling das spiegelbildliche Konzert im Joseph Haydn-Saal an der mdw. Vor den Aufführungen proben die Studierenden online zusammen. Eine Besonderheit des Projektes besteht darin, dass Kompositionsstudierende beider Universitäten eigens Werke komponiert haben, in denen auf die Situation der Verwendung von Audio und Video eingegangen wird. „Es gibt eine reale und eine virtuelle Bühne“, sagt Johannes Kretz, Leiter des Instituts für Komposition, Elektroakustik und TonmeisterInnen-Ausbildung an der mdw. Durch die Stücke soll bewusst werden, dass ein Teil der Musik aus der Ferne kommt und mittels Lautsprechern und Bildschirmen zum Publikum gelangt. Eine reale Konzertsituation soll somit durch eine virtuelle Ebene bereichert und diese Ebene gezielt thematisiert werden.

Dass sich Johannes Kretz für das Projekt begeistert, ist auch auf seine eigene Affinität zum Musizieren über das Internet zurückzuführen. Er war selbst Teil einer „Internetband“, deren Mitglieder verbunden über das Internet Konzerte an verschiedenen Orten gegeben haben, wobei ein Teil der Mitglieder immer nur virtuell dabei war. Das hat den großen Vorteil der Inklusion – MusikerInnen, die aus zeitlichen oder finanziellen Gründen nicht zu den Proben und Konzerten reisen können, werden durch das Internet in das Geschehen integriert. Jedoch sind Reisen für KünstlerInnen und ihr Schaffen äußerst wichtig und können durch digitale Informationen und virtuelle Teilhabe nicht ersetzt werden. „Musik besteht nicht nur aus Tönen und Schall, sondern aus peripheren Informationen wie beispielsweise Körpersprache und dem Wissen über den Kontext“, betont Johannes Kretz.

Für Studierende bietet Distance Learning aber eine wertvolle Ergänzung. Namhafte KünstlerInnen, die aufgrund ihrer Terminkalender schwer für einen Unterricht zu gewinnen wären, können einfacher dazu bewogen werden, ein paar Stunden ihrer Zeit für eine Online-Masterclass zur Verfügung zu stellen, als eine lange Reise auf sich zu nehmen.

Gute Erfahrungen mit Distance-Projekten hat auch Johannes Meissl, Institutsleiter des Joseph Haydn Instituts für Kammermusik, Alte und Neue Musik, gemacht. „Nach wenigen Minuten hatte ich den Eindruck, dass es sich trotz Kopfhörer und Leinwand um eine normale Unterrichtssituation handelt“, beschreibt Johannes Meissl sein erstes Distance-Coaching an der mdw mit einem Bratsche-Studierenden, der sich in Miami befand. Bevor gar kein Kontakt zustande komme, sei diese Art des Unterrichts eine sinnvolle Ergänzung. „Distance Learning ist für mich keine kategorische Entweder-oder-Frage“, fügt er hinzu. Grundsätzlich gehe es darum, mithilfe dieser Technik neue Erfahrungen zu sammeln. Studierende seien für Distance-Projekte relativ offen, Lehrende könne man durch gelungene Pilotprojekte überzeugen.

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Distance-Projekte fördern jedenfalls die internationale Vernetzung zwischen den Universitäten. Die mdw hat gemeinsam mit dem Conservatorio di Musica „Giuseppe Tartini“ in Triest im Juni 2016 ein LOLA-Projekt realisiert. Ein weiterer wichtiger Projektpartner für die mdw ist die Royal Danish Academy of Music, darüber hinaus sind Kooperationen mit der Manhattan School of Music und dem Shanghai Conservatory of Music geplant. Mit der Entstehung neuer Distance-Projekte wird auch die Entwicklung der verwendeten technischen Mittel vorangetrieben. „Es geht darum, an die Grenzen des technisch Möglichen zu kommen“, betont Thomas Lang. Die zentrale Frage ist, wie MusikerInnen beim Spielen durch die zwischengeschaltete Technik nicht abgelenkt werden. Vor allem bei GeigerInnen und BratschistInnen, also bei MusikerInnen, wo der Klang nahe am Ohr entsteht, sollen Kopfhörer im Ohr keine Einschränkung auf die klangliche Produktion haben.

Der Auftrag an die Technik ist daher, Kopfhörer zu entwickeln, die beim Spielen nicht stören und diese auch so weiterzuentwickeln, dass MusikerInnen sich positioniert hören können. Künftig wird vielleicht auch der Einsatz von Videobrillen eine Möglichkeit darstellen. Auch die Anwenderfreundlichkeit des Systems soll optimiert werden. Insgesamt bieten sich im Bereich Distance-Projekte noch viele Entwicklungsmöglichkeiten. Eines bleibt allerdings unumstritten: Das Charisma eines oder einer Vortragenden im Unterricht zu spüren, die Bewegungen im Raum wahrzunehmen, den absoluten Klang der Stimmen und Instrumente zu hören kann über ein Streaming-System nicht gänzlich transportiert werden. Jedoch bietet bietet Distance Learning eine neue Art der Erfahrung, die zusätzlich zur Entfaltung der eigenen künstlerischen Persönlichkeit und des eigenen Könnens genutzt werden kann. Für das Publikum erschließt sich eine neue Ebene, denn auch die virtuelle Ebene kann im Zeitalter der Digitalisierung im Konzertsaal nicht gänzlich ausgeschlossen werden, sofern man den virtuellen Raum als Ort der Begegnung und Bereicherung und nicht der Verdrängung der Tradition wahrnimmt.

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