Mit einem Konzert und einer Ausstellung anlässlich seines 50. Todestages würdigt die mdw ihren ehemaligen Lehrer Richard Stöhr, der 1938 im Alter von 63 Jahren aus „rassischen“ Gründen seine Anstellung verlor und 1939 in die USA emigrieren musste. Als Ehrengäste nehmen seine Tochter Hedi Stöhr Ballantyne sowie drei Enkelkinder des Komponisten teil.
Richard Stöhr, der sich selbst in erster Linie als Komponist betrachtete, wurde von seinen ZeitgenossInnen – und von der Nachwelt – vor allem als begnadeter Lehrer geschätzt. Hunderte über Jahrzehnte hinweg an ihn geschickte Bilder, Postkarten und Briefe von Studierenden, vielfach mit Widmungen, die an Anbetung grenzen, zeugen von der charismatischen Persönlichkeit des Lehrers, aber auch von der Leidenschaft für die Musik, die er in seinen Studierenden weckte.
Richard Stöhr, am 11. Juni 1874 in Wien als Richard Stern geboren, wuchs in einer kunstsinnigen, großbürgerlichen jüdischen Familie in Wien auf. Im Elternhaus lernte er in jungen Jahren Franz Liszt, Hans von Bülow und auch Richard Wagner kennen. Nach der Matura nahm er auf Wunsch seines Vaters das Medizinstudium auf, obwohl seine ganze Leidenschaft der Musik galt. Unmittelbar nach seiner Promotion zum Dr. med. 1898 realisierte er seinen Traum eines Studiums am Konservatorium. 1900 beendete er das Orgelstudium mit der Silbernen Gesellschaftsmedaille, 1902 legte er die Reifeprüfung für Klavier und 1903 die für Komposition ab, beide mit vorzüglichem Erfolg.
Stöhr wurde im Herbst 1904 erstmals mit Unterricht an der mdw betraut und entwickelte sich in den folgenden 34 Jahren zu einer fixen Größe im Lehrkörper. Seine Unterrichtsfächer reichten von der Chorschule über Harmonielehre, Kontrapunkt und Klavier-Kammermusik bis zu Musiktheorie und Komposition. Während seiner Lehrtätigkeit soll Stöhr – ernsthaften Schätzungen zufolge – mehr als 10.000 Studierende unterrichtet haben.
Legendär waren sein Charisma, sein Charme und vor allem seine Fähigkeit, Menschen für Musik zu begeistern. Darüber hinaus engagierte er sich, vor allem in den Hungerjahren nach dem Ersten Weltkrieg, für bedürftige SchülerInnen und KollegInnen, etwa mit Spenden aus den Erträgen von Konzerten eigener Werke.
Stöhr war ein äußerst geselliger Mensch. In seinen Gästebüchern finden sich unzählige Eintragungen von so prominenten wie unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Engelbert Humperdinck und Wilhelm Furtwängler sowie von Lehrenden, Angestellten und vor allem Studierenden der damaligen Akademie in Wien. Auch Kontakte mit Gästen aus dem Ausland, z. B. aus Skandinavien, den Niederlanden, der Schweiz, den USA, Kanada, Indien, Japan, Südkorea und China, ermöglichten seinen Studierenden einen Einblick in die internationale Musikwelt. Es müssen äußerst anregende und unterhaltsame Zusammenkünfte gewesen sein: Stöhr spielte Klavier, man sprach über Musik, aber auch über vieles andere. Trotz seines eigenen, doch relativ konservativen spätromantischen Kompositionsstils eröffnete er dabei den jungen Menschen den Zugang zur Moderne.
Auch in seiner nebenberuflichen Lehrtätigkeit beschritt er neue Wege. Ab den frühen 1930er Jahren unterrichtete er mehrere Sommer hindurch im äußerst fortschrittlichen American People’s College in Ötz in Tirol und schloss dort Freundschaften, denen er nach dem „Anschluss“ seine Rettung verdankte. 1934 erwähnt er Pläne, nach seiner Pensionierung ins Ausland zu gehen, wohl nicht zuletzt aufgrund der 1927 von ihm erstmals konkret angesprochenen antisemitischen Strömungen innerhalb der Akademie.
Einen Tag nach dem deutschen Einmarsch wurde Stöhr, der 1897 zum Christentum konvertiert war, an der Akademie als „Volljude“ sofort „vom Dienst beurlaubt“. Eine amerikanische Schülerin schrieb an die Leiterin des renommierten Curtis Institute in Philadelphia: „The situation is desperate in Austria, as you know, and getting worse every week. Dr. Stöhr says he would be willing to do anything over in this country – even to playing [sic] the piano in a night club.“
Am 4. Jänner 1939 erhielt Stöhr den sehnlichst erwarteten Vertrag von Curtis, der ihm ein Visum für die USA sicherte. Am 23. Februar 1939 bestieg er die S. S. Hamburg in Bremerhaven und landete am 4. März in New York. Zuvor war es ihm gelungen, die Emigration seines 16-jährigen Sohnes nach Skandinavien zu regeln, und auch die Vorbereitungen für die Verschickung seiner 12-jährigen Tochter mit einem Kindertransport nach England waren weit gediehen. Seine „arische“ Frau war zwar keiner Verfolgung ausgesetzt, erhielt aber, da Stöhr „ohne Erlaubnis zur Emigration“ abgereist war, nach wenigen Monaten keine Rente mehr.
Wenige Wochen nach seiner Ankunft in den USA nahm Stöhr den Unterricht am Curtis Institute auf. Zu seinen dortigen Studierenden gehörte u. a. Leonard Bernstein, der Stöhr hoch schätzte, mit ihm lebenslang in Kontakt blieb und in dessen letzten Lebensjahren für finanzielle Unterstützung sorgte. Nach dem Auslaufen des befristeten Vertrages konnte das Institut wegen finanzieller Schwierigkeiten die Anstellung nicht verlängern. Stöhr, inzwischen 67 Jahre alt, benötigte aber weiterhin eine bezahlte Tätigkeit, da er keinerlei Einkommen oder Pensionsansprüche hatte. Er wandte sich an mehrere Hilfsorganisationen und schickte mehr als 60 Anfragen beziehungsweise Bewerbungen – die Ansuchen blieben aber vorerst erfolglos.
Im Herbst erhielt er dank der Vermittlung einer ehemaligen Schülerin eine Stelle am St. Michael’s College in Vermont, zunächst nur gegen Kost und Logis. Obwohl ihn die Arbeit weder künstlerisch noch pädagogisch forderte, bot sie ihm die notwendige Sicherheit, durch die er sich vor allem seinen Kompositionen widmen konnte. Auch als die letzten Unterrichtsmöglichkeiten 1950 versiegt waren, erlaubte ihm das College gegen ein geringes Entgelt den Verbleib in seiner kleinen Wohnung. Ein ursprünglich stolzer und erfolgreicher Mann war nun auf Wohltaten angewiesen.
Auch wenn Richard Stöhr – dank seines Wesens, seines Einsatzes und seines Könnens – berufliche Betätigungsfelder in den USA fand, musste er im fortgeschrittenen Alter nach einem arbeitsreichen Leben ohne jeden finanziellen Rückhalt oder Sicherheit mehr als sieben Jahre in der Fremde ohne seine Familie verbringen. Erst 1946 konnte er seine Tochter Hedi endlich wieder in die Arme schließen, ein Jahr später trafen auch seine Frau Mizzi und sein Sohn Richard in den USA ein.
1956 gastierten die Wiener Philharmoniker in Vermont und überreichten dabei Stöhr ein Programm mit der Inschrift „Unserem lieben Lehrer und Meister zur Erinnerung an seine Schüler“ und mit den Unterschriften zahlreicher ehemaliger Schüler, darunter Helmut Wobisch, der bereits 1933 illegales Mitglied der NSDAP und später auch der SS gewesen war und der während des gesamten Krieges als Musiker tätig gewesen war. Seine Karriere wurde zwar nach Kriegsende im Zuge der Entnazifizierung kurzfristig unterbrochen, aber als er Stöhr in den USA begegnete, war er bereits wieder als Lehrkraft an der Akademie tätig und als Solotrompeter und Geschäftsführer der Philharmoniker fest etabliert. Im Gegensatz dazu war Richard Stöhr, 17 Jahre nach seiner fristlosen Entlassung, gerade erst eine Pension von der Republik Österreich zugesprochen worden. Ob er sich dieser Ironie bewusst war? Nach Aussage seiner Tochter freute er sich jedenfalls über dieses Zeichen der Wertschätzung. Überlegungen, nach Wien zurückzukehren, verwarf er schließlich. Richard Stöhr blieb in den USA, wo er am 11. Dezember 1967 im Alter von 93 Jahren verstarb.
Das Konzert und die anschließende Ausstellungseröffnung finden am 14. Dezember im beziehungsweise vor dem Joseph Haydn-Saal der mdw um 18 Uhr im Beisein von Stöhrs Tochter Hedi Ballantyne sowie von weiteren Familienmitgliedern bei freiem Eintritt statt. Anmeldung bis 7. Dezember 2017 erforderlich unter arc-stoehr@mdw.ac.at oder +43 1 711 55 6500.