Im Rahmen der kommenden Session der ECMA – European Chamber Music Academy im Schloss Grafenegg arbeiten von 21. bis 27. Mai 2018 ausgewählte Ensembles, vor allem Streichquartette und Klaviertrios mit internationalen LektorInnen und DozentInnen an der kammermusikalischen Interpretation. Die Session bietet gleichzeitig den Feinschliff für Ensembles, die bereits auf höchstem Niveau musizieren, und Grundlagenarbeit an der Substanz von Kammermusik – eine wertvolle Mischung für die weitere Karriere der Formationen. In diesem Jahr vermittelt der international renommierte Pianist David Dolan die Kunst der Improvisation in der klassischen Musik.
Johannes Meissl, künstlerischer Leiter der ECMA, gibt in einem Interview einen Überblick über die jüngsten Ziele und Entwicklungen der Academy.
Herr Meissl, auf der Website www.ecma-music.com definieren Sie die ECMA als „europäische Talenteschmiede junger, professioneller Kammermusikensembles“ – das hört sich nach einem hochgesteckten Ziel an. Wie erreichen Sie das konkret?
Johannes Meissl (JM): Wir erreichen dies auf der Basis bestehender Arbeit auf höchstem, professionellem Studierendenniveau, das heißt mit Studierenden, die die Ambition haben, ein berufs- und karrierefähiges Ensemble zu werden. 2003 wurde die Idee geboren, die kammermusikalische Arbeit als Veranstaltung an unterschiedlichen Orten unter Ausnützung der verschiedenen Gegebenheiten, Hintergründen, Expertisen und Menschen zu gestalten.
Wir veranstalten seit Beginn jährlich zwei Auditions, bei denen Ensembles sich mit einem Querschnittsprogramm durch verschiedene Stilepochen präsentieren, und wir sie dann auch ausführlich interviewen. Die Prozedur, um wirklich Teil dieser ECMA-Familie zu werden, schließt zusätzlich mindestens zwei Arbeits-Sessions mit ein, an denen die Ensembles entweder vor oder nach der Audition teilnehmen. Wenn sie als passend und elegibel erachtet werden, dann bekommen sie zuerst den Aspiranten-Status, und wenn sich dann herausstellt, da ist die richtige Einstellung und auch die Möglichkeit, relativ schnell Dinge zu verarbeiten und umzusetzen, dann werden Ensembles als offizielle ECMA-Ensembles geführt. Das heißt, dass sie in einem Zeitraum zwischen zwei und drei Jahren regelmäßig an solchen Arbeits-Sessions teilnehmen. Die Mitgliedschaft ist auf längere Zeit ausgelegt – es ist also keine punktuelle Masterclass-Initiative, sondern eine Art informelles Programm. Bisher war dieses nicht akademisch reguliert und auch nicht in Studien an den beteiligten Organisationen integriert. Das wird sich teilweise ändern mit der Einführung des Joint Master Programmes, des so genannten ECMAster.
Zusätzlich zum klassischen Ensemble-Coaching gibt es bei jeder Session Vorträge, Workshops, Diskussionsrunden und immer thematisch bezogene Inputs, die manchmal auch gar nicht unmittelbar mit dem in Verbindung stehen müssen, was man gerade tut – Themen aus der Komplexitätsforschung etwa. Wir versuchen vor allem ein Bewusstsein dafür herzustellen, was die Grundlagen einer selbständigen Interpretation sind. Das ist natürlich viel Information und Kenntnis, aber auch vor allem die Entwicklung der Fähigkeit, musikalische Texte einerseits wirklich zu lesen und sie dann auch entsprechend kontextualisieren und dechiffrieren zu können. Eigentlich geht es um die Weitergabe einer Interpretationshaltung und um das Erlernen dessen, was man alles dazu braucht, um überhaupt zu einer Interpretationsfähigkeit zu gelangen. Das hat über die vergangenen 15 Jahre bei einer sehr hohen Anzahl von Ensembles, die mit uns gegangen sind, soweit gefruchtet, dass sie auch äußeren Erfolg haben. Es gibt sehr viele Wettbewerbspreisträger und, das ist noch wichtiger, eine Vielzahl von Ensembles, die sich wirklich im Musikleben etablieren konnten.
Mit Erasmus+ führt die ECMA derzeit ein Partnerschaftsprogramm durch – ECMA Next Step. In welche Richtung wird hier der nächste Schritt gesetzt?
JM: Das Programm hat 2015 begonnen und läuft noch bis August 2018. Das stärkste gesetzte Arbeitsziel war die Entwicklung eines Joint Master Studiums, und so wie es jetzt aussieht, sollte uns dies gelungen sein. Es gibt ein Consortium Agreement und eine Programme Description, die von allen beteiligten RektorInnen unterzeichnet wird.
Hier am Haus ist das schon umgesetzt, und im Moment arbeitet die zuständige Studienkommission an der Ausarbeitung des für die mdw geltenden Studienplans. Die Programme Description gibt einen Rahmen vor, der regelt, wie die ECTS-Punkte verteilt werden, und vor allem, wie die Rotation der Austauschsemester, die Mission- und Audition-Prozeduren funktionieren können; zudem definiert sie die Learning Outcomes, also das, was als Ergebnis dieses Studiums erwartet wird. All diese sowie die rechtlichen Fragen sind im Consortium Agreement definiert. Hier hinein kommt jetzt an sieben verschiedenen Schulen der jeweils passende, geltende Studienplan für die jeweilige Institution, weil die Ensembles, die aufgenommen werden, an jeweils einer Home Institution inskribiert werden und Studierende dieser Institution bleiben sowie das letzte Semester und den Abschluss wieder hier absolviert. Dazwischen besucht das Ensemble zwei verschiedene Schulen als Gastensemble. Dazu kommt, dass ein Minimum von sechs regulären einwöchigen ECMA-Sessions innerhalb dieser zwei Jahre verpflichtend ist, wobei wir empfehlen, dass die Ensembles möglichst viele verschiedene Länder besuchen sollten.
Der Ansatz ist, diese in Europa ja nicht notwendigerweise an einem Platz konzentrierte vorhandene Expertise, die dafür dient, ein Spitzenniveau zu erreichen, so gut gemeinsam auszunützen, dass die Studierenden davon maximal profitieren können. Das ist ein direktes Ergebnis dieser Partnerschaft.
Es gab noch zwei weitere definierte Arbeitsziele. Zum einen eine Dokumentation und im besten Fall Formulierung neuer und Lern- und Unterrichtsmethoden nach dem Prinzip des student centered learning. Zum anderen soll eine aktive Verbindung mit dem, was in der EU-Diktion Professional Partners genannt wird, also mit Veranstaltern und Festivals, erreicht werden. In diesem Bereich haben wir in den letzten zwei Jahren nachhaltig durch Kooperationsvereinbarungen mit Festivals und Konzertveranstalter sehr gute Schritte vorwärts gemacht.
Heuer findet die ECMA im niederösterreichischen Schloss Grafenegg statt. Was ist das Besondere an diesem Austragungsort?
JM: Mit Grafenegg haben wir heuer bereits die vierte Kooperations-Session. Diese ist aus einem Interessenshintergrund von beiden Seiten entstanden. Als Grafenegg an uns herangetreten ist, ob es denkbar wäre, in diesem Areal einen ECMA-Standort oder Center einzurichten, haben wir dann gesagt, wir probieren, die Sessions, die bisher immer an der mdw am Campus stattgefunden haben, im Schloss durchzuführen. Für uns ist es natürlich gut, eine wunderbare Infrastruktur ohne Raumnutzungsschwierigkeiten zu haben. Der größte Antrieb war natürlich die Verbindung zu einem Veranstalter zu haben und eine Kooperation, der mit der Reputation des international hoch angesehenen Grafenegg Festivals für ECMA, was die Zusammenarbeit mit Professional Partners betrifft, einen echten Mehrwert bringt. Es gibt auch die gemeinsame Überzeugung, dass wir als Herolde der Kammermusik und auch des Publikumspotentials für Kammermusik jenseits der alten gewachsenen Schiene zu etablieren. Deswegen hat sich diese Kooperation schon als win-win-Situation angeboten und wird fortgesetzt.
Ein internationaler Dozent der ECMA 2018 ist David Dolan. Was bringt er ein, welchen Schwerpunkt setzt die heurige Akademie mit ihm?
JM: David Dolan ist der Doyen der englischen Improvisationsszene in Verbindung mit Kammermusik und klassischer Musik im allgemeinen Es geht also nicht um stilgebundene, spezialisierte Improvisation, sondern um Improvisation als Grundhaltung, als Verständnisschlüssel und letztlich auch als Hilfsmittel für noch adäquatere Interpretationsfähigkeit. Diese improvisatorischen Zugänge von verschiedensten Perspektiven aus sind in der ECMA schon seit Jahren ein großes Thema, sind auch an der mdw in den Curricula schon verankert, und ich weiß es von Hochschulen, an denen das ganz stark forciert wird, und ich weiß auch warum. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, und ich bin sehr froh, dass wir David Dolan dabei haben.
Ziel ist eine Freilegung von Fundamenten oder Mustern, auf denen oft hochkomplexe, elaborierte, im Detail ausgearbeitete Kompositionen stehen. Der nächste Schritt ist, dass man sich zutraut, auf Basis dieser harmonischen oder sonstigen Muster selbst etwas zu erfinden, selbst zu improvisieren, und dass man einerseits damit zu etwas kommt, was man durchaus anhören kann, und andererseits aus diesem Zugang ein völlig anderes Verständnis von dem hat, was im Text wirklich festgehalten ist. Das hat natürlich in der Musik, die vor 1800 passiert, eine unmittelbare Notwendigkeit, weil die Musik nur teilweise aufgeschrieben hat, was passieren soll. Aber genauso bietet es für die Musik des 19. und 20. Jahrhunderts extrem hilfreiche Ansätze, um nicht in einen Exekutionsmodus zu verfallen, sondern das zu erreichen, was ja ein landläufiges Postulat ist, nämlich, dass Musik immer so klingen soll, als wäre sie gerade entstanden.
Dazu kommt, dass überhaupt einmal Erlernen von Basics der Improvisation hilfreich sind bei der Entwicklung der Fähigkeit, dass man aufmerksam darauf ist, was im Moment die anderen tun, während man selbst etwas tut – eine recht einfache, aber doch substantielle Definition von Kammermusik. Es ist nicht ein Entweder-Oder, Tun und Zuhören, sondern es muss gleichzeitig passieren, ist aber eine ziemliche Herausforderung.
Was uns bei ECMA alle vereint, ist eine radikale Bereitschaft, in die Tiefe zu gehen und auch verunsichernde Fragen zu stellen. Es geht uns darum. Und auch, auf die Substanz abzuzielen und nicht auf Äußerlichkeiten. Das Substanzielle erlaubt, wenn es möglichst erfasst ist, eine viel größere Bandbreite an Erscheinungsformen. Das ist uns auch wichtig: Mit meine größte Freude in der ECMA-Arbeit ist, dass es eine große Anzahl von wirklich sehr profilierten Ensembles gibt, und keines spielt wie das andere. Man kann aber trotzdem eine Art von ECMA-Handschrift erkennen, weil die Menschen hören, dass es da offensichtlich doch immer um das Wesentliche geht. Aber wie dieses Wesentliche dann jeweils seine Ausformung findet, da sind wir extrem dahinter, dass wir die Individualitäten möglichst fördern. Es ist weit weg von einer Normierungsfabrik, auch wenn natürlich alle mehr oder weniger mit denselben Informationen und Fragestellungen konfrontiert werden. Es kann bei der ECMA nicht passieren, dass Ensembles, die über längere Zeit dabei sind, sie nicht über die Bedeutung der Rhetorik in der Musik des 18. Jahrhunderts und dann weiter ausstrahlend bis in die Musik des 20. Jh. hinein irgendwie einen Bewusstseinsstand erreicht haben. Sie müssen sich auch Gedanken machen über gewisse Grundprinzipien, was Zeit und Bewegung bedeutet – alles Dinge, dies sehr auf die Substanz gehen. Man muss eine Möglichkeit haben, einen Bedeutungsinhalt zu erfassen und dann eine Entscheidung treffen, welche Bedeutung möchte ich kommunizieren, also was drücke ich aus, was sage ich. Dieses Werkzeug-Arsenal, um eine möglichst plausible Entscheidung zu treffen, was sehe ich semantisch in musikalischen Sachverhalten, wie stehen die Töne zu einander, in welchem Zeitverhältnis, in welchem Zusammenklangsverhältnis und was ist sonst noch drinnen, und wenn man lernt, dass es hier historisch gewachsene Bedeutungs-Zuordnungen gibt, die stark mit der Rhetorik zusammenhängen, dann kann man etwas leichter Entscheidungen treffen, was entwickle ich hier und was möchte ich, das man empfindet.
ECMA – European Chamber Music Academy 2018
22. – 27. Mai 2018
Schloss Grafenegg
Grafenegg 10
3485 Grafenegg