Die Burgtheater-Schauspieler_innen Regina Fritsch, Maria Happel und Roland Koch erzählen, wie sie ihren Rollenunterricht am Max Reinhardt Seminar anlegen.
Ob im Leben oder auf der Bühne, oft sind es Kleinigkeiten, die eine Person ausmachen. Winzige Details, die mehr über einen selbst verraten, als es uns mitunter lieb ist. „Ich fange gern mit den Füßen an“, sagt Schauspielerin Maria Happel, die am Institut für Schauspiel und Schauspielregie – Max Reinhardt Seminar das Fach Rollenarbeit unterrichtet. „Welche Schuhe man trägt, gibt der Figur, die man spielen möchte, sofort eine Haltung.“ Die sogenannte Rollenarbeit ist ein Herzstück in der Ausbildung von jungen Schauspieler_innen. „Was trocken auf dem Papier steht, muss Fleisch und Blut werden“, bringt es Roland Koch, ebenfalls einer der Lehrenden am Max Reinhardt Seminar, auf den Punkt. Der Begriff geht auf Stanislawskis bahnbrechendes Werk Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle zurück, das detailliert Techniken beschreibt, sich eine Bühnenfigur im Rahmen der Probenarbeit anzueignen: über Rollenanalyse bis zu improvisierten Übungen. Nach Stanislawski geht es um Glaubwürdigkeit, darum das Innenleben der zu verkörpernden Figur zu erforschen, um eine komplexe Darstellung zu ermöglichen.
Schauspielerin Regina Fritsch nennt es „psychologisches Koordinationssystem“. Bei ihr beginnt die gemeinsame Arbeit am Tisch, beim Lesen der Stücke und dem Herausfinden von Charaktermerkmalen der Figuren. Was bedeutet der Text überhaupt? Was hat das Stück heute mit mir zu tun? Verstehe ich die Sprache und was steckt alles in ihr? Erst der zweite Schritt geht auf die Bühne, um eine konkrete Körperlichkeit zu finden, eine entsprechende Situation für die Szene zu bauen, und Fragen, die am Tisch beantwortet wurden, auszuprobieren. Etwa: Wie bewegt sich die Figur? Hat sie vielleicht einen Tick? Wie vielschichtig verhält sie sich aus ihrer aktuellen Not heraus? „Man tastet sich weiter mit Fantasie und Gründlichkeit, bis man sich die Figur einverleibt hat“, so Fritsch. Der Unterschied zur späteren Arbeit an einem Theater besteht vor allem darin, dass die Universität ein geschützter Ort sein soll. „Die meisten Regisseur_innen geben einem keine Zeit, jede_r will sofort alles in verschiedenen Versionen sehen“, erzählt Fritsch aus Erfahrung. Gerade am Beginn sei es wichtig, den Studierenden zu helfen, eine gewisse Sicherheit zu entwickeln.
Roland Koch würde es sogar noch weiter fassen: „Es geht um einen grundsätzlichen Diskurs über den Beruf, der sich in den letzten Jahren doch sehr verändert hat.“ Die Verträge an den Bühnen werden kürzer, der Druck auf junge Darsteller_innen wächst. „Die Frage ist, für welchen Markt wir überhaupt ausbilden.“ Koch möchte keine Befehlsempfänger_innen heranzüchten, sondern neugierige Darsteller_innen auf den Weg schicken. Schauspieler_innen, die sich selbst fragen, was sie nach dem Studium anfangen wollen. „Als ich vor 30 Jahren begonnen habe, gab es einen klaren Gesellschaftsvertrag und ein flächendeckendes Kulturangebot. Man wusste, man fängt vielleicht in der Provinz an, aber landet früher oder später an einem größeren Haus“, erinnert sich der Burg-Schauspieler. „Heute bewegt sich das Karussell stockend, es gibt immer weniger Stellen für immer mehr Schauspieler_innen.“ Wichtig findet Koch daher, neue Felder zu erschließen – und dazu gehört nicht nur die Arbeit für Film und Fernsehen. Werde ich als Ich-AG Solist_in mit einem Literaturprogramm und toure damit? Versuche ich mich in der freien Szene? Oder schreibe vielleicht sogar selber Stücke?
Obwohl viel davon die Rede ist, dass heutzutage Performer_innen die klassisch psychologischen Schauspieler_innen ablösen, sind sich Fritsch, Happel und Koch einig, dass die meisten der Studierenden nach wie vor den Wunsch haben, einen Tschechow zu spielen und die Figuren von innen heraus zu ergründen. „Performen ist nicht schwer“, sagt Fritsch provokant, „das kann meine Katze auch. Das Performen erschöpft sich schnell, aber das psychologische Spiel hat enorm viele Facetten.“ Auch Happel findet, das Max Reinhardt Seminar sollte die Abgänger_innen bestmöglich auf die Realität vorbereiten, wo radikale Regiehandschriften ebenso möglich sind, wie Regisseur_innen, die sehr offen arbeiten. „Unser Beruf hat mit Magie zu tun“, sagt sie. „Die Älteren müssen den Jüngeren die Geheimnisse ins Ohr flüstern, Tricks aus der eigenen Erfahrung wie in einem Staffellauf an die kommenden Generationen weitergeben.“ Für Happel geht es darum, „die Hülle zur Verfügung zu stellen für eine Figur, die man sich erarbeitet hat“. Die Frage, was ein Text und eine Figur mit mir selbst zu tun haben, ist dabei zentral.
Die Lehrenden sind meist die ersten Kritiker_innen in einem Beruf, bei dem man einiges einstecken muss. Wie geht man damit um, wenn man in den Zeitungen verrissen wird? „Wer sagt, dass Kritik nicht weh tut, der lügt“, gibt Fritsch offen zu. „Es ist nicht nötig, lieblose Rückmeldung zu geben, viel wichtiger sind konstruktive Verbesserungsvorschläge.“ Auch Fritsch ist überzeugt, dass die Zeiten härter geworden sind. Als sie am Theater zu arbeiten begann, gab es noch eine Art von Theaterfamilie, ältere Mentor_innen, die sich um die Neulinge gekümmert haben. Mit schrumpfenden Ensembles ist der Verteilungskampf brutaler geworden. Auch darum muss es in Gesprächen mit dem Nachwuchs gehen: Sie auf eine Situation vorzubereiten, in der sie womöglich nicht sofort ein Engagement finden. „Wir reden auch über viele aktuelle Debatten, von #MeToo bis zur Frage, welchen Stellenwert Schauspieler_innen im Schaffensprozess haben“, sagt Koch. „Ob Schauspieler_innen nicht auch Dramaturg_innen, Regisseur_innen und Autor_innen sind.“ Das Theater als Abbild der Wirklichkeit muss sich den brennenden Themen der Realität stellen. Dazu gehört auch, zu wissen, was auf den Bühnen gerade läuft: „Ich treibe meine Studierenden in jede Vorstellung rein“, sagt Koch, der zugibt, nicht auf jede Frage eine Antwort zu wissen. Fragen sind im Theater enorm wichtig, betont er, Antworten oft überschätzt. Oder wie der große irische Dramatiker Samuel Beckett gesagt hat: „Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“