Zur Reihe wissenschaftlich-kritischer Partitur-Ausgaben mit Musik des 17. Jahrhunderts herausgegeben von Rudolf Hofstötter und Ingomar Rainer
Für Musiker_innen im Bereich der sogenannten Alten Musik kommt unzweifelhaft irgendwann der Zeitpunkt, sich über das eigene unmittelbare Geschäft hinaus – ein Instrument zu spielen oder zu singen, ja selbst Ensembles zu leiten und zu unterrichten – mit interpretatorischen Basisfragen zu befassen. Mitte der 1990er-Jahre hatten Rudolf Hofstötter und ich schon eine gewisse editorische Erfahrung und waren zunehmend unzufrieden mit den Standards handelsüblicher Ausgaben, aber auch vieler der wissenschaftlichen Editonsreihen. Grundübel war allgemein, dass Herausgeber_innen und Verleger_innen meinten, um den benützenden Musiker_innen entgegenzukommen diesen in einer Art „moderner Übertragung“ fertige Problemlösungen der sicherlich manche Fragen aufwerfenden Originalnotationen anbieten zu müssen. Solcher Angang hatte etwa die nach dem Zweiten Weltkrieg mit viel Enthusiasmus unternommene neue Schütz-Gesamtausgabe durch Vereinheitlichung in moderner Schlüsselung, nicht ausgewiesene Transpositionen, Verkürzungen von Notenwerten und Taktabständen, willkürlichen Austausch von Taktsignaturen, bis hin zu stilistisch zweifelhaften Generalbassrealisationen gründlich verdorben; nicht viel besser stand es mit Bach und Händel. Hier fand man sich vielfach besser beraten, auf die großen alten Gesamtausgaben von Spitta, Chrysander, Forkel und anderen zurückzugreifen, auch wenn deren teils anders gelagerte Mängel evident waren.
Als Pädagogen im Fach Alte Musik fanden wir jedenfalls jede Edition, die die ausführenden Musiker_innen durch wie immer gut gemeinte Vorschläge entmündigt und nicht auffordert, ja zuweilen zwingt, selbst Wege und Mittel für eine individuelle Lösung musikalischer Unklarheiten zu suchen, ungeeignet und nicht empfehlenswert. Denn, wie es schon vor Zeiten von Carl Dahlhaus und dann auch von Nikolaus Harnoncourt so vorbildlich formuliert wurde: Es geht keineswegs darum, einfach einen Text zu realisieren (zu exekutieren, wie es Igor Strawinsky rigoros vertreten hat), sondern vielmehr darum, das durch den Text Gemeinte herauszufinden, zu verstehen, und dieses zu realisieren. Abseits aller Überlegungen sogenannter praktischer Urtext-Präsentationen gingen wir von dem Bemühen aus, ein Maximum an Quellenidentität als Material für ein Studium Alter Musik aus dem Verstehen des Textes heraus bereitzustellen; Partituren, deren Anlage freilich bereits ein bestimmtes Vorverständnis der Herausgeber voraussetzt, jedoch keine „Übertragung“, strenge diplomatische Treue, vor allem keine Hinzufügungen und „Ergänzungen“ von Artikulationsanweisungen, Generalbassaussetzungen und Ähnlichem.
Nachdem für derartig „anspruchsvolle“, mit Arbeit verbundenen Ausgaben in Originalnotation kein geschäftsinteressierter Verlag zu finden war, schlug der damalige Leiter der Abteilung Musikpädagogik Ewald Breunlich vor, seitens der mdw als Verleger einzuspringen, mit der Bedingung, daraus eine Reihe zu machen. 1998 wurde mit fünf Bänden die Wiener Edition Alter Musik (WEAM) ins Leben gerufen. Seither sind jährlich zwei bis drei Bände dazugekommen, sodass wir es zum zwanzigjährigen Jubiläum auf 50 Bände gebracht haben werden.
Mit dem Band 1, einer Gesamtausgabe der Concerti ecclesiastici von Giovanni Paolo Cima nach dem Typendruck, Milano 1610, war auch der programmatische Auftakt in Richtung große Instrumental- und Vokalmusik des Seicento gegeben. Solchermaßen enthält die Reihe u. a. Ausgaben der so gut wie unbekannten Kirchenmusik von Johann Caspar von Kerll, von Johann Heinrich Schmelzer, H. I. F. Biber, Christof Strauss und anderen. Schmelzer ist auch mit zwei Wiener Sepolcri, einer Sondergattung opernartiger Kirchenspiele, vertreten, ebenso der komponierende Kaiser Ferdinand III. Daneben Madrigalistik und Instrumentalmusik aus dem italienisch-österreichischen Raum. Ein Gegenstück zu Band 1 bildet die Neuausgabe der Missa ac vesperae Monteverdis (die sogenannte venezianische Marienvesper), ebenso 1610 erschienen, als vol. 36 und quasi erstem Band einer Unterreihe. Monteverdi zählt gerade zu den Komponisten von unbestrittenem Rang, denen eine kritische Ausgabe die längste Zeit versagt war. Hier haben wir uns ein sehr ehrgeiziges Ziel gesetzt: eine philologisch unseren Vorstellungen entsprechende Neuausgabe der wichtigsten Opera (als Reihe innerhalb der Reihe), wobei je nach Gattung verschiedenste Fragen auftauchen, zu gestalten. Die kirchenmusikalischen Sammlungen liegen nunmehr in drei großen Bänden vor, das erhaltene musikdramatische Schaffen findet (mit Ausnahme kleinerer Stücke und Fragmente) noch dieses Jahr seinen Abschluss mit dem Lamento d’Arianna als Band 50.
Von Anfang an leitete uns das Interesse an einem Repertoire, das in die Anfänge dessen führt, was bis heute die „Musikstadt Wien“ und damit eine gewisse kulturelle Identität bedeutet, die man sich an einer hiesigen Musikuniversität auch immer wieder neu aneignen sollte.