Studierende des 2. Studienjahres der Sprachgestaltungsklasse von Annett Matzke, Tamara Metelka und Florian Reiners trafen Ende November, nach dem gemeinsamen Vorstellungsbesuch von Nicole Heesters derzeit gefeiertem Solostück Marias Testament von Colm Tóibín im Theater in der Josefstadt, die Charakterschauspielerin und Absolventin des Max Reinhardt Seminars zum Gespräch.
Nicole Heesters spielte im Verlauf ihrer bereits 66 Jahre andauernden Karriere an allen wichtigen deutschsprachigen Häusern, wie dem Düsseldorfer Schauspielhaus, Deutschen Schauspielhaus Hamburg, Berliner Ensemble, Nationaltheater Mannheim, dem Bayerischen Staatsschauspiel sowie dem Theater in der Josefstadt und dem Volkstheater in Wien. Sie arbeitete mit Regisseur_innen wie Andrea Breth, Claus Peymann, Peter Zadek, Karl-Heinz Stroux oder Hans Neuenfels, verkörperte zentrale Rollen der Theaterliteratur und wirkte in etlichen Film- und Fernsehproduktionen mit.
Die Studierenden hatten die Möglichkeit, mit Heesters über ihre Arbeit und Herangehensweise an dem zuvor gesehenen 100-Minuten-Monolog, der in der Inszenierung von Elmar Goerden auf beeindruckende Weise auf das Denk- und Sprechhandwerk und somit auf Heesters’ Stimme reduziert ist, zu sprechen. Marias Testament erzählt die Geschichte der Mutter Jesu, die ihren Sohn nicht beschützen und vor dem grausamen Tod bewahren konnte, aus ihrer ganz individuellen Perspektive.
Heesters beschrieb den Studierenden ihr Arbeitsprinzip, einen Text immer drei Monate vor Probenbeginn so zu lernen, so dass sie ihn bereits zu Probenbeginn komplett aus dem Gedächtnis abrufen kann. Dadurch hat sie zur ersten Probe schon einen Fundus, der veränderbar ist und sich in den viereinhalb Wochen Proben und im Gespräch mit dem Regisseur verschieben kann. Die Spielhaltung wird dadurch meist erweitert oder vergrößert. Diese Arbeitsweise erleichtert die Probennacharbeit, denn sie muss abends nach der Probe keinen Text lernen und kann somit viel freier proben.
Die Studierenden thematisierten in der Diskussion die Inhalte des zentralen künstlerischen Faches Sprachgestaltung, wie beispielsweise die Arbeit mit inneren Bildern oder das Auffinden der individuellen Verknüpfung mit dem Text, und waren erstaunt, wie zeitlos das Sprechhandwerk anwendbar ist. Den Sprechunterricht benannte Heesters als wesentliche Grundlage, die man beherrschen muss, um Gefühle wie Wut, Angst oder Freude zu transportieren. Sie erklärte, dass sie beim wiederholten Lesen von Texten häufig auf einen für sie besonderen Satz stoße, der dann zum Ausgangspunkt für die Arbeit an einem Text wird.
In den Proben zu Marias Testament hat sie den Humor im Text des Dramas und vor allem die Aktualität des Stoffes gesucht. Sie geht immer von der aktuellen gesellschaftlichen Situation aus an Texte heran. So hat sie für dieses Stück keinen Bezug aus der Bibel gesucht, sondern Interviews von Müttern über ihre sich radikalisierenden Söhne als Arbeitsmaterial herangezogen. Sie betonte die enorme Bedeutung dieser Aktualität für die Arbeit auf der Bühne.
Eine zentrale Frage der Studierenden war, wie man den einen Gedanken findet, der die Gedanken eines Textes und einer Figur motiviert und so zur authentischen Sprache in Figur und Stück führt. Heesters erklärte, man müsse sich immer auf die Suche machen und riet den Studierenden nach etwas Direktem und Realem zu suchen, etwa in der Straßenbahn oder der Zeitung, reale Geschichten – denn diese führen zu Authentizität.
Heesters betonte, man solle stets so agieren, wie man ist, sich nicht verstellen, denn nur dann könne eine Rolle wachsen. Leidenschaftlich forderte sie die Studierenden auf, alles von sich in die jeweilige Rolle zu geben, sich ganz „hineinzuschmeißen“. Sie hätte diesbezüglich viel von Regisseuren wie Peter Zadek und Klaus Michael Grüber gelernt, es sei vor allem aber eine Sache der Erfahrung und Übung. Auch ihre Arbeit mit Andrea Breth sei in dieser Arbeitsweise ein Glücksfall gewesen. Unabhängig von der Regie sei es aber stets die Arbeit am Text, die jede_r für sich leisten müsse. Erst dann wachse man in seiner Arbeit gemeinsam mit der Regie.
Auch durch das Zuschauen könnten die Studierenden sehr viel lernen, weshalb es wichtig sei, selbst ins Theater zu gehen. Sie zitierte dazu Humphrey Bogart, der gesagt haben soll: „Ich werde mich doch nicht beim Spielen erwischen lassen.“
Auch die sich wandelnde Theaterrealität war ein Thema. Heesters erzählte, es sei neu, dass nach den Proben oft nicht mehr weiter über die gemeinsame Arbeit gesprochen werde.
Früher habe man sich heiß geredet über das Stück und weitergearbeitet. Der Beruf sei heute sehr solistisch geworden. Das Gespräch über das Stück finde unter Kolleg_innen nicht mehr genug statt, was ihrer Meinung nach sehr schade ist. Es sei einer der wenigen Berufe, in dem man älter werden könne, aber die Arbeit nicht leichter werde, die Verantwortung wachse, Wahrhaftigkeit gehöre immer dazu. Sie wolle nicht spielen, sie suche stets nach dem Moment, „in dem es stimmt“.
Heesters hat mit nur 16 Jahren die Prüfung am Max Reinhardt Seminar bestanden. Sie spielt nun seit 66 Jahren und sucht mit jeder Rolle immer wieder neu. Sie ist überzeugt, dass man immer wieder von vorne anfängt, wieder bei null steht, zwar woanders, aber trotzdem bei null. Laut Heesters muss man den Beruf bis aufs Blut lieben und wollen und ein Leben lang daran arbeiten. Sie betont, so wie es am Seminar ist, werde es später nie mehr sein, denn hier hätten die Studierenden Begleitung und würden beobachtet. Heesters selbst denkt wahnsinnig gern ans Seminar zurück: Es sei so frei gewesen, man wurde begleitet, umsorgt, und alle waren für einen da.
Heesters beendete das Gespräch mit dem Rat an die Seminarist_innen, die Zeit am Seminar wirklich zu nützen, sich die Lehrenden zu „greifen“, fleißig zu sein und Dinge jetzt zu tun. Zum Schluss erklärte sie noch, sie könne verstehen, warum alle Schauspieler_innen werden wollen, denn es sei schließlich ein wunderschöner Beruf.
Eindrücke der Studierenden
„Ihr Spirit hat mich beeindruckt. Das ist keine 82-jährige Frau! Max Reinhardts Spruch ,Steck’ die Kindheit in die Tasche und renne davon, denn das ist alles, was du hast‘ macht voll viel Sinn, wenn man sie erlebt. Ihren Lebenswillen, so viel Neugier, immer wieder ausprobieren zu wollen, die Bereitschaft, ganz neu zu starten, und nie zu denken: ,Ich weiß, wie es geht‘.“
Wiebke Yervis
„Ich fand es sehr schön, wie sie vom Leben am Theater gesprochen hat, die Geschichten von damals. Das Leben in der Kantine, der Kantinenwirt der mitdiskutierte über die Stücke. Ihr unaufhörliches Brennen. Dass es um mehr geht als die Frage danach, ob man gut war. Dass es um das Leben geht und auch das Überleben.“
Leonhard Hugger
„Ich fand es sehr cool, dass sie mit uns über ihre persönliche Herangehensweise an den Text gesprochen hat. Dass sie drei Monate vorher den Text lernt und ihn vor Probenbeginn schon völlig verinnerlicht hat und während der laufenden Vorstellungen am Text weiterarbeitet und nicht nur das Endprodukt der Premiere wiederholt und somit die Arbeit nie fertig ist – ich fand das wichtig, dass man sich das immer wieder ins Gedächtnis ruft.“
Elias Kirschgens