Über den zeitlichen Verfall von digitalem Audio: sich dem Verderben hingeben
„Pure, perfect sound – forever“ lautete der Marketing-Slogan, der von der Firma Philips zur Einführung der digitalen Compact Disc zu Beginn der 1980er-Jahre verwendet wurde. Seither sind fast vierzig Jahre vergangen und der weit überwiegende Anteil des Medienangebots, Audio wie Video, wird mittlerweile in digitaler Form produziert und gespeichert.
Allerdings hat an der glatten Fassade der digitalen Medientechnologie merklich der Zahn der Zeit genagt. Unsere tägliche Erfahrung beweist, dass die Technologie und ihr Datenmaterial im Gegensatz zur proklamierten Perfektion einem Verfallsprozess unterliegen und sie sich auf Dauer in verschiedener Weise zersetzen. Dies betrifft die Physis von Speichermedien und Abspielgeräten wie auch Medienformate und Software im Kontext ihrer technologischen Infrastruktur.
Das künstlerische Forschungsprojekt „Rotting sounds – Embracing the temporal deterioration of digital audio“ (in der deutschen Übersetzung „Verrottende Klänge – über den zeitlichen Verfall von digitalem Audio: sich dem Verderben hingeben“) beschäftigt sich mit den Ursachen, Mechanismen und Effekten solcher Verfallserscheinungen, speziell im Kontext von digitalen Klängen. Das Projekt wird durch die PEEK-Schiene (Programm zur Entwicklung und Erschließung der Künste) des Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF gefördert und startete im Mai 2018. Es ist eine Kooperation zwischen der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, der Universität für angewandte Kunst Wien (vertreten durch den Klangkünstler Till Bovermann) und der Akademie der bildenden Künste Wien (in Person der Restauratorin Almut Schilling).
These: Technologische Produkte jeder Art verfallen unaufhaltsam.
Degradation ist nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik mit der Zunahme der Entropie verknüpft und lässt sich nur temporär beziehungsweise lokal, aber nicht generell, aufhalten. Obsoleszenz ist dabei ein Schlüsselbegriff für das Phänomen der Abnutzung und des Funktionsverlustes innerhalb eines Ökosystems, das für komplexe digitale Medientechnologien eine bedeutende Rolle spielt. Es ist unser wesentlichstes Anliegen, für die künstlerische Praxis bislang unbekannte Freiheitsgrade im Umgang mit der Allgegenwart des Verfalls zu entdecken und prototypisch einzusetzen.
Folgende Forschungsfragen sind dabei zentral: Wie können derartige Phänomene innerhalb der Klangkunst verstanden, ausgelöst, reproduziert, gesteuert und genützt werden? Was sind die Mechanismen und Auswirkungen von Obsoleszenz in Hard- und Software? Wie kann man den Prozess des Verfalls in der digitalen Domäne modellieren und was sind seine Produkte und Überreste? Welche sind die Einflüsse der Umgebung und menschlicher Interaktion?
These: Digitale (und andere) Artefakte sind zu einem erheblichen Ausmaß Produkte der Symptome ihres Verfalls.
Zu Beginn des Projekts werden in Theorie und Experiment die Grundlagen und Mechanismen des Verfalls erforscht und europaweit werden Workshops organisiert, um künstlerisch relevante Konzepte zu erarbeiten. Das Team arbeitet mit internationalen Expert_innen wie Marije Baalman, Martin Howse und Martin Gasser an grundlegenden, offenen und leicht zugänglichen Technologien für digitales Audio, die dann als Basis für Experimente dienen. Besonderes Augenmerk gilt auch den gängigen und möglichen Repräsentationen von Musik in der digitalen Domäne, in der Form von Symbolen, Bitströmen oder auf Basis von Algorithmen. Weitere Untersuchungen betreffen Datenträger, elektronische Schaltkreise, Programmcodes und deren logische und physische Umgebungen, ganz speziell Aspekte der menschlichen Interaktion.
These: Um Verfallsprozesse zu verstehen, gilt es komplexe technologische Systeme zu meiden.
Im Zentrum der Forschung stehen künstlerische Ausdrucksformen, die die generellen Fragestellungen thematisieren. Prototypische musikalische Kompositionen, vorrangig für Lautsprecher, Klanginstallationen und ganz besonders auch medienübergreifende Werke werden entwickelt. Ausgewählte Positionen werden vollständig ausgearbeitet und der Öffentlichkeit über lange Zeiträume oder in herausfordernden Umgebungen ausgesetzt. Dafür steht am Campus der mdw das „Alte Auditorium“ zur Verfügung, ein nicht renovierter Hörsaal an der Rückseite des Bibliotheksgebäudes, der als Klanglabor und Ausstellungsraum genutzt wird. Am 29. März wird der Raum feierlich eröffnet und danach eingeschränkt öffentlich zugänglich sein. Die zunächst ausgestellten Arbeiten befassen sich mit langfristigen Transformationsprozessen von Klang in seiner Umgebung, geprägt von den verwendeten Materialien und Umwelteinflüssen.
Maxime: Verbünden wir uns mit dem Verfall und begreifen wir ihn als Transformation.
Das Vorhaben wird als Leuchtturmprojekt gesehen, das die Aufmerksamkeit gegenüber weitgehend unerforschten Eigenschaften von digitalem Klang als einer Hauptkomponente zeitgenössischer Kunst und entsprechend weitverbreiteter Technologie verstärkt. Das generelle Bewusstsein die Materialität, Fragilität und den sozio-ökonomischen Kontext digitaler Daten betreffend soll gehoben werden, indem diese Themen in der breiteren künstlerischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit diskutiert und verbreitet werden. Der Zugang ist im Grunde invers zu typischen technologischen oder wissenschaftlichen Methoden: Anstatt nach Wegen zur Überwindung eines allgemein so verstandenen Defekts zu suchen, ist der Vorschlag des Projektteams, diesen vollends anzuerkennen und als künstlerische Option zu verstehen, sodass sich potenzieller Schaden zu einem Nutzen wandelt.