„Ich habe Angst!“ Jeder kennt das Gefühl, mit dem wir uns immer wieder auseinandersetzen müssen, sei es in Form einer diffusen Angst oder in Form einer konkreten Bedrohung. Nimmt die Angst aber eine zentrale Rolle im Leben eines Menschen ein, kann es sich um eine Angststörung handeln, für deren Behandlung in der Musiktherapie wirksame Methoden und Ansätze entwickelt wurden. Der Leiter des Instituts für Musiktherapie der mdw Thomas Stegemann erklärt, warum Musiktherapie besonders bei Angststörungen gut wirksam ist.
„Angst ist etwas sehr Sinnvolles und gehört zu den Basisemotionen. Sie erlaubt uns, Situationen besser einzuschätzen“, betont Thomas Stegemann die wichtige Funktion von Angst. Im Laufe der Entwicklung eines Kindes treten alterstypische Ängste auf. Ein Baby erlebt zum ersten Mal Angst vor fremden Menschen, wenn es sich in einer Entwicklungsphase befindet, in der vertraute und fremde Personen deutlich voneinander unterschieden werden können. Im Kleinkindalter kommt die Angst vor bestimmten Tieren oder vor Naturereignissen wie beispielsweise einem Gewitter hinzu, ab Schuleintritt die Angst vor schulischem Versagen und dem schlechteren Abschneiden im Vergleich zu anderen.
Von einer Angststörung ist jedoch auszugehen, wenn die Ängste über einen längeren Zeitraum andauern, in inadäquaten Situationen auftreten und somit das Leben der Betroffenen massiv einschränken und diese am alltäglichen Leben nicht mehr oder nur unzureichend teilnehmen können (Anm. d. Red.: wie bereits im Artikel von Ulrike Demal näher erläutert). Durch diese Einschränkungen kommt es auch zu einer „Angst vor der Angst“. „Angststörungen gehören zu den häufigsten Störungen des Kindes- und Jugendalters“, sagt der Institutsleiter, der auch Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie ist. „Häufig äußern sie sich in Schulangst oder Schulphobie, wodurch die Kinder gar nicht mehr zu Schule gehen wollen oder können.“ Nicht behandelte Angststörungen werden mit ins Erwachsenenalter getragen, wo häufig noch Suchterkrankungen und andere psychische Störungen wie Depressionen hinzukommen.
Umso wichtiger ist daher, dass die Musiktherapie wirksame Behandlungsmethoden bietet. Thomas Stegemann erklärt musiktherapeutische Methoden anhand des Falles eines Mädchens, das an Emetophobie, der Angst vor dem Erbrechen, litt, weshalb sie nicht mehr zur Schule gehen konnte. Zwar hat sie sich tatsächlich einmal in der Schule erbrochen, jedoch ließ sich dadurch nicht die aufgetretene Schulangst erklären. In der Musiktherapie suchte Thomas Stegemann mit dem Mädchen nach Wegen, um ihrer Angst Ausdruck zu verleihen. Sie gestaltete ihre eigene „Angstmusik“ und hatte Freude am Erzeugen von lauten, gruseligen Geräuschen. „Der Effekt der Musiktherapie liegt darin, aktiv mit der Angst umzugehen zu lernen und ihr nicht schutzlos ausgeliefert zu sein“, erläutert der Experte. Im Verlauf der Therapie kam heraus, dass das Mädchen nicht mehr zur Schule gehen wollte, weil sie ihre Mutter, die einige Zeit vor der aufgetretenen Emetophobie einen leichten Schlaganfall erlitten hatte, nicht allein lassen wollte. Die Vorstellung, die geschwächte Mutter allein lassen zu müssen, hatte also zu dieser Angststörung geführt.
Durch die Gestaltung von eigener Musik, das Verwenden von Instrumenten und das Improvisieren auch gemeinsam mit dem Musiktherapeuten/der Musiktherapeutin erleben die Klient_innen der Therapie die Möglichkeit, ihre Angst, die oft als diffus und daher übermächtig wahrgenommen wird, greifbar und bearbeitbar zu machen und somit wieder Kontrolle über die Situation zu erlangen. Der Ohnmacht wird durch aktives Tun in Form von Musizieren und Ausprobieren von Instrumenten entgegengewirkt. Die Musiktherapeutin/der Musiktherapeut kann eine Beziehung zu den Klient_innen aufbauen, indem sie/er auf deren Musik wiederum musikalisch reagiert. Die Angst erhält durch den Einsatz von Instrumenten einen eigenen Klang, der im Gestaltungsspielraum der Betroffenen liegt. Durch ihre eigene Aktivität werden sich die Klient_innen der Musiktherapie ihrer selbst bewusster.
In einer anderen Form der Musiktherapie, der rezeptiven Musiktherapie, bringen die Klient_innen ihre Lieblingsmusik, die eine positive Wirkung auf sie hat, in die Therapie mit. Musik, auch live gespielt von der Therapeutin/vom Therapeuten, wird in Zusammenhang mit Entspannungsübungen eingesetzt.
Warum ist Musik therapeutisch so geeignet? „Musik wirkt über das Gehör, welches unser Alarmdetektor ist. Evolutionär ist es darauf ausgerichtet, die drohende Gefahr zu erkennen und einzuordnen“, erklärt Thomas Stegemann. Musik entspannt das „Furchtzentrum“ im Gehirn und aktiviert gleichzeitig das Belohnungssystem. „Daher kann ein Pfeifen im dunklen Wald die Furcht vertreiben“, gibt Thomas Stegemann ein bildliches Beispiel. Das Singen und Summen von Wiegenliedern hat denselben beruhigenden Effekt auf Babys und Kleinkinder. Was genau im Gehirn beim Hören und Spielen von Musik abläuft, hat Thomas Stegemann in seinem jüngsten Buch Was MusiktherapeutInnen über das Gehirn wissen sollten untersucht.
Durch ihre angstlösende Wirkung ist Musik ein ideales Medium, dank dem sich von Angststörungen betroffene Menschen ihrer Angst nähern und so besser mit ihr umgehen können. Der Übermacht der Angst wird mit Musik und Musizieren etwas Klangvolles entgegengestellt, das die Angst schließlich in Mut umwandeln kann.