Man muss kein Technik-Nerd sein, um Virtual Reality faszinierend zu finden. Der Begriff stammt aus der Science Fiction und ist bald 40 Jahre alt. Fast genau so lang schon müht sich der Film mit VR ab, wobei das klassische Erzählkino immer nur an der Oberfläche bleibt: Mann oder Frau, gern auch jugendliche Gamer, setzen eine Hightech-Brille auf und fangen an, komische Verrenkungen zu machen. Das jedoch, was sie bewegt und diese motorischen Reaktionen auslöst, ist in der traditionellen Kino-Vorführsituation nicht adäquat darstellbar.

Stills aus Fluchtpunkt
Still aus „Fluchtpunkt“ ©Béla Baptiste, Alexander Dirninger, Lee Niederkofler, Lena Weiss

„Wenn das Kino die Leinwand verlässt“, lautete denn auch programmatisch der Titel eines von Eva Fischer kürzlich für die Diagonale zusammengestellten VR-Schwerpunkts. Bereits zum dritten Mal war die Kunsthistorikerin und Leiterin des Netzwerks sound:frame damit Gast des österreichischen Filmfestivals in Graz, um aktuelle VR-Filmprojekte vorzustellen und unter Beteiligung namhafter Institutionen (der Creative Industries Styria, dem Institut für Design und Kommunikation an der FH Joanneum usw.) über Themen wie Storytelling im dreidimensionalen Raum oder generell die Zukunft des immersiven Filmemachens zu diskutieren.

Stills aus Fluchtpunkt
Still aus „Fluchtpunkt“ ©Béla Baptiste, Alexander Dirninger, Lee Niederkofler, Lena Weiss

„Es kommt viel aus dem Filmbereich, viel vom Theater, und ist doch etwas ganz Eigenes“, fasst Kuratorin Fischer die rezente Entwicklung zusammen. „Ich finde es spannend, was gerade alles passiert und wie rasch sich Dinge auch verändern. Vor drei Jahren hat noch die Frage dominiert: Wird VR den Film ablösen? Aber mittlerweile ist einfach klar, dass es sich um ein neues Medium handelt, wo andere Sachen möglich sind als im Spielfilm, der als fertiges 90-Minuten-Produkt funktioniert – schon einfach deshalb, weil jeder Mensch, der sich so eine Brille aufsetzt, anders schaut und damit sozusagen auch die Inhalte beeinflusst.“

Stills aus Fluchtpunkt
Still aus „Fluchtpunkt“ ©Béla Baptiste, Alexander Dirninger, Lee Niederkofler, Lena Weiss

Die Illusion, sich in einem anderen, nämlich dem virtuellen Raum zu befinden, sei „schon sehr real“, beschreibt Lena Weiss ihre erste Erfahrung mit VR. „Ich stand auf einer Burg, da ging es hundert Meter runter. Dann habe ich versucht, einen Schritt nach vorne zu machen, aber es war schlicht unmöglich. Der Körper checkt nicht mehr, dass er noch im Wohnzimmer ist und festen Boden unter den Füßen hat.“ Gemeinsam mit dem Regisseur Béla Baptiste und dem Kameramann Alexander Dirninger von der Filmakademie Wien hat Lena Weiss, die ebendort Produktion studiert, den VR-Film Fluchtpunkt realisiert. Seinen Ausgang nahm er bei der Postproduktionsfirma Vienna FX, doch die meisten Leute und das Equipment kamen von der Universität. „Es war eine Win-win-Situation“, erzählt Dirninger. „Wir haben ewig lang geeignete Locations gesucht und nur durch Zufall entdeckt, dass das, was im Studio gerade an Kulissen aufgebaut war, total für uns gepasst hat. Dafür, dass wir dort drehen durften, haben wir später einen Vortrag gehalten und darüber berichtet, wie wir gearbeitet haben – soweit ich weiß, hat an der Filmakademie vor uns
noch niemand etwas mit VR gemacht.“

VR-Vorführraum
VR-Vorführraum beim „Vienna Shorts Festival 2018“ ©Lena Weiss

Obwohl ihre Präsentation natürlich aufwendiger ist als die klassische Projektion, erfreuen sich VR-Filme wie Fluchtpunkt auch bei Festivals wachsender Beliebtheit. Der Plot der siebenminütigen Pionierarbeit, die neben der Diagonale u. a. noch im Rahmen des Vienna International Shorts, des 360-Grad-Festivals und der Shortynale gezeigt wurde, ist rasch erzählt. Als Zuschauer_in befindet man sich exakt im Fluchtpunkt von vier Räumen, in denen verschiedene Dinge parallel ablaufen: In ihrer Wohnung bereitet sich Künstlerin Carlotta (Dolly Lewis) auf eine Vernissage vor. Auf dem Gang davor tigert ihr Exfreund wütend auf und ab. Die Gäste in der Galerie erwarten das Eintreffen der Künstlerin. In einem Hinterhof entdecken zwei flüchtige Räuber ein Fenster; es führt zu Carlottas Wohnung.

Kamera-Aufbau
Kamera-Aufbau der Außenszene bei „Fluchtpunkt“ ©Lukas Sumper

„Die vier Räume wurden separat in vier Plansequenzen gedreht, aber damit die Geschichte funktioniert, musste das Timing haargenau aufeinander abgestimmt werden“, erklärt Béla Baptiste. „Das Besondere an dem Film ist, dass ich mich als Zuschauer_in frei um 360 Grad drehen und in jede dieser vier miteinander verbundenen Szenerien blicken kann. Es gibt eine Geschichte – ganz klassisch –, doch das Publikum selbst entscheidet, wann es wo hinschaut, und macht so quasi selbst den Schnitt.“

Ausgetüftelt ist auch die Tonspur, die dem Prinzip des „perspektivischen Hörens“ folgt: Dort, wo man gerade hinschaut, ist es lauter, hinter einem, wie im wirklichen Leben, tendenziell so, dass man nicht unbedingt jedes Wort oder Geräusch sogleich mitbekommt. Umso stärker, meint Lena Weiss, habe man das Gefühl, „was hinter dir ist, im virtuellen Raum, das ist wirklich hinter dir. Horrorsachen, glaube ich, funktionieren auch extrem gut.“

Mangels einschlägiger Erfahrungen musste das Team seine ganze Kreativität spielen lassen, sagt Filmemacher Baptiste, der richtig Feuer gefangen hat und von New York aus bereits ein neues Projekt vorbereitet. Die größten Potenziale der VR im Film sieht er im künstlerischen und dokumentarischen Bereich: „Das immersive Bild ermöglicht Zuschauer_innen, auf einem Berg in Peru zu sein – in einer Art und Weise, wie es ein flacher Bildschirm niemals kann.“

Kamera-Aufbau
Kamera-Aufbau der Außenszene bei „Fluchtpunkt“ ©Lukas Sumper

Tatsächlich setzen VR-Filme weniger auf Identifikation, sondern vor allem haptische Erfahrung, etwa darauf, ein Mensch anderen Geschlechts, anderer Hautfarbe oder aus einem anderen Kulturkreis zu sein. In dem Zusammenhang ist von VR als „Empathie-Maschine“ die Rede. Beispielhaft dafür führt Eva Fischer Remain at Home von GO! Pictures ins Treffen, worin eine Großmutter mit ihrem Enkelsohn aus einem Krisengebiet zu fliehen versucht, während rundherum Bomben einschlagen. Oder aktuell Sebastian Brauneis’ Inside Lieutnant Gustl, bei dem man ständig zwischen der Außensicht auf den (Anti-)Helden und seiner Innensicht switcht: vom Gustl zum Ungustl und wieder retour.

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