Vom Musiktheoretiker zum Gegenstand historischer Forschung
Im Februar 2019 startete an der mdw das dreijährige Drittmittelprojekt Heinrich Schenker, Tagebücher 1915–1919: kommentierte Edition. Es markiert einen weiteren Höhepunkt in der historischen Auseinandersetzung mit dem Wiener Theoretiker.
International bekannt für seine Theorie von der hierarchischen Struktur tonaler Musik, besitzt Heinrich Schenker (1868–1935) heute einen bedeutsamen Platz in der Geschichte der Musik. Mithilfe einer von ihm entwickelten Reduktionsmethode lassen sich in der Tiefenstruktur tonaler Werke organische Zusammenhänge offenlegen, für die Schenker die Begriffe Urlinie und Ursatz prägte. Während Schenker selbst bis an sein Lebensende als Autor und Privatlehrer ohne akademische Position gewirkt hatte, emigrierten viele seiner jüdischen Schüler in die USA und verankerten Schenkers Theorie in der akademischen Welt. Die Analyse nach Schenker errang im Studienplan zahlreicher amerikanischer Musiklehranstalten eine führende Stellung.
In Europa wurde Schenkers Lehre zunächst nur zögerlich aufgenommen. Dafür verantwortlich waren neben der Vertreibungspolitik der Nazis vor allem Schenkers polemische Tonart und seine antimoderne Haltung, die beide in Amerika kaum eine Rolle spielten, da die originalen Schriften dort weitgehend nicht rezipiert wurden. Im deutschsprachigen Raum verursachten sie jedoch eine Skepsis gegenüber Schenker, die eine Beschäftigung mit seiner Theorie oft erschwerte. Dennoch konnte sich Schenkers Lehre in den 1950er-Jahren an der Wiener Musikakademie, der heutigen mdw, etablieren. Zu verdanken haben wir dies Franz Eibner, einem Enkelschüler Schenkers und damaligen Akademiedozenten. Was mit fakultativen Abendkursen begann, führte über lehrplangebundene Seminare hin zur Schaffung der Lehrkanzel für Tonsatz nach Heinrich Schenker, in deren Rahmen 1976 der Lehrgang für Tonsatz nach Heinrich Schenker in Kraft trat, der für Studierende aller Fachrichtungen sowie Gasthörer_innen belegbar war und zudem Pflichtvorlesungen für Kompositions- und Dirigentenschüler_innen vorsah.
Die von Eibner geführte Lehrkanzel wurde 1986 von Peter Barcaba übernommen und 1992 aufgelassen. Der Lehrgang blieb vorerst bestehen, jedoch wurde seine Semesterzahl 1997 von sechs auf vier gekürzt. Die Leitung hatte von 1994 bis 2006 Martin Eybl inne, danach Patrick Boenke. 2010 wurde der Lehrgang schließlich eingestellt. Studierende haben seitdem weiterhin die Möglichkeit, Lehrveranstaltungen zur Schenker-Analyse als freie Wahlfächer zu belegen, wobei sich das Lehrangebot 2017 abermals reduziert hat. Trotzdem kann die mdw heute von sich behaupten, die einzige Hochschule Europas zu sein, an der gründliche Kenntnisse in der Analyse nach Schenker in einem mehrsemestrigen Curriculum erworben werden können.
Ein Rückgang des Angebots an Lehrveranstaltungen zur Schenker-Analyse lässt sich nicht nur an der mdw beobachten. Selbst im Zentrum des „Schenkerismus“, den USA, zeichnet sich an vielen Musiklehranstalten eine ähnliche Entwicklung ab. Der Hauptgrund dafür liegt in der Intensivierung der Auseinandersetzung mit Stilrichtungen aus der Zeit vor 1700 und nach 1900. Dabei handelt es sich weitgehend um Musik jenseits der harmonischen Tonalität, die sich mit Schenkers analytischer Methode nur bedingt oder gar nicht erschließen lässt.
Parallel zu diesen Entwicklungen macht sich ein steigendes Interesse an Schenkers Person im kultur- und sozialgeschichtlichen Kontext sowie am ideengeschichtlichen Kontext seiner Theorie bemerkbar. In letzter Zeit wandten sich einzelne Autoren verstärkt historischen Fragen zu, was dadurch begünstigt wurde, dass mittlerweile Schenkers polemische Streitschriften in englischer Übersetzung vorliegen und zahlreiche Dokumente aus seinem Nachlass auf der frei zugänglichen Website Schenker Documents Online (SDO) erschienen sind.
Einen ersten Höhepunkt der herrschenden Tendenz zu historischen Fragestellungen markierte das internationale Symposium Schenker-Traditionen, das zusammen mit der Ausstellung Rebell und Visionär. Heinrich Schenker in Wien 2003 an der mdw stattfand. Von 2007 bis 2010 und von 2014 bis 2017 war die mdw Standort zweier vom österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) geförderter Projekte, in deren Rahmen Schenkers Tagebücher 1912–1914, 1918–1925 und 1931–1935 auf SDO publiziert wurden. 2016 wurde an der mdw erstmals ein musikhistorisches Seminar zu Schenker und seinem soziokulturellen Umfeld angeboten.
Schenkers Biografie erweist sich in vielerlei Hinsicht als ein ergiebiges Forschungsthema. Schenker entfaltete in Wien ein breites Tätigkeitsfeld, aus dem sich ein großes Netz an beruflichen Beziehungen ergab. Im Laufe seines Lebens wirkte er auch als Komponist, Dirigent, Pianist, Zeitungskritiker und Herausgeber von Noten. Ein vor allem für die Identitätsforschung interessanter Aspekt in seinem Leben ist jener, dass Schenker ein assimilierter Jude deutschnationaler Gesinnung war, der eine Konversion nie ernsthaft erwog. Informationen dazu liefern uns seine minutiös geführten Tagebücher. Diese geben nicht nur Aufschluss über seine persönlichen Lebensumstände, sondern bieten auch tiefe Einblicke in die damalige Kulturszene Wiens.
Im Februar 2019 startete an der mdw ein weiteres dreijähriges FWF-Projekt zu Schenker, das eine kommentierte Edition seiner Tagebücher 1915–1917 und seines politischen Nachkriegstagebuchs 1918/19 vorsieht. Zusammen mit einer englischen Übersetzung werden die Texte bis 2022 auf die Website SDO gestellt, womit es dort zu einem Abschluss der zweisprachigen Gesamtausgabe von Schenkers Tagebüchern kommt. Mit dem Projekt, das vom Autor dieser Zeilen geleitet wird, kann die mdw ihr Profil als Institution mit einem Schwerpunkt auf Schenker erneut schärfen.