Ein Symposium der mdw Gender Studies in Kooperation mit der New York University
Der Verschränkung von Geschlechter- und kulturwissenschaftlicher Chorforschung widmete sich am 10. und 11. Jänner 2020 ein internationales Symposium der Gender Studies am IKM der mdw in Kooperation mit dem German Department der New York University. Renommierte Expert_innen aus Österreich, den USA und Deutschland stellten zwei Tage lang ihre Sichtweisen auf die Relation von Chor und Figurenbildung vor. Sichtbar wurde dabei vor allem, wie politisch die Beschäftigung mit Ästhetik sein kann, denn von der Auseinandersetzung mit dem Chor in den darstellenden Künsten aus wurde die für die mdw so zentrale Frage nach der Bestimmung von Diversität noch einmal gestellt und nicht zuletzt auf den Wandel gegenwärtiger Geschlechterverhältnisse bezogen. Dabei entpuppte sich das Veranstaltungsthema als besonders produktiv für die aktuellen Diskussionen um „kinship“ – also um neue Formen verwandtschaftlicher Bezugnahme jenseits herkömmlicher, paternaler Bindungen.
„Machen Sie, was Sie wollen. Das einzige, was sein muss, sind griechische Chöre.“ Spätestens mit Einar Schleefs legendärer Burgtheater-Inszenierung von Elfriede Jelineks Ein Sportstück 1998, aus dem diese nicht minder berühmte Anweisung stammt, wurde die Frage nach chorischen Darstellungsweisen zu einem zentralen Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschung. Im Rahmen des Symposiums wurde der historisch angereicherte, auf Musik und Theater verweisende Chorbegriff nun keineswegs mobilisiert, um unsere Selbstversicherung in einer vermeintlich europäischen, jahrtausendealten Tradition zu propagieren.Vor dem Hintergrund sich fundamental wandelnder gesellschaftlicher Verhältnisse, neuer Versammlungsformen, neuer familiärer Muster, neuer Vorstellungen von Geschlechtlichkeit, diente der Rekurs auf antike Chöre stattdessen dazu, sich über unsere Gegenwart zu verständigen – und zwar über die konkrete Arbeit am künstlerischen Material. Entsprechend ging es darum, gemeinsam ein Verständnis mdw-spezifischer, von der Ästhetik ausgehender Gender Studies zu entwickeln. Auf der Höhe heutiger Theoriebildung waren die Beiträge dem Studium künstlerischer Phänomene und den Schnittstellen zu den drängenden politischen Fragen unserer Gegenwart gewidmet.
Dabei zeigte sich, wie eng die Geschichte kritischer feministischer Forschung mit dem verknüpft ist, was heute über den Begriff des Chors diskutiert wird: „Weiblichkeit“ wurde in den 1970er-Jahren als Gedankenfigur für das eingesetzt, was dem männlich normierten Bild „des Menschen“ als Zentrum der Welt vorausgesetzt ist. Die Weiblichkeitsmetaphorik korrespondiert mithin mit der Figur des Chors, aus dem der Protagonist im Theater erst hervortritt. Haben sich Fragen des Geschlechts längst intersektional diversifiziert, so hat sich auch das Feld chorischer Darstellungen deutlich ausdifferenziert und von der Repräsentation sozialer Gruppen verabschiedet. Vor diesem Hintergrund war der erste Veranstaltungstag den darstellenden Künsten und der aktuellen Bezugnahme auf die Antike gewidmet. Nach der Begrüßung durch die Vizerektorin für Organisationsentwicklung, Gender & Diversity Gerda Müller bestimmten die Organisator_innen Evelyn Annuß (mdw-Professur Gender Studies) und Sebastian Kirsch (NYU, Humboldt Fellow) einleitend die Reflexion von „Diversität“ als Schnittstelle zwischen Geschlechter- und Chorforschung. Was die mdw-Diversitätsstrategie mit chorlyrischen Fragmenten aus dem 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zu tun haben könnte, führte die bislang an der Ruhr-Universität Bochum lehrende Theaterwissenschaftlerin Ulrike Haß vor. Die jungen Mädchen aus diesen noch vor der antiken Tragödie stammenden Chören wurden als Figuren jenseits eines zweigeschlechtlich gedachten Genealogieverständnisses präsentiert. Damit wurde die Antike auf unsere heutigen Diskussionen um Transgender, drittes Geschlecht oder Patchwork-Familien beziehbar. Sebastian Kirsch, dessen Buch Chor-Denken gerade erschienen ist, knüpfte mit seiner Lektüre der aristophanischen Komödie an die Frage nach nichtbinären Verhältnisnahmen an und verschob sie auf den Bezug zum Kosmos. Sein Beitrag rückte damit in die Nähe der Diskursverschiebungen in den Gender Studies: Ging es etwa in Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter zu Beginn der 1990er-Jahre noch um die Dekonstruktion von heterosexuellen Normen, so tritt mit Blick auf die Geschlechterforschung im Zeichen des Klimawandels das Imaginieren anderer, speziesübergreifender Verwandtschaftsverhältnisse in den Vordergrund.
Die Erfurter Komparatistin Bettine Menke, bekannt für ihre Studien zur Figuration, zur Herstellung von Figuren in der Sprache und auf der Bühne, widmete ihren Beitrag dem Nachleben des antiken Komödienchors in der neuzeitlichen komischen Figur. Diese sei immer schon als unabschließbarer Haufen dargestellt worden, in dem sich nicht zuletzt geschlechtlich codierte Ausstülpungen grotesk vermischten. Das lieferte bereits den Ausblick auf aktuelle chorische Erscheinungsformen. Im voll besetzten spiel|mach|t|raum wurde entsprechend rege und kenntnisreich diskutiert. Das Symposium glich einer offenen Werkstatt und ging schließlich in einen Artist Talk mit der Regisseurin und Leiterin des Wiener theatercombinats Claudia Bosse über. Ausgangspunkt war Bosses viel beachtete Inszenierung von Senecas Thyestes, die wenige Wochen zuvor in Wien Premiere hatte. Denn diese Inszenierung zeichnete sich durch einen genuin diversen Chor aus, in dem sich die Körper trotz ihrer Nacktheit den herkömmlichen sexualisierten oder rassistischen Markierungen entzogen. Daran wurde die Gegenwärtigkeit der Beschäftigung mit antikem Material nochmals in besonderer Weise deutlich.
Der zweite, von der Wiener Theaterwissenschaftlerin Monika Meister (IKM und Max Reinhardt Seminar) moderierte Teil des Symposiums erweiterte den Blick auf die angrenzenden Künste und stellte die Relation zum Politischen in den Vordergrund. Eröffnet wurde der Tag mit einem Vortrag der mdw-Musiksoziologin Rosa Reitsamer. Ausgehend von „Hor 29. Novembar“, einem Wiener Do-it-yourself-Gesangschor, beschäftigte sie sich damit, wie sich Aktivist_innen über künstlerische Praktiken organisieren und damit auf gesellschaftliche Auseinandersetzungen um Geschlechtlichkeit und Migration einwirken. Die New Yorker Germanistin Elisabeth Strowick nahm in einer beeindruckenden Lektürearbeit Gottfried Kellers Mitte des 19. Jahrhunderts verfassten Bildungsroman Der grüne Heinrich zum Ausgangspunkt, um die Chordiskussion vom Feld der darstellenden Kunst auf die Literatur zu übertragen. Damit wurde die Übersetzbarkeit der bisherigen Diskussion um chorische Aufführungspraktiken offenbar.
Bevor das Symposium mit der Premiere von Elsa-Sophie Jachs und Thomas Köcks Chorarbeit Kudlich in Amerika im Schauspielhaus ausklang, untersuchte Andrea Krauss vom German Studies Department der NYU die bislang unveröffentlicht gebliebenen, gescheiterten Marx-Lektüren der Philosophin Hannah Arendt, um den Chorbegriff noch einmal in seinen je spezifischen Bedeutungen für unterschiedliche Forschungsfelder diskutierbar zu machen. So ermöglichte das ebenso international wie hochkarätig besetzte Symposium erste Einblicke in ein disziplinenübergreifendes Arbeitsfeld kulturwissenschaftlich orientierter Gender Studies, in dem sich wissenschaftliche und künstlerische Forschung verbinden und die Arbeit an und mit den Künsten ernst genommen wird. In neuer Besetzung wird an der New York University im kommenden Herbst ein Folgeworkshop stattfinden, dessen Ziel es ist, deutsch- und englischsprachige Forschungsansätze noch stärker miteinander in Dialog zu bringen und hierbei vor allem die Auseinandersetzung mit Intersektionalitätsfragen zu akzentuieren. Vor Ort sind aus der Tagung zwei weitere Initiativen entstanden: Die Studierenden Dagmar Tröstler (Gender Studies) und Cosima Baum (Bühnenbild) haben zusammengefunden, um gemeinsam eine chorische Performance zu realisieren, die im Mai öffentlich gezeigt werden soll. Zudem ist ein Workshop zur künstlerisch-wissenschaftlichen Chorforschung mit Angehörigen der mdw in Planung.