Der österreichische Musikwissenschaftler Gerold W. Gruber ist Gründer und Leiter des exil.arte-Zentrums der mdw. exil.arte fungiert als Anlauf- bzw. Schnittstelle für die Rezeption, Erforschung, Bewahrung und Präsentation der Werke österreichischer Komponist_innen, Musiker_innen und Musikforscher_innen, die im sogenannten Dritten Reich als „entartet“ galten.
Seit 2016 ist das Zentrum nun Teil der mdw und hat bereits ein umfangsreiches Archiv mit Exilmusik aufgebaut, das nicht nur Wissenschaftler_innen und Künstler_innen offensteht, sondern auch Musikliebhaber_innen mittels Ausstellungen, Konzerten, Workshops, Seminaren, Publikationen und Lehrveranstaltungen etc. vorgestellt wird. Im Rahmen der Langen Nacht der Forschung am 8. Mai 2020 erfahren Interessierte, was passiert, wenn ein Nachlass an das Zentrum kommt. Im mdw-Magazin erhalten Sie schon vorab einen kleinen Einblick in die Arbeit des exil.arte-Zentrums.
Seit wann gibt es exil.arte und womit beschäftigt es sich genau?
Gerold Gruber (GG): Der Verein exil.arte wurde 2006 mit dem Ziel gegründet, jene Musik wieder auf das Podium und die Opernbühne zu bringen, deren Schöpfer vertrieben, verfemt oder ermordet wurden. Wir haben im Jüdischen Museum Wien, im Haus der Musik und an anderen Orten im In- und Ausland Konzerte mit dieser Musik veranstaltet. Die Reaktionen waren so positiv, dass wir in den ersten zehn Jahren des Bestehens über 100 Konzerte veranstalten sowie etliche CDs produzieren konnten.
Wie kommt man auf so eine Idee?
GG: Ich habe mich als Schönbergforscher natürlich auch mit seinem Umfeld beschäftigt und mir ist bald klar geworden, dass es hier ein großes Reservoir an interessanter Musik gibt, die bisher weder gespielt noch beforscht wurde. Ich sah es einerseits als Herausforderung, andererseits als Verpflichtung an, diese Musik aus der Vergessenheit zurückzuholen.
Wie kommen Sie an die Nachlässe?
GG: Österreich hat das Privileg, weltweit dutzende Kulturforen zu betreiben, deren Mitarbeiter_innen ein großes Wissen über die dortigen Exilant_innen gesammelt haben. Diese Informationen kommen uns jetzt zugute. Wir bekommen laufend Informationen über Personen, Kinder, Enkelkinder, die daran interessiert sind, dass das Werk ihrer Vorfahren sachgemäß betreut und auch veröffentlicht wird.
Was war Ihr erster Nachlass?
GG: Als Musikforscher hatte ich schon immer ein besonderes Faible für Nachlässe und war seit dem Studium immer Gast in der Musiksammlung der Nationalbibliothek und der Wienbibliothek. Ich war fasziniert von der Ausstrahlung, die Originale auf mich hatten, egal ob es sich um Schubert-, Beethoven-, Mahler- oder Berg-Autografe handelte. Der erste Nachlass, den ich dann nach Wien holen konnte, war eigentlich ein Vorlass, nämlich jener von Walter Arlen, der derzeit 99-jährig in Los Angeles lebt. Hier hatte ich auch das erste Mal die Gelegenheit, sowohl mit Autografen konfrontiert zu sein, als auch mit jenem, der mir aus erster Hand Informationen zu den Manuskripten geben konnte – eine ganz außerordentliche Erfahrung.
Wie kommt man mit Besitzer_innen von Nachlässen in Kontakt und wie ist das weitere Prozedere?
GG: Sobald wir eine_n sogenannte_n Rechtnachfolger_in ausgeforscht haben, die oder der uns die Notenmaterialien wie auch Dokumente, Fotos, Kostüme und Ähnliches übergeben möchte, müssen natürlich die rechtlichen Rahmenbedingungen überprüft und geklärt werden, insbesondere die Frage der Eigentums- und Verwertungsrechte. Wir bieten an, dass die Materialien als Schenkung oder als Leihgabe an uns übergeben werden können. Immer haben wir dabei im Auge, dass wir die Materialien nicht nur sichten und aufbewahren, sondern diese auch der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen wollen.
Was passiert, nachdem ein Nachlass am exil.arte-Zentrum eingetroffen ist?
GG: Unsere Archivarin erstellt unmittelbar nach dem Eintreffen eine erste Bestandsliste, damit wir immer einen Überblick über den Umfang haben. Als zweiter Schritt erfolgt die Erstellung eines Werkkatalogs jener Werke, die Teil dieses Nachlasses sind. Anschließend werden sie in unseren Archivräumen gelagert, und zwar bei konstanten klimatischen Bedingungen von 20 Grad und 50 Prozent Luftfeuchtigkeit.
Über welchen Nachlass haben Sie sich am meisten gefreut?
GG: Die meisten Nachlässe kommen im Schnitt ca. ein bis zwei Jahre nach der ersten Kontaktaufnahme an unser Zentrum. Im Fall von Hans Gál habe ich zehn Jahre lang mit seiner Tochter Eva über eine mögliche Übersiedlung des Nachlasses nach Wien gesprochen. Inzwischen bin ich mit ihr befreundet und habe mich besonders darüber gefreut, dass sie gleichsam die Gründung des Zentrums im Jahr 2016 „abgewartet“ hat und uns dann schließlich den Nachlass ihres Vaters übergeben hat.
Was ist das Besondere am exil.arte-Zentrum im Vergleich zu anderen solchen Einrichtungen?
GG: Wir sind ein aktives Zentrum und nicht nur ein Archiv. Dies bedeutet, dass wir zwar die Archivarbeit selbstverständlich nicht geringschätzen, aber großes Augenmerk darauf legen, dass die Materialien in Form von Ausstellungen, Konzerten, Publikationen etc. wieder der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden.