Der schriftliche Nachlass als künstlerisches Vermächtnis
Im Juni dieses Jahres wäre der Kontrabassist Ludwig Streicher hundert Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass gab es die eine oder andere Radiosendung, auch ein Gedenkkonzert im Wiener Musikverein war geplant (das krisenbedingt auf nächstes Jahr verschoben werden musste). Streichers Biografie von den Anfängen in Krakau als Solobassist und Solocellist bis zur internationalen Karriere als Solist mit allen dazugehörigen Anekdoten wurde ausgiebig beleuchtet, und alle Einschätzungen der Persönlichkeit Streichers sind sich über seinen Ausnahmestatus als Musiker, als Wegbereiter des Kontrabasses als Soloinstrument und als eminent einflussreicher Pädagoge einig – völlig zu Recht. Und doch muss ich mich als sein Nachfolger an der mdw und sein Schüler, der damals noch recht kleinen Klasse der 1970er-Jahre zu Wort melden. Es geht mir um nichts weniger als sein musikalisches Erbe.
Ludwig Streicher war neben seiner Orchester- und Unterrichtstätigkeit auch als Solist äußerst aktiv. Abgesehen von seiner starken Bühnenpräsenz und einem immer wieder beschriebenen gewissen „Showtalent“ war er aber nicht nur ein großartiger Musiker, sondern vor allen Dingen auch ein akribischer Arbeiter. Als solcher hat er permanent an seinen Interpretationen gefeilt, musikalisch wie technisch. Dabei hat er nicht nur Kleinigkeiten geändert, sondern oft völlig neue Fassungen seines Repertoires erstellt. Mit bewundernswertem Fleiß schrieb Streicher die Solostimmen immer wieder neu und schickte anschließend einen der Studierenden damit in die Bibliothek in der Lothringerstraße, wo damals der einzige Kopierer stand („Da hast zehn Schilling, geh hinüber zum Herrn Jünger…“), um die neue Ausgabe zu vervielfältigen. Diese Fassung war dann für ihn die einzig gültige, und Streicher bestand in seinem notorisch autoritären Stil auch kompromisslos darauf, sie penibel auszuführen. Wenn man dann das Pech hatte, mit einer überholten Fassung eines Stückes im Unterricht zu erscheinen, gab es Krach.
Diese Praxis der andauernden Erneuerung hat dazu geführt, dass vom gesamten Unterrichtsrepertoire, Solostücke wie Orchesterstellen, immer wieder neue Fassungen in Umlauf kamen, die immer und immer wieder kopiert und über die Jahrzehnte (!) weitergereicht wurden. So sind heute viele der ehemaligen Schüler_innen Streichers mehrerer Generationen auf der ganzen Welt im Besitz von Kopien von ihm selbst handgeschriebener Solostimmen unseres Repertoires, natürlich aus den unterschiedlichsten Perioden. Leider hat sich bei vielen von ihnen der Zugang durchgesetzt, diese jeweiligen Fassungen als etwas Sakrosanktes zu betrachten, in Stein gemeißelt, als ob man sich davor fürchtete, post mortem den Groll des Meisters auf sich zu ziehen. Nur Wenige trauten und trauen sich, trotzdem etwas zu ändern.
Die selbstständige Suche nach einer eigenen Interpretation, nach eigenen technischen Lösungen, die für einen selbst vielleicht besser funktionieren könnten, bleibt dabei oft auf der Strecke. Wenn man jedoch die geschilderte Arbeitsweise Streichers bedenkt, die von stetigem Suchen nach Verbesserung in musikalischer wie in technischer Hinsicht gekennzeichnet war, muss man zu der Überzeugung kommen, dass man der musikalischen Idee und dem technischen Zugang Streichers durch diese Haltung nicht gerecht wird. Wenn man also „nicht nur die Asche anbeten, sondern die Glut bewahren“ will, darf man nicht auf ewig eine zufällige Momentaufnahme aus dem Werdegang eines Musikers immer wieder gleich exekutieren. Eine würdige Behandlung des Nachlasses und eine Fortsetzung der musikalischen Idee Ludwig Streichers kann nur bedeuten, dass man stets am Repertoire weiterarbeitet, an Interpretationen feilt, technisch Neues sucht und ausprobiert, wie er es selbst auch Zeit seines Lebens getan hat.