Kürzlich wurden an der mdw das Fach Stimmforschung und eine begleitende Laufbahnstelle neu eingerichtet. Mit dem Wintersemester 2020 starteten nun drei Studierende der mdw ein wissenschaftliches Doktoratsstudium in diesem eigenständigen Fach. Diese weltweit fast einzigartige Entwicklung bietet Anlass, sich mit der Begrifflichkeit bzw. den entsprechenden Hintergründen und Aufgabenstellungen etwas näher zu befassen.
„Stimmforschung, das ist etwas Medizinisches, oder?“ – So oder ähnlich reagieren Menschen oft, wenn sie mit dem Terminus konfrontiert werden. Verständlich, schließlich entsteht die Stimme im Hals, also in einem nicht einsehbaren Teil des Körpers, in den üblicherweise nur ärztliches Fachpersonal Einblick hat. Interessanterweise ist die Thematik aber wesentlich vielschichtiger und lässt sich deutlich vom rein medizinisch orientierten Fachbegriff im Rahmen der Phoniatrie bzw. Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde abgrenzen. Das Fach befasst sich schwerpunktmäßig mit der Physiologie und Physik der Stimmproduktion sowie der akustischen Stimmklanganalyse im künstlerischen und didaktischen Kontext des Singens in allen Stilen sowie beim Sprechen im Schauspiel. Stimmforschung ist ein hochinterdisziplinäres Wissenschaftsgebiet, in das Elemente aus vielen Fachrichtungen einfließen, nämlich Phonetik, systematische Musikwissenschaft, Nachrichtentechnik, digitale Signalverarbeitung, nicht-lineare Mathematik, Physik (mit Schwerpunkten in Aerodynamik, Mechanik/Dynamik und Akustik), Biologie, Psychologie sowie Musikermedizin, Phoniatrie und Logopädie.
Aufgrund der Vielfalt dieser zu großen Teilen naturwissenschaftlichen Einflüsse drängt sich vielleicht die Frage auf, warum denn dieses Fach an einer Kunstuniversität etabliert wurde. Die Stimmforschung am Antonio Salieri Institut für Gesang und Stimmforschung in der Musikpädagogikwidmet sich neben einer grundlagenwissenschaftlichen Aufarbeitung der Thematik vor allem Fragestellungen aus der gesangspädagogischen Praxis. Die im interdisziplinären Kontext gewonnenen Erkenntnisse fließen wieder in die Lehre ein. Es geht also langfristig nicht nur um den Wissenserwerb, sondern auch um den Wissenstransfer.
Lehrbücher und -schriften zur Gesangspädagogik gibt es seit mehreren Jahrhunderten. Die entsprechenden Konzepte sind vielfach erprobt und bewährt. „Wozu dann plötzlich eine naturwissenschaftliche Erforschung des Gesanges? Zerstört das nicht die Kunst?“ – Es ist einfach, diese Frage mit einem Nein zu beantworten. Denn hier kann eine ganz klare inhaltliche Abgrenzung gemacht werden, und zwar zwischen der Vortragskunst und Interpretation auf der einen Seite und Stimmbildung im Sinne des Erwerbs stimmtechnischer Fertigkeiten auf der anderen. Stimmforschung bezieht sich mehr oder weniger ausschließlich auf die Stimmbildung, und zwar insbesondere auf die physiologisch-muskulären Prozesse im Körper, die auf den physikalischen Ebenen der Aerodynamik (hinsichtlich des Atemapparates), der Mechanik (Stimmlippenschwingung) und Akustik (Klangentstehung im Kehlkopf und Klangmodifikation im Rachen und Mundraum) wirken. Weiteres Augenmerk liegt einerseits auf den neuronalen, kognitiven und gegebenenfalls auch psychologischen Rahmenbedingungen der Ansteuerung des Stimmapparates und andererseits auf den psychophysischen Elementen der Stimmklang-Perzeption.
Mit anderen Worten: Stimmforschung deckt idealerweise die gesamte kausale Kette von der muskulären Steuerung im Hirn der Interpret_innen bis hin zur Wahrnehmung des Stimmklanges bei den Hörer_innen ab. Dieses „big picture“ seriös zu erforschen, ist ein ambitioniertes langfristiges Ziel, welches sich sicherlich nicht mit ein oder zwei punktuellen Studien erreichen lässt. Das 21. Jahrhundert bietet hier aber neben all seinen thematischen Herausforderungen auch großartige Chancen. Insbesondere gibt es die faszinierende Möglichkeit, die bereits oben erwähnten, jahrhundertealten, tradierten Konzepte der Stimmbildung und Gesangsdidaktik mit modernen Untersuchungsmethoden zu evaluieren und zu untermauern.
Analog zur modernen Medizin könnten jene oft nur subjektiv bzw. qualitativ beschriebenen Unterrichts- und Trainings-Konzepte nämlich im Sinne einer evidenzbasierten Gesangspädagogik auf quantitativ gewonnene Daten und Erkenntnissen aufbauen, also eine Erweiterung des gesangspädagogischen und künstlerischen Handlungsspielraumes auf Basis der gewonnenen Daten ermöglichen. In diesem Kontext untersucht zum Beispiel eines der Doktoratsprojekte am Antonio Salieri Institut die akustisch-perzeptiven Implikationen des solide tradierten gesangsdidaktischen Begriffes „chiaroscuro“ im klassischen Gesang und soll aufzeigen, welche physiologischen bzw. muskulären Gesten im Stimmapparat hierfür kausal relevant sind.
Die Frage nach dem praktischen Nutzen eines derartigen Wissensgewinnes ist leicht erklärt. Hinsichtlich der Gesangspädagogik gibt es einen klaren Unterschied zwischen dem Wissen, das benötigt wird, um gut zu singen, und dem Wissen, das benötigt wird, um jemandem zu helfen, gut zu singen (Gill & Herbst, 2016). Neben gut fundierten physiologischen Übungs-Interventionen stützt sich die herkömmliche Gesangspädagogik unter anderem zu Recht auch auf etablierte Modelle des Imitationslernens. In vielen Fällen ist das ausreichend und führt zu guten Ergebnissen. Im Fall von vermeintlich „unbegabten“ Sänger_innen oder zur weiteren Verbesserung der Effizienz von bereits gut etablierten Methoden kann aber neu gewonnenes Hintergrundwissen und -verstehen durchaus hilfreich sein und vor allem die Möglichkeiten der stimmtechnischen Diagnostik verbessern. Das entsprechende Wissen richtet sich typischerweise an Pädagog_innen und nicht an die auszubildenden Sänger_innen. In diesem Sinn versteht sich die Stimmforschung als „Zuarbeiter“ für die Stimm- und Gesangspädagogik, ohne in bereits bestehendes Gutes eingreifen zu wollen.
Literatur:
Gill, B. P. and Herbst, C. T. (2016) „Voice Pedagogy – What do we need?“, Logopedics Phoniatrics Vocology, 41(4), S. 168–73. DOI: 10.3109/14015439. 2015. 1079234 [mdw.ac.at/instas/voiceScience/VoiceScience.pdf]
Christian T. Herbst zu Gast im mdwPodcast: