Studierende in Budapest protestieren seit Monaten gegen die politische Einflussnahme an der Universität für Theater- und Filmkunst. Sie fordern mehr Autonomie für ihre Universität. Was genau macht Hochschulautonomie aus und was kann sie gefährden?
Es ist eine sehr ästhetische Form des Protests, den die Studierenden der Budapester Universität für Theater- und Filmkunst (SzFE) gewählt haben. Eine Freiluftaufführung: Sieben Frauen und fünf Männer singen Protestlieder gegen die Regierung. Sie singen von Liebe, Freiheit, einer freien Universität. Ihre Aufmachung erinnert ans japanische Kabuki-Theater: kreideweiß geschminktes Gesicht, knallrote Lippen. „Wir setzen das ein, was wir während des Studiums gelernt haben: wie man Menschen bewegt“, sagt die Aktivistin Dorottya Molnár dem deutschen Magazin Zeit Campus.
Begonnen haben die Proteste an der SzFE im September des vergangenen Jahres, als die rechtsnationale Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán der Uni die Autonomie entzog. Sie wurde in eine private Stiftung umgewandelt, die Führung übernahm ein regierungsnahes Kuratorium. Die bisherige Leitung war de facto entmachtet und trat kollektiv zurück. Viele Lehrenden kündigten aus Protest ihre Verträge und Lehraufträge, Studierende besetzten das Hauptgebäude. Es gab Demonstrationen mit Tausenden Teilnehmer_innen, Menschenketten in Budapest, eine symbolische Fackel wurde in andere Städte getragen. Fotos und Videos, die die Aktionen festhalten, verbreiteten sich unter dem Hashtag #freeszfe in den sozialen Medien. Künstler_innen weltweit solidarisieren sich. Was der Protest bewirken soll, erklärt Aktivistin Molnár: „Wir wollen unsere Autonomie zurück.“
Aber was bedeutet der Begriff der Hochschulautonomie überhaupt?
„Einfach gesagt, dass Unis frei von staatlichem Zugriff und auch frei von der Gängelung durch die Wirtschaft sind“, sagt Tamara Ehs, Politologin an der Universität Wien. In einer Demokratie sei es essenziell, dass Hochschulen autonom agieren können, weil sie eine Kontrollfunktion einnehmen. „Sie agieren als Wachhunde und zeigen auf, was im politischen Geschehen falsch läuft und wo man korrigierend eingreifen müsste.“ Ihre Aufgabe sei es, kritisches Denken nicht nur zu lehren, sondern dieses auch selbst über die Wissenschaft auszuüben, so Ehs. „Wann immer dieses kritische Denken als störend empfunden wird, wird versucht, es einzuschränken.“ – Wie aktuell in Ungarn. „Autoritär regierende Politiker_innen wollen eben keine Kritik und schon gar nicht wollen sie eine Hochschule finanzieren, die gegen ihre Politik argumentiert.“
Ähnlich sieht das Daniela Neubacher, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für den Donauraum und Mitteleuropa. Sie hat sich eingehend mit der Politik der seit 2010 in Ungarn regierenden Fidesz-Partei beschäftigt. Die ungarische Regierung ist für die Wissenschaftlerin so etwas wie ein „Enfant terrible“, wenn es um das Thema Hochschulautonomie geht. Das offizielle Ziel der Regierung sei es, die Hochschulen volkswirtschaftlich effizienter zu gestalten – sie sollen vorwiegend Absolvent_innen hervorbringen, die am Arbeitsmarkt gebraucht werden. Ein solcher Umbau sei grundsätzlich „nichts spezifisch Ungarisches“, erklärt die Expertin: „Wir beobachten in vielen Ländern eine zunehmende Ökonomisierung der Hochschule.“ Der große Unterschied sei allerdings, dass in Ungarn ein „sehr stark politisch-ideologischer Charakter“ auszumachen sei. Anders gesagt: „Die christlich-konservative Ausrichtung der Regierung beeinflusst auch die Aufstellung der Universitäten.“ Liberale Elemente sollten sukzessive entfernt werden.
Begonnen habe die Einflussnahme mit der Vertreibung der Central European University (CEU) aus Budapest, sagt Attila Pausits, Leiter des Departments für Hochschulforschung an der Donau-Universität Krems. 2017 verabschiedete die Regierung ein Gesetz, um die CEU, die als Hort des freien Geistes galt, unter Druck zu setzen, erklärt der in Ungarn geborene Wissenschaftler. Dieses Gesetz sieht vor, dass internationale Universitäten nur dann in Ungarn ansässig sein dürfen, wenn sie auch in ihrem Heimatland Lehre anbieten. Die in den USA akkreditierte Uni verlegte ihren Campus daraufhin nach Wien. Ein Dorn im Auge war der Orbán-Regierung auch das Fach Gender Studies, das kurzerhand verboten wurde. „Was ebenfalls eine eindeutige Beschneidung der Autonomie darstellt“, sagt Pausits. Wenn es darum geht, Hochschulautonomie zu wahren, ist die Freiheit der Lehre nämlich essenziell.
Das argumentiert auch die European University Association (EUA) in ihrem 2017 veröffentlichten Autonomy Report. Neben der akademischen Autonomie definiert sie finanzielle Autonomie, Autonomie in Personalfragen und organisationale Autonomie als ausschlaggebend. Letzteres bedeutet, dass die Unis über ihre akademische und administrative Struktur, ihre Führung und Steuerung selbst entscheiden. In dem Bericht analysiert und vergleicht die EUA einzelne europäische Länder in den vier genannten Kategorien. Länder, die gut abschneiden, sind beispielsweise Finnland, Estland, Luxemburg oder Großbritannien. Ungarn erhielt in allen vier Kategorien eine mittelmäßige bis schlechte Beurteilung.
Vor allem kritisiert die EUA die Schaffung einer neuen Position an den Universitäten: die des sogenannten „Kanzlers“. Er fungiert als eine Art Verwaltungschef, der die Finanzangelegenheiten überwacht. Was das Problem daran ist, erklärt Hochschulforscher Pausits: „Der Kanzler ist der verlängerte Arm der Regierung. Seine Arbeit soll sicherstellen, dass die Interessen der Regierung, der Partei, gewahrt bleiben.“
Pausits resümiert: „Das, was da in Ungarn gerade passiert, läuft den Autonomiebestrebungen der anderen Länder diametral entgegen.“ Auch die Umwandlung einiger Universitäten in private Stiftungen sieht der Experte als Mittel der Einflussnahme. Die Gefahr sei, dass in den Stiftungen vor allem Orbán-Vertraute sitzen, wie auch im Falle der SzFE.
Dort wurde das Semester bis Februar ausgesetzt. Eine Lösung sei derzeit nicht in Sicht und die Fronten sind verhärtet, wie Ungarn-Kennerin Neubacher erklärt. Die Regierung spiele auf Zeit, spekuliere darauf, „dass sich die schwierige Situation von selbst löst und die Studierenden aufgeben“, so Neubacher. „Solange die Proteste nicht auf andere Hochschulen überschwappen, gibt es keine Dringlichkeit, rasch zu handeln“, ergänzt Hochschulforscher Pausits. Letztlich werde es wohl einige Zugeständnisse seitens der Politik geben. Wirklich gefährlich seien die Proteste für die Regierung aber nicht. Wenn es um den Hochschulsektor geht, habe sie sich bis dato immer durchgesetzt.