Am 11. November 2020 fand die erste jährliche Lecture des Music and Minorities Research Center (MMRC) als Online-Veranstaltung unter der Moderation von Ursula Hemetek, der Leiterin des MMRC, statt. Trotz der im vergangenen Jahr besonderen Umstände konnte ein interdisziplinäres Publikum gewonnen und konnten Wissenschaftler_innen unterschiedlicher Disziplinen in lebhaften Diskussionsrunden zusammengebracht werden, die aktuelle akademische Diskurse und Standpunkte bezüglich sozialer Entwicklungen widerspiegeln.
In diesem Jahr widmete sich die Lecture dem Thema Flucht. Dawn Chatty, emeritierte Professorin für Anthropologie und Forced Migration an der Universität Oxford sowie ehemalige Leiterin des Refugee Studies Centre und aktive Forscherin im Bereich der angewandten Anthropologie, wurde eingeladen, eine Keynote mit dem Titel Anthropological Reflections on Fortress Europe zu halten. In ihrem Beitrag fokussierte sie auf die Umstände, unter welchen die moderne humanitäre Ära entstand und darauf, wie die ursprünglichen Zielsetzungen, verwoben mit moralischen Verpflichtungen und sozialen Verantwortungen gegenüber den Schutzsuchenden, von den europäischen Regierungen nach und nach zu der heutigen „Festungsmentalität“ umgewandelt wurden.
Marko Kölbl, Senior Scientist am Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie der mdw präsentierte seine Respondenz aus ethnomusikologischer Perspektive und bezog dabei vor allem seine Forschung im Bereich musikalischer Ausdrucksformen der afghanischen Community in Wien ein. Er betonte hierbei, wie populistische Politiken und Diskurse bestimmte Gruppen von Migrant_innen und Geflüchteten kriminalisieren und unterstrich, wie wichtig ethnomusikologische Feldarbeit ist, um Narrative und kulturelle Repräsentationen von Flucht und Migration zu etablieren, die sich von jenen abheben, die xenophobe Anschauungen stützen. Eröffnet wurde die Lecture von der musikalischen Performance von Salah Ammo (Buzuq und Gesang), einem in Österreich lebenden syrisch-kurdischen Musiker und Masterstudenten an der mdw, Bahram Ajezyar (Tabla) und Milad Bakhtiyari (Harmonium und Gesang), zwei herausragende Persönlichkeiten der afghanischen Musikszene Österreichs, gestalteten den musikalischen Abschluss der Veranstaltung.
Im folgenden Interview erzählt Dawn Chatty von ihrer persönlichen Motivation, die sie zur Sozialanthropologie brachte. Sie erläutert, wie anthropologische Forschung das Verständnis der Beziehungen zwischen Politiken, moralischen Ökonomien und den gelebten Erfahrungen von geflüchteten Menschen schärft sowie durch die Bereitstellung von Wissen als Basis für weitere Handlungen und Maßnahmen dient, um die Lebensrealitäten von Geflüchteten zu verbessern.
Professorin Chatty, was hat Sie dazu bewegt, sich der Sozialanthropologie zu widmen und sich dabei besonders auf den Nahen Osten zu konzentrieren?
Dawn Chatty (DC): So wie viele andere Anthropolog_innen auch, hatte ich bereits in frühester Kindheit Kontakt mit einer anderen Kultur: Als ich sechs Monate alt war, zogen meine Eltern nach Damaskus. Mein Vater war Augenarzt, und oft durfte ich ihn an den Stadtrand begleiten, wo er palästinensische Geflüchtete ehrenamtlich betreute. Manchmal besuchte er auch die Beduinen in ihren schwarzen Zelten. Ich war von ihnen zutiefst fasziniert – von ihren Schafen und ihren Lämmern. Als ich neun Jahre alt war, zogen wir von Syrien in die USA, wo ich dann auch in die Schule ging. Ich vermisste Syrien sehr. Später stieß ich während meiner schulischen Laufbahn auf das Fach Sozialanthropologie und verfolgte dieses Interesse weiter.
Im Rahmen meines PhD befasste ich mich mit der Wirtschaft der Beduinen. Damals, in den 1970er-Jahren, wurden Beduinen im Allgemeinen als „rückständig“ und in ihren Entscheidungen als „irrational“ wahrgenommen. Daher war es äußerst interessant und spannend, diese landläufigen Stereotype – die sich zum Teil bis heute hartnäckig halten – in meinem ersten Buch From Camel to Truck: The Bedouin in the Modern World (1986, neu überarbeitet 2013), in das meine Feldforschung mit Beduinen aus Syrien und dem Libanon einfloss, zu hinterfragen. Danach ging ich in den Oman, wo ich in der steinigen Wüste Jiddat al-Harasis mit Kamelhirten arbeitete. Ich unterstützte die Regierung dabei, ihnen Dienstleistungen zugänglich zu machen, ohne sie dabei zur Sesshaftigkeit zu zwingen.
Als ich an die Universität Oxford kam, um ein Buch über die Nomaden des Oman zu schreiben, wurde ich dazu ermutigt, mich um eine ganz neue Stelle am Refugee Studies Centre zu bewerben. Dessen Leiterin, die Rechtsanthropologin Barbara Harrell-Bond, war eine äußerst charismatische Frau. Sie unterbreitete mir die These, dass die Zwangsansiedlung nomadisch lebender Völker und die erzwungene Migration sesshafter Menschen zwei Seiten derselben Medaille seien. Schließlich seien beide derselben sozialen Diskriminierung, demselben Entzug der Menschenrechte und ihrer politischen Rechte ausgesetzt – so ihre Überlegung. Diese Beobachtung war durchaus richtig. Ich bewarb mich also und hatte das große Glück, die Stelle zu bekommen. Seither bin ich an der Universität Oxford und befasse mich mit der erzwungenen Migration sesshafter Menschen, wobei ich parallel dazu auch meine Forschung im Bereich der Zwangsansiedlung nomadisch lebender Völker weiterführe.
In letzter Zeit sind internationale Geflüchtetenpolitiken und die durchaus problematische Art und Weise, wie europäische Regierungen mit Flucht umgehen, immer wieder ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Was läuft in diesem Bereich schief und was für Alternativen kennen Sie dank Ihrer Arbeit über erzwungene Migration im Nahen Osten?
DC: Der UNHCR wurde als Reaktion auf das furchtbare Blutvergießen und die Vertreibung unzähliger Menschen im Zweiten Weltkrieg gegründet, um Menschen Zuflucht gewähren zu können. Aber bereits mit dem Ungarn-Aufstand in den 1950er-Jahren, als 200.000 Menschen aus Ungarn flüchteten, zeigte sich, dass der UNHCR angesichts solch hoher Zahlen vor einer massiven Herausforderung stand. War der UNHCR Mitte der 1970er-Jahre noch für 2,5 Millionen Vertriebene zuständig, so sind es mittlerweile etwa 70 Millionen. Heute sind wir mit so hohen Zahlen konfrontiert, weil viele dieser sogenannten „Flüchtlingskrisen“ nicht innerhalb der Notstandsphase, also im ersten Jahr, gelöst werden. Hinzu kommt die Tatsache, dass derzeit populistische Politiken im Globalen Norden erstarken. Eine der Konsequenzen ist, dass viele europäische Politiker_innen und Regierungen nicht nur die Übernahme ihrer politischen Verantwortung als Mitglieder der EU verweigern, sondern auch ihre soziale Verantwortung hinsichtlich einer moralischen Ökonomie und ihrer immanenten Verpflichtung dazu, Menschen zu schützen und aufzunehmen, die den Schutz ihrer Regierungen verloren haben, ignorieren.
In dieser Hinsicht zeigt uns die Erfahrung des Nahen Ostens, dass sich die Nachbarländer dort besonders stark engagieren, und zwar mehr als sie unbedingt müssten. Sie tun es aufgrund ihrer sozialen Verbindungen und Netzwerke, ihrer engen Beziehungen, aber auch aus einem sozialen Verantwortungsgefühl heraus, diesen Menschen helfen zu müssen – im Bewusstsein, dass diese, wenn sie ihre Notlage überwunden haben, zu Verbündeten werden, sich integrieren und die Gesellschaft bereichern werden. Es bedarf nicht immer des internationalen Rechts, um bedürftigen Menschen zu helfen. Es gibt auch eine gewisse Kultur des „Gebens und Nehmens“, mit der die Länder im Nahen Osten sehr gut umgehen. Im Libanon zum Beispiel sind 25 % der Bevölkerung geflüchtete Syrer_innen, in Jordanien sind es 10 %. Vergleicht man die Zahlen der Türkei (4,5 Millionen) mit denen in Deutschland, so wird deutlich, wie niedrig diese in Deutschland sind. Die Türkei hat, auf die Einwohnerzahl gerechnet, viermal mehr Geflüchtete aufgenommen als Deutschland und kommt damit zurecht. Wir müssen also zumindest im Globalen Norden Wege finden, um Asylsuchende aufzunehmen, ohne dabei zu glauben, dass dadurch unser Staat oder unsere Kultur zerstört oder die Kriminalität schlagartig ansteigen wird. Das sind alles aus der Luft gegriffene Vorurteile, verrückte Verschwörungstheorien.
In vielen Fällen haben Geflüchtete Seite an Seite mit der lokalen Bevölkerung für Bewegungsfreiheit und gegen die Unterbringung von Schutzsuchenden in Lagern gekämpft. In der jüngsten Vergangenheit wurde das nun aber kriminalisiert. Vor allem im griechischen Thessaloniki spielte 2016 Musik eine wesentliche Rolle bei solchen Mobilisierungen. Für Ethnomusikolog_innen kann die Erforschung solcher musikalischer Ausdrucksformen Erkenntnisse im Bereich der angewandten Ethnomusikologie liefern, wie z. B. musikzentrierte Interventionen zur Förderung des sozialen Zusammenhalts. Auch die angewandte Anthropologie teilt ähnliche Ansichten. Können Sie dazu Beispiele liefern?
DC: Ich glaube, dass insbesondere Musik ein sehr effektives Mittel ist, um soziale Inklusion zu fördern. Ich weiß, dass es in Athen eingesetzt wird, dort arbeiten Anthropolog_innen gemeinsam mit griechischen und syrischen Jugendlichen an musikalischen Formaten. Sie organisieren informelle Events, wo die Beziehung und die symbiotische Natur der Musik bei den Griech_innen und den vertriebenen Syrer_innen in den Fokus gerückt werden. Diese Events werden auf YouTube gestellt, wo noch mehr Personen sie anhören können. Das führt uns dann doch unsere gemeinsame Menschlichkeit und unsere Ähnlichkeit vor Augen. Menschen, die sich hier solidarisch zeigen, werden zurzeit von den jeweiligen Regierungen kriminalisiert. Das wird sich erst ändern, wenn genug Menschen sich dagegen erheben und sagen: „Nein, diese Menschen sind unsere Brüder und Schwestern, sie werden uns nichts Böses antun. Uns verbindet unsere Menschlichkeit!“ Die Regierungen müssen endlich damit aufhören, Solidarität zu kriminalisieren. Derzeit entstehen viele Projekte, die die soziale Inklusion von Schutzsuchenden durch den Einsatz von Musik oder sagen wir klanglichen Mitteln wie Musik in Verbindung mit Dichtkunst, Liedern und anderen kraftvollen Ausdrucksformen, wie zum Beispiel auch Tanz, fördern. Auch wenn manche Musikformen für andere musikalischen Traditionen ungewohnt klingen, bin ich fest davon überzeugt, dass wir einander durch den gemeinsamen Austausch kennen- und schätzen lernen können.
Die letzte Frage, die ich Ihnen stellen möchte, beschäftigt alle, die im Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften sozial verantwortungsvoll tätig sind: Kann akademische Forschung sozio-politische Realitäten beeinflussen, indem sie den Weg hin zu sozialer Gerechtigkeit aufzeigt, und wenn ja, inwiefern?
DC: Anthropolog_innen, die im Bereich der angewandten Anthropologie tätig sind, verfolgen in erster Linie das Ziel, die Gesamtsituation für Menschen in Not zum Besseren zu wenden, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Das bedeutet aber nicht, dass wir diese radikal ändern können. Auch die ersten Anthropolog_innen in den USA, die sich, wie etwa Elizabeth Colson, die sich bereit erklärten in den Lagern zu arbeiten, in denen im Zweiten Weltkrieg Japaner_innen und Amerikaner_innen japanischer Abstammung interniert wurden, dachten natürlich nicht, dass sie diese Lager schließen und alle Insass_innen befreien konnten. Das lag natürlich nicht in ihrer Macht. Aber es ist doch ein zweistufiger Prozess. Einer der Gründe, weshalb ich mein letztes Buch mit dem Titel Syria: The Making and Unmaking of a Refuge State (2018) schrieb, war, dass mir auffiel, dass die meisten Menschen in Großbritannien (ich weiß nicht, ob es im restlichen Europa auch so ist), wenn sie von Syrer_innen sprachen, offensichtlich keine Ahnung hatten, wer diese Syrer_innen eigentlich waren.
Syrien liegt am östlichen Mittelmeer, es ist also eines unserer unmittelbaren Nachbarländer. Im Laufe der Jahrhunderte standen Europa und Syrien in einem regen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Austausch. Und darüber hinaus setzt sich die moderne syrische Bevölkerung aus einer Vielzahl ethnischer und religiöser Gruppen zusammen, von denen einige, wie zum Beispiel die Bulgar_innen oder die Tscherkess_innen, jüngste Wurzeln im Balkan oder in der Transkaukasus-Region haben. Sie alle sind Teil der Bevölkerung Syriens und Teil der syrischen Kultur. Wenn die Menschen also verstehen, wer die Syrer_innen eigentlich sind, dann sind sie aufgrund ihrer „Festungsmentalität“ vielleicht weniger darauf erpicht, diese Menschen von Europa fernhalten zu wollen. Anthropolog_innen können nie direkt in die Politik eingreifen – aber ich denke, dass sie sie langfristig beeinflussen können, indem sie die Gesellschaft aufklären oder ihr neues Wissen vermitteln.
Referenzen
Chatty, Dawn. ([1986] 2013). From Camel to Truck: The Bedouin in the Modern World. Cambridge, UK: The White Horse Press.
Chatty, Dawn. (2018). Syria: The Making and Unmaking of a Refuge State. New York: C. Hurst & Company.