Dietmar Flosdorf, Axel Petri-Preis und Rineke Smilde unterrichten am Institut für musikpädagogische Forschung, Musikdidaktik und Elementares Musizieren (IMP). Mit dem mdw-Magazin sprachen sie über ihre Community-Arbeit.
Was bedeutet Community Outreach in der Musikpädagogik, und worin liegt die zentrale Aufgabe der Outreach-Projekte?
Rineke Smilde (RS): Mir gefällt das Wort Outreach nicht. Das wirkt wie: „Ich bin so gut in meinem Tun, ich gebe euch etwas davon ab.“ Es beinhaltet keine Wechselseitigkeit. Ich spreche lieber von Community Engagement, also von Dialog zwischen Musiker_innen und gesellschaftlichen Gruppen.
Axel Petri-Preis (AP): Ich bevorzuge auch Community Engagement oder Community Building. Es bedeutet, eine Community aufzubauen, indem man gemeinsame Vorstellungen in einem reziproken, also wechselseitigen Prozess entwickelt, wo alle Beteiligten zusammenarbeiten und Handlungsmacht haben. Der Begriff Community wird oft auf eine schwierige Art und Weise verwendet. Bestimmten Menschen werden bestimmte Merkmale und Gemeinsamkeiten zugewiesen und dadurch eine Community konstruiert, teilweise ohne zu überlegen, ob sie sich selbst als Community empfinden. In der Grundbedeutung des Begriffs geht es aber darum, dass eine Community eine Gruppe von Menschen ist, die sich selbst als Gemeinschaft aufgrund bestimmter Merkmale wie gemeinsamer Werte und Ziele wahrnimmt. Das ist etwas, was man sehr gut reflektieren muss.
Dietmar Flosdorf (DF): Wir sind keine Missionare. Jeder kann ein_e Sänger_in oder Musiker_in sein und sich im eigenen Umfeld musikalisch einbringen, egal ob man im Chor singt oder zu Hause musiziert und dadurch eine Gemeinschaft bildet. Das ist offen zu verstehen, und das macht es auch spannend, mit dieser Offenheit und Diversität zu arbeiten. Community Engagement will die Begegnung der Menschen auf Augenhöhe im und durch den Dialog mit künstlerischer Exzellenz und entsprechenden Werken. Deshalb ist Community Engagement nicht nur ein Thema für die Musikpädagogik.
Wer wird durch die Community-Projekte angesprochen?
DF: Es ist eine Frage der Konzeption, damit eine offene Gemeinschaft entstehen kann, in die sich möglichst viele einbringen können. Ich habe ein Projekt in der Wohnsiedlung Am Schöpfwerk mit Studierenden realisiert, das war ein Angebot an alle, die dort wohnen. Die Verortung des Projektes ist zwar vordefiniert, aber es war konzeptionell so aufgesetzt, dass jede_r mitmachen kann, egal ob er oder sie im Jugendzentrum, in der Schule, am Dönerstand oder in der Moschee anzutreffen ist. Die Tür ist offen, wer dabei sein will, ist – ganz inklusiv – willkommen.
AP: Wichtig ist zu sagen, dass jede_r an Community-Projekten teilnehmen kann. Es wird besonders spannend, wenn Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Perspektiven zusammenkommen, die im Normalfall nicht aufeinandertreffen. Durch die Projekte werden Räume der Begegnung geschaffen, wo alle mit und durch Musik in einen Austausch gelangen.
RS: Es findet Empowerment für alle Beteiligten statt. Mit und durch Musik kommen neue Lernprozesse zustande. Als Beispiel kann ich das Forschungsprojekt ProMiMiC – Professional Excellence in Meaningful Music in Healthcare nennen, an dem auch die mdw beteiligt ist: dabei arbeiten Musiker_innen im Krankenhaus mit Patient_innen und Pflegepersonal. Es entsteht ein interprofessioneller Lernprozess zwischen Musiker_innen, Musiktherapeut_innen und Pfleger_innen, was sich wiederum positiv auf das Wohlbefinden der Patient_innen auswirkt. Allgemein wird der Blick der Medizin auf den Stellenwert von Kunst im Gesundheitswesen gelenkt. Das alles kann Musik bewirken.
DF: Arbeit wie diese hat eine große Wirkung auf Musiker_innen. Der Dialog und Austausch bietet für Musiker_innen die Möglichkeit, auf unmittelbarer menschlicher Ebene zu spüren, was Musik auslösen kann und wie das auf sie selbst zurückwirkt.
AP: Ich bringe hier das Konzept des deutschen Soziologen Mark Terkessidis ein, der statt von Kooperation von Kollaboration spricht. Demnach gehen bei einer Kooperation die Menschen nach der Zusammenarbeit so auseinander, wie sie zusammengekommen sind. In einer Kollaboration hingegen verändert sich jede_r im positiven Sinn und ist sich dieser Veränderung bewusst. In dem Zusammenhang erwähne ich auch das Konzept der „Participatory Art“ von François Matarasso, einem britischen Community Artist und Autor. Für ihn gibt es bei Community-Projekten Non-Professional Artists und Artists. Das finde ich eine wichtige Aussage: Alle, die mitmachen, sind Künstler_innen, egal ob professionell oder nicht. Die grundsätzliche Annahme, dass sich alle gleich beteiligen und auf einer Ebene miteinander agieren können, ist essenziell.
Wie werden die Studierenden an die Community-Arbeit herangeführt, und welche Lerninhalte nehmen sie mit?
DF: Ein Projekt ist immer eine Möglichkeit für die Studierenden, sich neu zu verorten und zu wachsen, nicht nur in Hinblick auf die instrumentale und technische Kompetenz, sondern auf menschlicher Ebene zu wachsen und so den eigenen Stellenwert und ihre Rolle in der Gesellschaft neu wahrnehmen zu können.
AP: Ich kann von einem Projekt berichten, wo Künstler_innen, Studierende der Musikerziehung und Schüler_innen zusammengearbeitet haben. Im Sinne eines Participatory Art Project hatten wir das Ziel, ein gemeinsames Musiktheaterstück zu schaffen. Es war ein offener Prozess ohne Vorgaben für das Resultat. Für viele Studierende war das eine neue Erfahrung, weil sie die Vorstellung in sich trugen – vielleicht durch den eigenen erlebten Unterricht –, dass der Lehrende wissen muss, was am Ende herauskommen soll. Meine Bitte war eine andere: Begeben wir uns gemeinsam auf eine Reise und vertrauen darauf, dass etwas Tolles herauskommen wird, da wir gut zusammenarbeiten werden. Nach der anfänglichen Skepsis bekam ich später die Rückmeldung, dass die Arbeit als befreiend gesehen wurde. Die Studierenden lernten, die Verantwortung an die Gruppe abzugeben und auf das Wissen und Können der Gruppenmitglieder zu vertrauen, damit etwas Spannendes entstehen kann.
DF: Vertrauen ist wichtig, aber es bedarf einer Vorarbeit und konzeptioneller Überlegungen. Das Setting muss vorbereitet und abgestimmt sein, damit die gemeinsame Kreativität der Studierenden und der Non-Professional Artists erwachsen kann. Mit Blick auf die Studierenden: Es ist wichtig wahrzunehmen, dass eine Musikuniversität ein exklusiver Ausbildungsort ist. Viele Studierende kommen aus bestimmten sozialen Kontexten und sind auf eine bestimmte Art früh oder gut gefördert worden. Diese Studierenden haben durch die Community-Arbeit die Chance, außerhalb ihrer eigenen „Blase“ mit anderen gesellschaftlichen Realitäten in Berührung zu kommen, die ihnen auch neue Aufgabenfelder und eine breitere Verortung der Frage, was Kunst bewirken und was ihre Aufgabe dabei sein kann, aufzeigt. In Zeiten der Pandemie sehen wir, wie die Kultur an den Rand gedrängt wird, aber es können sich dadurch auch neue Felder eröffnen, wo sich Künstler_innen einbringen können, etwa sozial- und bildungspolitisch.
RS: Es geht auch darum, wie Lehrende den Unterricht an der Universität gestalten und wie wir unsere Lernumgebung einrichten. Oft ist der Fokus auf das Formale, es steht vorab fest, was herauskommen soll. Studierende lernen so nicht, mit Risiken umzugehen und Vertrauen zu haben. Wenn wir Musiker_innen mit Vertrauen und breitem Blick auf die Gesellschaft sowie einer starken künstlerischen Identität haben wollen, muss an der Universität dafür der Boden aufbereitet werden. Wesentlich ist auch, dass Lehrende sich selbst infrage stellen und stets neugierig bleiben.
Wie kann man den nachhaltigen Erfolg von Community-Projekten messen?
RS: Beim vorher angesprochenen Projekt im Krankenhaus haben wir das Schmerzempfinden der Patient_innen vor, während und vier Stunden nach der Musik gemessen. Erwartbar war, dass das Schmerzlevel sinkt, aber sogar vier Stunden nach der Musik war das Schmerzlevel niedriger. Das lässt sich eindeutig messen. Viele Wirkungen sind aber implizit und auf sozialer Ebene, ich spreche daher lieber von „impact“, etwa wenn es darum geht, wie sich durch ein solches Projekt der Umgang zwischen Pflegepersonal und Patient_innen verändert. Auch wenn Krankenhauspersonal und Patient_innen sagen: „Wir brauchen unsere Musiker_innen“, ist das ein Anzeichen für nachhaltige Wirkung.
DF: Ich habe mit Unterstützung durch das Institut für Musiksoziologie Projekte durch Befragungen der beteiligten Schüler_innen vor, unmittelbar nach und ein Jahr nach dem Projekt evaluiert. Es war nachweisbar, dass es zu nachhaltigen Einstellungsveränderungen im Zugang zu und dem Bedürfnis nach Kunst und dem gemeinsamen Musizieren gekommen ist.
AP: Wenn wir vom wechselseitigen Prozess der Kollaboration sprechen, ist dieser gelungen, wenn alle Beteiligten sich verändert haben und darüber auch reflektieren können. Manchmal läuft das implizit ab, daher ist Messbarkeit schwierig, manche Effekte lassen sich nicht sofort messen. Ich bin davon überzeugt, dass Community-Arbeit nachhaltig ist, wenn man es als permanenten und positiven Lernprozess für alle Beteiligten sehen kann. Jede_r bringt unterschiedliches Wissen und Voraussetzungen mit, die in keiner hierarchischen Abstufung zueinander stehen.
DF: Wir begegnen Personen – lateinisch „per-sonare“ –, also Menschen, „durch“ die etwas zum „Klingen“ kommt, was sie ausmacht als Persönlichkeit: In Community-Projekten ist jede_r eingeladen, sich einzubringen und so den „Gesamtklang“ durch die Begegnung zu bereichern oder zu verändern. „Erfolgreich“ ist es, wenn es gelingt, den Raum und das Vertrauen dafür zu schaffen, dass jede_r dies kann. Das ist als Botschaft auch den Studierenden gegenüber wesentlich und damit zusätzlich nachhaltig.
Welche Rahmenbedingungen sind für erfolgreiche Community-Arbeit wichtig, einerseits von der mdw, andererseits von kulturpolitischer Seite?
DF: Das jetzige Rektorat hat große Offenheit und Verständnis für Community-Arbeit, auch im Sinne der „Third Mission“, und nimmt diesen Auftrag stark wahr. Natürlich ist noch Potenzial da, aber die Entwicklungen in dem Feld sind in den letzten Jahren sehr ermutigend.
AP: Kulturpolitisch ist zu erwähnen, dass von der Stadt Wien neue Akzente in der Stärkung der Community-Arbeit gesetzt werden, etwa indem Initiativen wie die Brunnenpassage, die sich dieser Arbeit verschrieben hat, besser dotiert werden und somit mehr Spielraum für Projekte bekommen.
DF: Oder auch die neue Ausschreibung „KulturKatapult“ der Stadt Wien, wo erstmalig Projekte mit jugendlichen Lehrlingen gezielt gesucht und gefördert werden und durch meine Einreichung auch die mdw einen Zuschlag bekommen hat, ist ein positives Zeichen.
RS: Ich habe viele positive Entwicklungen unter diesem Rektorat gesehen. Wichtig ist, welche Einstellung gegenüber Community-Arbeit herrscht, weniger wie viele Projekte es quantitativ gibt. Die Universität kann einen großen Beitrag leisten zur Frage, wo Künstler_innen gesellschaftlich stehen.
Was sind für Sie einprägsame Erfahrungen in der Community-Arbeit, und was ist Ihr Antrieb dafür?
RS: Das erste Mal, als wir das Projekt im Krankenhaus durchführten, war dort ein Patient, der nach einem Unfall im Sterben lag. Die Musiker_innen haben für ihn Can’t help falling in love with you gespielt. Ich habe – zuerst erschrocken – Laute von ihm gehört und dann begriffen, dass er singt. Obwohl er sterbend war, hat er gesungen. Das war eine starke Erfahrung.
AP: Für mich ist es ein großes Glücksgefühl, wenn es in Projekten zu einem echten Austausch von Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven kommt, wenn jegliche Hierarchie überwunden wird und eine symmetrische Kommunikationssituation entsteht, von der alle profitieren. Das spüren zu wollen, treibt mich immer wieder an.
DF: Ich möchte es anhand einer Anekdote illustrieren: Bei einem Projekt in der Schöpfwerk-Siedlung haben wir gemeinsam mit einer Mittelschulklasse Kompositionsideen diskutiert. Eine Schülerin sollte dann als Überschrift „Partitur der Klasse 3B“ an die Tafel schreiben. Sie schrieb „Partyuhr …“ – das ist meines Erachtens ein fantastisches Bild, wie die Arbeit bei ihr angekommen ist: Wir haben für sie gemeinsam eine Party organisiert. Das verdeutlicht ganz authentisch die Wirkung dieser Arbeit. Wer kann sich einem solchen Feedback entziehen?
RS: Durch diese Arbeit realisieren Menschen: Musik kommt von uns allen.
Projektinformationen auf der IMP Website (Fachbereich „Musik im Dialog“): mdw.ac.at/imp/musik-im-dialog
ProMiMiC: mdw.ac.at/promimic