Nachdem im Juni 2019 im Wiener Auer-Welsbach-Park ein scheibenförmiges, an eine Compact Disc erinnerndes Artefakt aufgefunden wurde, erforderte es einige analytische Anstrengungen, bis geklärt werden konnte, dass es sich um einen digitalen Informationsträger handelt, der eine umfangreiche Nachricht ungeklärten Ursprungs enthält.1, 2 Die Interpretation dieser lückenhaften, als digitale Audioaufzeichnung codierten Nachricht ist bis heute mit Unschärfen verbunden. Ohne Kenntnis des Kontexts dieser Aufzeichnung bleiben Übersetzungsversuche zwangsweise nur Annäherungen.
Die fortschreitende Durchdringung der menschlichen Lebensumgebung mit medialen, größtenteils digitalen Nachrichten verschiedenster Zwecke wird Archäolog_innen künftiger Generationen vor neue Herausforderungen stellen. Materielle und kulturelle Kontexte (z. B. verkörpert in natürlichen Sprachen) von Funden aus der menschlichen Geschichte werden ergänzt oder sogar abgelöst durch kurzlebige technologische Kontexte (z. B. verkörpert durch Codierungsalgorithmen digitaler Informationen). Es ergeben sich neue Formen von zeitlicher Transformation über Degradation hin zum Verfall, die sowohl Aspekte der Materialität als auch der Interpretation betreffen.
Seit 2018, also schon vor dem geschilderten Fund, beschäftigt sich das künstlerische Forschungsprojekt Rotting sounds mit den Ursachen, Mechanismen und Effekten solcher Verfallserscheinungen im Kontext von digitalen Klängen. Die interdisziplinäre Natur des Themas spiegelt sich im Team der Projektpartner_innen wider: Thomas Grill (mdw, Elektroakustische und Experimentelle Musik und Artistic Research Center), Till Bovermann (Universität für Angewandte Kunst, Art & Science) sowie Almut Schilling (Akademie der bildenden Künste, Konservierung und Restaurierung). Gefördert wurde das auf insgesamt vier Jahre angelegte Forschungsvorhaben vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF als Projekt AR 445 des PEEK-Programms.
In der bisherigen Erkundung wurde eine Reihe von künstlerischen Versuchsanordnungen realisiert, großteils im unrestaurierten Hörsaal der ehemaligen Veterinärmedizin, der als Auditorium of Rotting sounds bespielt wird. Die verschiedenen Klangarbeiten thematisieren die Zeit als formendes Element auf unterschiedliche Weise. Es geht hierbei nicht um bewusste narrative Gestaltung in einem traditionell kompositorischen Sinn, sondern um die unweigerlichen, oft impliziten Effekte des Fortschreitens der Zeit auf Dimensionen der Klanglichkeit und der visuellen und skulpturalen Anmutung. In der Konzeption, aber auch der Erscheinung der künstlerischen Prototypen entspinnt sich ein Dialog zwischen den verwendeten Materialien, seien es physische oder symbolische, den sie angreifenden Transformationskräften und der künstlerischen Setzung im Sinne einer ästhetischen oder epistemischen Positionierung.
Die so betriebene strikt experimentelle künstlerische Forschung setzt an den Grundlagen an: in welcher Form Klang repräsentiert wird, welche technologischen Mittel verwendet werden, wie musikalische und intermediale Kompositionsprozesse verstanden und gestaltet werden können, wie sich Klang und Musik zueinander verhalten. All das steht zur Disposition und wird im Kontext dieses Projekts kritisch befragt.
Ein radikaler Ansatz untersucht die Repräsentation von Klang als 1-Bit-Strom, wobei Audiosignale als pure Abfolge von binären Zuständen dargestellt werden. Die eigentlichen Klänge sind dabei in Rauschen eingebettet, dessen Frequenzspektrum allerdings weit über der menschlichen Hörschwelle liegt. Das Abspielen einer solchen Klangrepräsentation kann sowohl digital als auch mit analoger Technik erfolgen; die Grenze zwischen digitaler und analoger Domäne wird durchlässig. Die Arbeit Reference Tone des Autors thematisiert das: Ein Sinuston einer Frequenz von 1 Kilohertz, wie er traditionell als Kalibrierton in der Audiotechnik verwendet wird, wurde mittels 1-Bit-Codierung spiralförmig auf eine Papierscheibe gedruckt und über einen Monat in einer Durchgangssituation am Boden des Wiener Museums für angewandte Kunst (MAK) platziert. Während die mikroskopische Betrachtung ein zufälliges Rauschmuster zeigt, offenbart die Interferenz der eng nebeneinanderliegenden Spuren großflächig das periodische Muster der Sinuswelle. Anfangs eine nahezu perfekte Repräsentation des puren Tons, nimmt das gedruckte Klangabbild mit zunehmender Interaktion der Besucher_innen durch Kratzer und Abdrücke eine spezifische Patina an, die als Erosion auf die Klangrepräsentation wirkt: Der „Referenzton“ transformiert sich in seinem Kontext.
Almut Schilling entwickelte den Begriff der „digitalen Patina“ in einem Beitrag zur SAR-Konferenz 20213 als poetisches Narrativ für datentragendes Material in seiner Zeitlichkeit. Die spezifische Ästhetik von Degradation in digitaler Technologie zeigt sich beispielhaft an der Installation CD-R(ot) von Till Bovermann und Almut Schilling, einem aus acht CD-Abspielgeräten bestehenden „Hi-Fi-Turm“, der seit 2019 acht als identische Kopien hergestellte Compact Discs abspielt. Die Wärme der Laserabtastung und die mechanische Belastung haben sich über die Zeit in die Datenträger und Abspielgeräte unterschiedlich eingeschrieben. Trotz des Marketingversprechens für die CD, „pure, perfect sound – forever“, verändert sich der hörbare Klang fortwährend und individuell bis zur völligen Entfremdung vom Ausgangsmaterial.
Auch Kompositionen für Instrumente können eine solche Patina aufweisen. Beim mittlerweile üblichen digitalen Notensatz wurde die Handschrift von Komponist_innen durch Software-Technologien abgelöst. Dies eröffnet Angriffspunkte für digitale Korrosionsmechanismen, wie im Fall der Auftragskomposition rill (erosion) von Adam McCartney für Ensemble, die am 12. November im Rahmen des Festivals Wien Modern im FAL-Klangtheater der mdw uraufgeführt wird. McCartney arbeitete mit algorithmisch generiertem Notensatz, der fortgesetzt dem einfachsten denkbaren digitalen Verfall (stochastischen Bit-Flips) unterworfen wurde. Mehr und mehr Notationsfehler, also Unspielbarkeiten, entstanden und erfordern Korrekturen durch die Ausführenden. Eine Analyse der Erosionseffekte zeigt, dass die Wirkungen nicht erratisch sind, sondern dass bestimmte musikalische Formelemente immer weiter verstärkt bzw. freigelegt werden – eine spezifische Patina entsteht.
Jede der im Auditorium of Rotting sounds klingenden Versuchsanordnungen streamt permanent ins Internet, und jede Stunde wird automatisiert eine Minute aufgenommen. Aus diesem mittlerweile ca. 200.000 Fragmente umfassenden Klangarchiv werden zufällig Proben entnommen und in den Raum physisch eingeschrieben: Die robotische Installation Inscriptions from the archive (in Zusammenarbeit mit Hannes Köcher) graviert mittels Laser grafische Repräsentationen der Klänge in Form von Spektrogrammen und zugehörigen Metadaten in die hölzernen Bankreihen ein. Diese dienen als Protokoll der Forschungsprozesse bzw. – in eine ferne Zukunft gedacht – auch als potenzielles archäologisches Gedächtnis.
Am 24. September findet an der mdw das Symposium of Rotting sounds statt4, mit Keynote-Beiträgen von Carolin Bohlmann (Akademie der bildenden Künste Wien) und Martin Kunze (Memory of Mankind). Kunzes Erwägungen zur Zukunft kultureller Hinterlassenschaften und Bohlmanns Expertise zum Künstler Dieter Roth liegen dem Forschungsprojekt besonders nahe. Angelehnt an Roths berühmt-berüchtigtes Schimmelmuseum werden sich die entstandenen Arbeiten in den verbleibenden Monaten des Projektes aus dem Auditorium durch Sporenbildung weit verbreiten: Objekt- und Medien-Fragmente verlassen den experimentellen Raum, werden an öffentlichen Orten auffindbar und laden zu Analyse und Reflexion ein.