Ein Diskurs im Spannungsfeld von Musikästhetik und Musiksoziologie
Den Ausgangspunkt des Dissertationsprojekts bildete eine Denkfigur, die im Diskurs um Neue Musik häufig zu beobachten ist: Sie behauptet eine grundlegende Strukturverwandtschaft zwischen musikalischer und gesellschaftlicher Ebene in dem Sinn, dass Neue Musik auf dem fortgeschrittensten Stand des musikalischen Materials als Widerspiegelung der Gesellschaft zu begreifen sei. Durch die Irritation von Hörgewohnheiten rege diese ästhetische Widerspiegelung die Rezipient_innen zu kritischem Denken an und leiste damit einen Beitrag zu gesellschaftlicher Veränderung. Für diese Kompositionshaltung hat Nicolaus A. Huber 1972 den Begriff des kritischen Komponierens geprägt, der in Folge von Autoren wie Claus-Steffen Mahnkopf oder Rainer Nonnenmann auf eine Gruppe vornehmlich westdeutscher Komponisten angewendet wurde, die in den späten 1960er und 1970er Jahren an die Öffentlichkeit traten.
Nonnenmann zufolge besitzt das „Kritische“ des kritischen Komponierens ein dreifaches Telos: Es richtet sich auf die Behandlung des musikalischen Materials ebenso wie auf die soziokulturellen Bedingungen der Musikproduktion und jene der Rezeption. Gegenstand der Dissertation bildet jedoch nicht das kompositorische Phänomen des kritischen Komponierens selbst, sondern der begleitende Diskurs, der eine Kompositionshaltung, welche die gesellschaftlichen Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Musik kritisch reflektiert, normativ einfordert. In der Tradition Theodor W. Adornos wird der Musik somit eine Aufklärungsfunktion zugeschrieben, der diese nur durch die rigorose Reflexion der musikalischen Mittel gerecht werden kann. Dieser Diskurs nimmt heute eine historische Gestalt an: Auf die 1970er und 1980er Jahre, in denen der Kunstmusik mit großer Bestimmtheit eine Bedeutung innerhalb gesellschaftlicher Transformationsprozesse zugeschrieben wurde, folgt eine zweite Phase, die die radikalen politischen Forderungen der Anfangszeit durch einen stärkeren Fokus auf innerästhetische Belange ersetzt, ohne dabei den kritischen Anspruch aus den Augen zu verlieren. Ohne die Differenzen und Brüche innerhalb des Diskurses zu leugnen, liegt der Hauptfokus der Arbeit auf den geteilten Argumentationsmustern und Narrativen, die den Diskurs als solchen konstituieren.
Als Fallbeispiel für die Untersuchung dieses Phänomens dienen die Texte Helmut Lachenmanns, der den Diskurs über das kritische Komponieren, wie auch jenen über Neue Musik insgesamt, wesentlich geprägt hat. Seine Schriften bilden den Kern des untersuchten Korpus, das durch exemplarische Texte aus dem diskursiven Umfeld ergänzt wurde. Zwar distanziert sich Lachenmann (wie auch andere Vertreter des kritischen Komponierens) von einer „engagierten“ Musik, die mithilfe außermusikalischer Mittel zum politischen Handeln aufruft. Dennoch lassen sich die angestrebte Transformation des Denkens und der Wunsch, dass diese die Grundlage für ein verändertes Handeln bilden möge, im Sinne eines weiten Politikbegriffs sehr wohl als Streben nach einer politischen Wirkung verstehen. Die Frage, welche politischen Implikationen im Diskurs über das kritische Komponieren zu beobachten sind, bildet daher das Zentrum der Dissertation.
Zur Beantwortung dieser Frage wird die Methode der Critical Discourse Analysis herangezogen, wie sie insbesondere von Norman Fairclough geprägt wurde. Sie ermöglicht es, den diskursanalytischen Zugang mit einer Theorie der Praxis in einem sozialen Feld zusammenzudenken. Die Analyse des Korpus vollzieht sich dabei in drei Schritten: Zunächst werden die wesentlichen Argumentationslinien in Lachenmanns Texten nachgezeichnet und es wird herausgearbeitet, wie „avancierte“ Musik Lachenmann zufolge ihr gesellschaftsveränderndes Potenzial entfaltet. Der zweite Analyseschritt zielt auf verborgene und implizite Vorannahmen, die dem Diskurs unhinterfragt zugrunde liegen. Sie werden auf ihren ideologischen Charakter hin befragt, der für die Critical Discourse Analysis daran zu messen ist, wie sich der Diskurs zu bestehenden Machtverhältnissen positioniert. In einem dritten Schritt werden die Ergebnisse der Diskursanalyse zur sozialwissenschaftlichen Forschung über das Feld der Neuen Musik in Beziehung gesetzt. Ziel ist dabei, der Sichtweise der Akteur_innen eine Außenperspektive gegenüberzustellen.
Pierre Bourdieu zufolge steht bei Kämpfen innerhalb eines bestimmten sozialen Feldes immer auch die Definition dieses Feldes in seiner Gesamtheit zur Disposition. Umgelegt auf das Feld der Neuen Musik bedeutet dies, dass der Diskurs des kritischen Komponierens zwar einerseits eine emanzipatorische Position besetzt, die für eine Befreiung der Wahrnehmung des Individuums und der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit eintritt. Zugleich unternimmt er aber andererseits auch Bemühungen, das Feld der Neuen Musik zu begrenzen und den Zugang dazu zu reglementieren, und trägt somit tendenziell zur Stützung etablierter Machtverhältnisse bei.
Autorin: Lena Dražić