Wie es ist, wenn plötzlich die Instrumente verstummen, kein Kanon mehr angestimmt werden kann, Orchester, Chöre jäh ihre Arbeit einstellen müssen, hat das vergangene Jahr gelehrt. Das gemeinsame Musizieren, das Singen im Chor ist aber mehr. Das erkunden Alois Glaßner, Professor für Chordirigieren an der mdw und Leiter des WebernKammerchors, Markus Geiselhart, Posaunist, Komponist und Lehrbeauftragter für Big-Band-Leitung an der mdw, und Flavio Marchetti, der La Banda Film als Kollektiv gründete.
In der Musik, auch im Schauspiel spricht man von einem Ensemble. Übersetzt heißt dieser französische Begriff „gemeinsam“. Kann man gemeinsam tatsächlich kreativ sein, oder bleibt das Schöpferische, das Kreative bei einem Chor, einem Orchester, einer Band dem Individuum, das vorne steht, überlassen?
Alois Glaßner (AG): Ich kann das aus dem Chorbereich beleuchten. Es geht um dieses Spannungsfeld zwischen Kollektiv und Individualität, sich mit all seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten einzubringen, gleichzeitig aber immer auch Teil des Ganzen zu sein. Das ist ein sehr spezifisches Umfeld, was sehr gesund ist, weil weder die überschießende Haltung „Ich muss die Welt retten“ noch das Sich-Verstecken im Ensemble zum Ziel führt. Chöre fordern auf, sich einzubringen, aber sie lassen auch nicht zu, dass man dominiert. Für mich ist ein Chor ein wunderbares Laboratorium, um Teamfähigkeit zu erlernen.
Markus Geiselhart (MG): Bei der Big Band treten aus dem Kollektiv immer einzelne Solist_innen hervor und können mit improvisierten Soli der Musik ihren ganz eigenen Stempel aufdrücken. Danach ist es dann wieder wichtig, sich im Kollektiv einzuordnen. Aber auch eine Big Band oder ein Jazzorchester fordert, wie jedes andere Ensemble, einander zuzuhören.
Sie haben La Banda als Film-Kollektiv gegründet. Sie sind der Produzent, also der Chef. Wie funktioniert bei Ihnen das gemeinsame Arbeiten?
Flavio Marchetti (FM): Das Wort Chef lehne ich ab, auch als Produzent bezeichne ich mich nicht so gern, denn das evoziert bei vielen das Klischeebild vom Zigarre rauchenden Cabrio-Fahrer. So bin ich nicht und will ich auch nicht werden. Ich sehe mich als Ermöglicher. La Banda besteht aus vier Personen: einer Regisseurin/Drehbuchautorin, einem Kameramann, einer Editorin und mir. Diese kollektive Arbeit war von Anfang an unsere Stärke. Als wir vor 20 Jahren studierten, wurde unterrichtet, dass Filmemachen die einsame, geniehafte Tätigkeit einer einzelnen Person ist. Wir lehnten dieses Modell ab. Damit waren wir gewissermaßen erfolgreich im Gegensatz zu anderen, die keine Gewichtung auf sozialen Austausch und kollektives Arbeiten gelegt hatten.
Als Tätigkeit eines Genies wird doch auch das Dirigieren gesehen? Wie schafft man die Gratwanderung zwischen Leitung und Teil-des-Ganzen-Sein?
AG: Das Dirigieren gilt als letzter Hort der absoluten Autorität. Aber dieses Bild stammt noch aus der Spätromantik, wo dieser Beruf entstanden ist. Ein rein autoritärer Zugang ist heute nicht mehr möglich. Am Pult initiiert und gestaltet man gemeinsam mit dem Ensemble einen musikalischen Prozess. Man ist nur mittelbar tätig und muss ein Kollektiv für eigene Ideen gewinnen. Dirigieren ist heute eher ein Fokussieren als ein Machen. Aber man braucht Gestaltungswillen, der ist das Entscheidende.
MG: Auch bei einer Big Band ist die Leitung eine Vermittlungsaufgabe. Aber es kommt auch auf die Art des Ensembles und die Probenzeit an. Bei Studierenden geht es eher darum, dass sie verschiedene Stilmittel kennenlernen und z. B. auch erleben, wie das ist, wenn man gemeinsam atmet. Mit professionellen Bands hat man oft nur wenig Probezeit, da fehlt oft die Zeit für gemeinsame kreative Prozesse. Beim kollektiven Arbeiten geht es um gegenseitige Befruchtung von Ideen, um Kreativität und um gegenseitiges Zuhören. Das ist auch im Leben total wichtig.
Färbt das auch aufs Leben ab?
AG: Absolut. Man spürt, ob jemand in einem Ensemble sozialisiert ist oder im solistischen Bereich.
FM: Ich sehe Filmarbeit auch als Beziehungsarbeit. Man muss emotional intelligent sein, das heißt, dass man sich auf unterschiedliche Arbeitsweisen einlässt. Die Vorstellung, dass das Filmemachen eine reine Zusammenfügung von technischen Einzelteilen ist, ist mittlerweile Geschichte. Und das ist gut so.
AG: Das unterschreibe ich. Das ist ein ganz wesentlicher Teil des Prozesses. Ein Chor oder ein Orchester ist ein Instrument mit einer eigenen Seele, eigenen Vorlieben. Die Kunst ist, das zu erspüren. Das ist ein sensibler Prozess. Wenn die Offenheit auf beiden Seiten da ist, entstehen magische Momente. Es ist immer ein Geben und Nehmen – auf beiden Seiten. Leitungsmodelle können sehr unterschiedlich aussehen. Es gibt ja auch Ensembles, die ohne Dirigent_in spielen, aber irgendjemand leitet immer, wenn Menschen miteinander musizieren.
MG: In der Big-Band-Tradition gibt es immer wieder Orchester, wo niemand am Pult stand. Zum Beispiel Duke Ellington. Er saß am Klavier und hat seine Band von dort aus geleitet. Aber diese Big Bands früher haben bis zu 300 Konzerte im Jahr gespielt. Auf den Reisen bzw. während einer Tournee entstand auch zwischenmenschlich etwas, das in einem normalen Probenbetrieb nicht herstellbar ist. Es tut mir leid, auch für die Studierenden heute, dass das immer mehr verloren geht, da größere Tourneen von Großensembles im Jazzbereich immer seltener werden.
FM: Beim Film entwickelt sich im besten Fall spätestens während des Drehs ein Kollektiv. Und wenn ein Regisseur/eine Regisseurin während der Dreharbeiten überfordert oder unsicher wird, greift er/sie im besten Fall auf die Expertise und Verantwortung dieses Kollektivs zurück. Dann zieht man den Wagen gemeinsam aus dem Schlamm. Wenn die Überforderung verleugnet wird und der Führungsstil noch autoritärer wird, kann das Kollektiv das eigene Potenzial auch nicht entfalten.
Kann ein Orchester nicht auch Schwächen eines Dirigenten ausgleichen?
AG: Das Entscheidende ist das innere Bedürfnis, etwas zu gestalten, und dann geht es um hohe kommunikative Kompetenz, damit ich meine Vorstellung einem Kollektiv vermitteln kann und einen Prozess in Gang setze, der etwas entstehen lässt. In einem Symphonieorchester gibt es klare Strukturen, das ist ein in hohem Maße sich selbst organisierendes Ganzes. Deshalb kann ein gutes Orchester eine schwache dirigentische Leistung auffangen. Bei einem Chor ist das anders. Die Menschen selbst sind das Instrument. Und dieses Instrument muss durch sängerisches, vom Atem geführtes Dirigat erst befähigt und zum Klingen gebracht werden. Schlechtes Dirigat wirkt sich im Chor daher viel unmittelbarer aus.
MG: Aber man hört es auch beim Orchester.
AG: Die Settings sind immer unterschiedlich, die Modelle der Zusammenarbeit sind ziemlich universell.
MG: Es kommt darauf an, mit wem ich arbeite. Was man oder wie man es vermittelt, ist immer gleich. Ich sehe mich als Teil des Ganzen, wenn ich vor einer Band stehe. Und es geht auch darum, Energie zu entfachen. Die Musiker_innen sind das Wichtigste für den Dirigenten, die Dirigentin, und das Wichtigste beim Dirigieren ist, dem Musiker, der Musikerin Selbstvertrauen zu geben. Wenn man einen Musiker, eine Musikerin vor dem Einsatz ansieht, kann man ihm/ihr sehr helfen. Es gibt aber auch welche, die verschlimmern die Angst vor dem Einsatz.
Beim Film wird vom Regiesessel aus dirigiert. Wie wichtig ist das Team, wie Cutter oder Kameraleute?
FM: Es gibt die romantisierte Figur vom geniehaften Regisseur, der alles alleine macht. Natürlich gibt es auch Ausnahmen von Filmemacher_innen, vor allem im Dokumentarfilmbereich, die sehr viel alleine machen. Aber auch in diesen Filmen ist eine Form der kollektiven Arbeit trotzdem immer präsent. Das Filmemachen basiert auf einem Spannungsverhältnis. Unterschiedliche Ideen und Vorstellungen werden in einer gemeinsamen Filmsprache zusammengefügt. Dieser Prozess kann zwar auch spannungsgeladen sein, aber das ist auch das Schöne daran.
Wie ist es mit Frauen am Dirigentenpult oder im Regiesessel? Manche werden sich fragen, warum in unserer Runde keine Frauen diskutieren. Wie ist die Ausgewogenheit im Lehrpersonal?
FM: Als ich vor 20 Jahren studiert habe, war der Frauenanteil unter dem Lehrpersonal der Filmakademie eine Katastrophe. Mittlerweile gibt es auch Frauen, die in den künstlerischen Fächern unterrichten, aber wir sind noch weit entfernt von einer ausgewogenen Besetzung.
AG: Im Vorjahr wurden fast gleich viele Frauen und Männer im Dirigierstudium aufgenommen, heuer waren es wieder deutlich mehr Männer. Wir haben da noch ein Stück Wegs vor uns. Rollenbilder ändern sich nur langsam. Es scheint so, als ob sich Frauen Führungsrollen manchmal noch nicht so einfach zutrauen.
MG: Ich glaube, das hängt mit der Sozialisierung zusammen, das beginnt schon im Kindergarten. Und wenn es darum geht, welches Instrument zur Verfügung steht. Ich spiele Posaune und komme aus einer Blasmusikkapelle wie die meisten Blechbläser. Dort wäre früher niemand auf die Idee gekommen, einem Mädchen ein tiefes Blechblasinstrument anzubieten. Und ich befürchte, da hat sich an vielen Orten bis heute leider nicht viel geändert.
Ist das beim Film ähnlich?
FM: Da haben sich Bilder verfestigt, die man wieder loswerden muss. Ich sehe da eine große Ähnlichkeit bei Film und Musik – weil was die Gleichberechtigung betrifft: Wir befinden uns noch im Steinzeitalter. Das hat mit vielen Faktoren zu tun. Unter anderem, dass es lange keine Vorbilder gab.
MG: Zumindest zu wenig! Aber Vorbildrollen sind ganz wichtig.
FM: Die männlichen Vorbilder und Archetypen haben über die Jahrzehnte die Filmgeschichte dominiert. Der Mann als Held und die Frau als reines Lustobjekt. Dieses Paradigma hat sich so tief in unserer Wahrnehmung verinnerlicht, dass wir das Kino noch nicht endgültig vom männlichen Blick trennen können.
Im September eröffnete die Metropolitan Opera in New York mit einer Oper von Terence Blanchard. Er war der erste schwarze Komponist, der in der Geschichte der Met aufgeführt wurde. Wo aber sind schwarze Dirigenten?
MG: In den USA durften Schwarze nicht einmal in klassische Konzerte bzw. gab es getrennte Konzertorte für Schwarze und Weiße. Es gibt doch diese Geschichte von Frank Sinatra, als er mit dem Tommy Dorsey Orchester gespielt hat. Das war eine weiße Band. Als man den Arrangeur der Band, Sy Oliver, einen Schwarzen, nicht in dasselbe Hotel wie die Band lassen wollte, schlug Sinatra zu. Das war in den 1940er Jahren. Und ich befürchte, es braucht noch immer ein oder zwei Generationen, bis das aufgebrochen ist.
FM: Es gibt Leute, die benachteiligt sind, und Minderheiten, denen der Zugang zu bestimmten Ausbildungen erschwert wird. Wenn ich tagtäglich Diskriminierungen erlebe, kann der Weg zu einem künstlerischen Beruf in einer leitenden Funktion zum Spießrutenlauf werden.
MG: Beim Jazz war es anfangs eher umgekehrt. Das war eine ziemlich stark von Schwarzen geprägte Musik, die dann teilweise infrage gestellt haben, ob Weiße das überhaupt spielen können. In den letzten 70 Jahren hat sich dennoch in Europa eine unfassbar spannende Jazz-Szene entwickelt. Das hat sehr viel mit Rollenbildern zu tun. Da ist erschreckend viel festgefahren. Es geht jetzt endlich darum, Rollenbilder aufzubrechen, dass für jeden Menschen alles möglich ist.
FM: Deshalb braucht man Maßnahmen wie die Geschlechterquote in der Filmbranche.
MG: Ich glaube, Vorbilder sind viel wichtiger.
Besteht da nicht die Gefahr, dass Quote Qualität ausschließt?
FM: Keinesfalls. Österreich ist das erste Land, das diese Gleichstellungsmaßnahmen eingeführt hat. Es geht um ein Stufenmodell mit dem Ziel, die Gleichstellung von Männern und Frauen bei der Mittelvergabe zu erreichen, bei der die künstlerische Qualität der eingereichten Projekte doch von großer Bedeutung ist. Die „Gefährdung der Qualität“ ist die Rhetorik von denen, die die Quotenregelung als eine Bedrohung ihrer Privilegien sehen. Was auch wahr ist. Ich stehe hinter diesem Modell, weil wir nicht mehr auf Veränderung warten können.
AG: Quoten sind immer eine Notlösung. Aber es kann in gewissen Situationen dadurch Impulse geben. Wir müssen uns immer anschauen, wo wir uns bewegen. Bei Probespielen von Orchestern sieht niemand, wer hinter dem Vorhang spielt. Aber bei Führungsrollen ist das nicht so. Die kann man nicht blind besetzen. Beim Dirigieren fände ich eine Quote problematisch, weil wir noch nicht in allen dirigentischen Bereichen die erforderliche qualitative Breite haben. Deshalb sind Förderungsmaßnahmen absolut notwendig und wichtig. Und auch die Vorbildwirkung von erfolgreichen Dirigentinnen spielt eine große Rolle.
Lernt man das gemeinsame Arbeiten nach Monaten der Vereinzelung, des Konzertstreamings wieder mehr zu schätzen?
MG: Wenn man gemeinsam singt, musiziert, da entsteht eine Energie. Ein Konzerterlebnis, wo man ein Ensemble erlebt, wo das Publikum diese Energie spürt und man selbst die Energie vom Publikum. Das ist durch nichts zu ersetzen, auch nicht durch Streaming.
Diese Energie gibt es beim Film wahrscheinlich nicht.
FM: Doch. Wenn man den Film, den man gemeinsam geschaffen hat, dem Publikum in einem vollen Kinosaal präsentiert. Wir leben zwar in der Zeit der Streaming-Anbieter, aber wir dürfen nicht vergessen, dass Kino noch immer eine kollektive Erfahrung ist!
AG: Die Faszination, dass man an einem großen gemeinsamen Ganzen arbeitet, das mehr ist als die Summe der Teile. Das spürt man. Man ist Teil eines Kollektivs, in dem die Summe der einzelnen Mitglieder aufgeht, das ist ein Aspekt, warum wir gemeinsam musizieren. Das mag pathetisch klingen, aber es macht in gewisser Weise süchtig.