Wie sich Musiker_innen Wissen und Können im Bereich der Musikvermittlung aneignen und was das für die Aus- und Weiterbildung bedeutet.
Aktivitäten im Bereich der Musikvermittlung sind für viele klassische Musiker_innen mittlerweile ein integraler Bestandteil der beruflichen Tätigkeit. Unabhängig davon, ob sie Portfoliokarrieren aufweisen, die verschiedene berufliche Tätigkeiten miteinander verbinden, oder sich in festen Anstellungen befinden, sind sie beispielsweise in Konzerte für Kinder, längerfristige Kooperationen zwischen Kultureinrichtungen und Schulen, neue Konzertformate für unterschiedliche Publika oder Community-Projekte mit diversen Bevölkerungsgruppen involviert. Dabei realisieren sie über das Spielen ihres Instrumentes hinaus Praktiken, auf die sie in der Regel in ihrem Instrumentalstudium nicht vorbereitet wurden. Zwar entstanden als Reaktion auf die steigende Bedeutung von Musikvermittlung, vor allem im klassischen Konzertbetrieb, seit der letzten Jahrtausendwende im deutschsprachigen Raum vereinzelt eigene Studiengänge und Weiterbildungen, zum Teil wurden auch Curricula von künstlerischen und künstlerisch-pädagogischen Studien modifiziert, eine adäquate formale Vorbereitung von Musiker_innen auf diese Tätigkeit ist bis dato jedoch weitgehend nicht gegeben.
In meiner Dissertation untersuche ich daher, wie Musiker_innen, die in der Musikvermittlung tätig sind, sich das dafür nötige Wissen und Können aneigneten. Aus den Erkenntnissen leite ich Empfehlungen zur Aus- und Weiterbildung von Musiker_innen an Hochschulen und in Musikbetrieben ab. Meine Daten stammen aus Interviews mit zwölf in Österreich lebenden Musiker_innen, die als Forschungspartner_innen auch in Form kommunikativer Validierungen in den Forschungsprozess involviert waren. Die Auswertung erfolgte vor dem Hintergrund von praxistheoretisch und pragmatistisch informierten Annahmen über Sozialität und Lernen mit der Situational Analysis von Adele E. Clarke.
Grundsätzlich messen die Musiker_innen ihrem Instrumentalstudium kaum Bedeutung für ihre Tätigkeit in der Musikvermittlung bei. Ausnahmen bilden hier lediglich Orchesterprojekte, die in Kooperation mit pädagogischen Instituten stattfanden, und Hauptfachlehrende, von denen Impulse zu einer spezifischen, dem Publikum zugewandten Musizierhaltung kamen. Aus einer Defizitwahrnehmung heraus konstruierten einige Forschungspartner_innen ein individuelles Curriculum, wobei sie einerseits Schwierigkeiten hatten, dies mit den Anforderungen ihres Studiums zu vereinbaren, und andererseits aufgrund ihrer extracurricularen Tätigkeiten mit Devaluation seitens Lehrender und Mitstudierender konfrontiert waren.
Demgegenüber ließen sich vielfältige Lernprozesse in informellen Kontexten rekonstruieren, die sich über die gesamte Lebensspanne der Forschungspartner_innen erstrecken, sowie einschneidende Momente, in denen sich im Zusammenhang mit Praktiken der Musikvermittlung signifikante und nachhaltige Identitätstransformationen ereigneten. Besonderen Stellenwert haben selbstgegründete Ensembles als Versuchslabore – Rineke Smilde spricht von Artistic Laboratories –, in denen die Musiker_innen frei von strukturellen oder institutionellen Einschränkungen und in einer lernförderlichen Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens neue Formate entwickeln und erproben konnten. Hospitationen bei anderen Orchestern spielten im Sinne eines Lernens am Modell ebenfalls eine wichtige Rolle und boten die Möglichkeit, beobachtete Praktiken in die eigene Tätigkeit zu integrieren und weiterzuentwickeln. Als „legitime periphere Partizipation“ im Sinne von Jean Laves und Etienne Wengers Theorie situierten Lernens erwies sich die Teilnahme der Musiker_innen an bestehenden Praktiken der Musikvermittlung, in deren Rahmen sich häufig signifikante Andere – Musikerkolleg_innen oder Musikvermittler_innen – als für die Lernprozesse bedeutsame Menschen herauskristallisierten. Auf bestehende Machtstrukturen verweist die Erkenntnis, dass Intendanten und Chefdirigenten sich bei einigen Orchestermusiker_innen als Gatekeeper erwiesen, die ein weiteres Engagement und damit weiteres Lernen in Praktiken der Musikvermittlung entweder ermöglichten oder verhinderten.
Musikhochschulen stehen vor der Herausforderung, Musiker_innen auf eine Tätigkeit im Bereich der Musikvermittlung vorzubereiten und entsprechende Angebote zu entwickeln. Die Analyse der Lernwege meiner Forschungspartner_innen verweist auf den Bedarf sowohl an spezifischen Lehrangeboten als auch an Freiräumen für ein Lernen und Experimentieren in künstlerischen Versuchslaboren. Dies zieht die Notwendigkeit der Weiterentwicklung von bestehenden Curricula und die Entwicklung neuer Studienangebote nach sich, wie es beispielsweise der Master Contemporary Arts Practice (CAP) an der mdw sein wird. Zudem benötigen die Studierenden unter ihren Hauptfachlehrenden Role Models, deren künstlerisches Portfolio über die traditionellen Karrierewege im klassischen Musikbetrieb hinaus auch Praktiken der Musikvermittlung umfasst. Für bereits im Beruf stehende Musiker_innen werden maßgeschneiderte Angebote der professionellen Fort- und Weiterbildungen benötigt, die in Kooperationen zwischen Hochschulen und Kulturinstitutionen entstehen könnten. Letztlich bedarf es der Arbeit an einem weiten Verständnis von künstlerischer Exzellenz, deren unverzichtbares Fundament die Könnerschaft am Instrument ist, die darüber hinaus aber auch pädagogische Sensibilität und soziale Verantwortung umfasst.
Die Dissertation wird im Juni 2022 im Transcript-Verlag erscheinen.