Wenn Musiker_innen und Publikum eine Verbindung eingehen
Konzertsaal: Videokonferenz
„Springt auf von eurem Konzertstuhl, zieht die Jacken aus und holt eure Tickets an der Abendkassa ab!“ Ich betrachte unter mir einen wackeligen Küchensessel, vor mir drei Seiten Zoom-Kacheln und überlege angestrengt, wo in meiner Wohnung rot gepolsterte Samtmöbel zu finden sind. In welcher Konzertmentalität bin ich da gelandet?
In einer neu gedachten. Hanne Pilgrim, Adrián Artacho und das Team des künstlerischen Forschungsprojekts Social d[ist]ancing performen mit den Teilnehmer_innen des digitalen Symposiums Rethinking Classical Music Practice György Ligetis Lux Aeterna in einer Zoom-Sitzung. Über einen Ticketlink wurden alle zu einer aktiven Partitur geleitet, bei der jede_r für einen anderen Teil des Stücks verantwortlich war. Das Ergebnis waren gemeinsame Minuten voller Musik und Stille zugleich – gelebte Community.
Rethinking Classical Music und Doing Community – zwei zentrale Bausteine der Veranstaltung Rethinking Classical Music Practice. Audience and Community Engagement in Classical Concert Life. Das Symposium, das von Axel Petri-Preis (mdw) und Constanze Wimmer (KUG) organisiert wurde, beschäftigte sich drei Tage lang mit der Frage, wie man das klassische Musikleben im 21. Jahrhundert neu denken kann und auch muss.
Schauplätze dieses Rethinkings sind nicht nur die Musik, sondern auch die Art der Performance sowie der Kontakt zwischen Musiker_innen und Publikum. Wenn nach dem verbindenden Element zwischen Musizierenden und Zuhörenden gesucht wird, erübrigt sich die Frage, ob man vom Küchentisch oder dem roten Samtsessel aus Musik erlebt. Viel wichtiger ist: Wie kann eine Verbindung zum Gehörten hergestellt werden?
Bedeutsamkeit in alten und neuen Räumen
Das klassische Musikleben ist von wirkmächtigen Ausschlussmechanismen geprägt. Deutlich sichtbar wird dies an der vergleichsweise geringen Zahl von Menschen, die Angebote von öffentlich finanzierten Kulturinstitutionen in Anspruch nehmen. Diese, so Axel Petri-Preis, müssten nicht zuletzt angesichts einer immer diverser werdenden spätmodernen Gesellschaft in einem transformativen Prozess ihre elitäre und hegemoniale Position überwinden, um Musik durch Praktiken der Teilhabe und „Teilgabe“ für alle bedeutsam zu machen. Der Weg zu einer solchen partizipativen Musikkultur führe über audience engagement und community building. Dafür müssen die Bedürfnisse der Communitys viel stärker als bisher in den Fokus rücken.
Zwei Konzepte, die sich Inklusion, Partizipation und kulturelle Demokratie auf die Fahnen schreiben, sind Musikvermittlung und Community Music. In einer Philippika konturieren Alicia de Bánffy-Hall und Constanze Wimmer deren Grundlagen und Ziele und arbeiten Unterschiede und Überschneidungen heraus.
Wo kann klassische Musik über den Rand der Bühne blicken und neu gedacht werden? Die Klarinettistin Barbara Neu siedelt ihre Konzertbühne für das zeitgenössische Werk Stalltänze (Komposition: Petra Stump-Linshalm) in einem Stall an. In diesen Konzertsaal passt kein Podest, Barbara Neu ist auf derselben Ebene wie alle anderen im Raum. Umringt von blökenden Ziegen bewegt sie sich mit ihrem Instrument durch die Tiere. Hier wird neben der Musik etwas anderes bedeutsam: Wo spielen Musiker_innen? Wie bewegen sie sich durch den Raum? Sind sie auf Augenhöhe mit dem Publikum? Rethinking von Konzerträumen will nicht den Parkettboden im Musikverein zerstören, sondern ihm an anderen Orten einen zusätzlichen Teppich ausrollen – und damit neue Aspekte der Teilhabe eröffnen.
Verbindet euch unverzichtbar!
How do we come to matter?, fragt Keynote-Speaker Doug Borwick und gibt die simple Antwort „By mattering“. Der Schlüssel zu bedeutsamer Musik sei es, unverzichtbar zu sein. Und unverzichtbar ist die tiefe Verbindung mit einer Community, die der Aufführung von Musik als gleichwertig angesehen wird. Doch wie wird man bedeutsam? Was schafft diese tiefe Verbindung zur Kunst, in diesem Fall klassischer Musik?
Eine Inszenierung von West Side Story sei je nach Aufführungsort anders relevant für Zuhörer_innen aus unterschiedlichen Milieus. Die Kulturbranche müsse demnach community aware sein. Dazu gehören genaue Überlegungen, welche Aufführung wirkliche Bedeutung für welches Publikum hat. Auch Hannah Conway, künstlerische Leiterin von Sound Voice, spricht von der Notwendigkeit der Verbindung zwischen den Menschen im Publikum und jenen auf der Bühne. Es brauche zwar nur Neugier, um mit Musik in Verbindung zu treten – doch für eine langfristige Verbindung reiche sie nicht aus. Im Vordergrund steht für sie eine Gleichheit der Bühnen – und mit Bühnen meint sie nicht nur die Main Stage, sondern auch den Publikumssaal, von dem aus jede_r partizipieren soll.
Das Wir im Plural, das Ich im Wir
Das gewichtige Potenzial von Communitys in der Musikvermittlung rückt auch der Soziologe Simon Güntner in den Mittelpunkt. Starke Gemeinschaften sorgen für stabile Gesellschaften. Früher in Dorf und Familie angesiedelt, entstehen heute ganz neue, auch kurzfristige Formen von Vergemeinschaftung. Durch gemeinsame Erfahrungen in Abgrenzung zu anderen verbinden sich Einzelne zu einer neuen Community. Dieser Gedanke lässt sich auf die Musik übertragen. Gemeinschaften existieren immer nur im Plural – es gibt keine einzelne „richtige“ Gemeinschaft, sondern viele parallel zueinander.
Innerhalb der Gemeinschaften existiert allerdings auch das Individuum: Hannah Conway stellt die Frage, wer die Person hinter dem Musizieren und Musik-Erleben ist. Sie erzählt von einer Sängerin, deren Stimme aufgrund ihrer Krebserkrankung beschädigt wurde. Sie wollte ihren Kindern eine Erinnerung an ihre Stimme schenken. So entstand ein Musikwerk, in dem Aufnahmen der gesunden Stimme mit dem Satz „Your Mommy has cancer“ mit Gesängen mit der beschädigten Stimme nach der Krankheit verwoben wurden. „Wir hören niemals geschädigte Stimmen“, meint Hannah Conway. „Warum nicht?“ Durch das Einbeziehen von ansonsten ausgeklammerten Sounds werden Personen erreicht und berührt, die sonst nie damit in Kontakt gekommen wären.
Beiträge für die Gesellschaften
Die Bedeutung der eigenen Identität streicht auch Rineke Smilde in ihrem Vortrag hervor. Sie verknüpft die Frage, wer man selbst als Musiker_in ist, mit dem Anspruch, dadurch etwas für die Gesellschaft beizutragen. Sie erzählt von Musik im Gesundheitsbereich, wo Musiker_in, Patient_in und Pfleger_in gemeinsam miteinander musizieren. Hier bekomme der Begriff der Exzellenz, der in der Konzertbranche so viel Raum einnimmt, eine neue Bedeutung. Exzellenz sei nicht nur im musikalisch-technischen Bereich nötig, sondern vielmehr auf einer sozialen Ebene. Erst durch diesen ganzheitlichen Ansatz kann es zu einer vertieften Kommunikation zwischen Musiker_innen und Publikum kommen. Im Gesundheitsbereich können etwa Pflegende die Person hinter der Demenz auf eine Art und Weise sehen, die im normalen Pflegealltag und herkömmlichen Beziehungsgefüge nicht funktioniert. Durch einen ganzheitlichen Ansatz des Musizierens können solche Beiträge für die Gesellschaft aber geschaffen werden.
Wo es brennt: Ungerechtigkeiten im klassischen Konzertbetrieb
Rosa Reitsamer thematisiert den problematischen Umgang mit gender, race und sexuality in Zusammenhang mit der klassischen Konzertbranche. Sie zeigt auf, wie ungleich der Zugang zu klassisch ausgerichteten Institutionen ist, die damit unsichtbare soziale Grenzen ziehen. Konzertbesucher_innen entstammen üblicherweise einem Milieu, in dem der Konzertbesuch sozialen Status mit damit in Verbindung gebrachtem Geschmack demonstriert.
Diese Art der Ausgrenzung treffe nicht nur Personen, sondern auch die Musik selbst. Historisch gewachsen, wurden Musiken die Begriffe „schwarz“ oder „weiß“ zugeschrieben. Durch dieses racial marking wurden die „weiße“ klassische Musik in ihrer Vormachtstellung mit Privilegien und universeller Gültigkeit behaftet, während Musik von People of Colour systematisch aus Konzerthäusern ausgeschlossen war.
Eine bemerkenswerte Initiative gegen Rassismus im Konzertbetrieb stellt das Chineke Orchestra dar. Ishani O’Connor, Learning and Participation Manager dieses Ensembles, beschreibt im abschließenden Round Table, wie junge musizierende People of Colour gezielt gefördert werden und wie das Orchester die Musik „schwarzer“ Komponist_innen wiederentdeckt und hörbar macht.
Hört kritisch!
Es brennt also gewaltig, und das nicht nur wegen ausbleibender Besucher_innen angesichts der Corona-Pandemie. Umso wichtiger ein Rethinking und beständiges Reflektieren der Praxis. Rosa Reitsamer plädiert zuallererst für ein Überwinden von defizitären kulturellen Modellen. Dies fange schon beim Hören an: „Hört kritisch“, sagt sie und meint damit: Wie wird das eigene Hören von gender, race, Biografie und Klasse beeinflusst? Erst durch das Verstehen der eigenen Identität könne man beginnen, Musik differenziert wahrzunehmen. Mit der Haltung einer creative justice sollen in der klassischen Musik Respekt und Gleichheit der Teilnahme in den Vordergrund rücken.
Community Building im Symposium
Im Symposium stellt sich die Frage nach fehlenden Gemeinschaften nicht: Teilnehmende und Vortragende, Musiker_innen und Zuhörer_innen wurden fortwährend miteingebunden: Neben Hands-on-Workshops gab es künstlerische Aktivitäten zu den Performances, um das eigene Lernen und Sein in Verbindung mit den Vorträgen zu bringen.
So können die Teilnehmer_innen das Schlusswort der Musiker_innen Maria Gstättner-Heckel und Stefan Heckel nach deren einführender Improvisation übernehmen: „We hope you enjoyed it, we certainly did.“
Das Symposium Rethinking Classical Music Practice. Audience and Community Engagement in Classical Concert Life fand von 25. bis 27. 11. 2021 online statt. Organisator_innen waren Axel Petri-Preis, Senior Scientist und stv. Institutsleiter am IMP, und Constanze Wimmer, Vizerektorin der KUG, in Kooperation mit der Plattform Musikvermittlung Österreich sowie mica – music austria.
Alle Vorträge sind in der auf YouTube verfügbar.