Aging and Aging Trouble

Wir alle altern. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Seit der Geburt. Nicht erst seit dem 50., 55. oder 60. Geburtstag. Irgendwann jedoch, so scheint es, sind wir alt. Keine Bewegung mehr, sondern Stillstand. Zuschreibungen über Zuschreibungen prasseln auf jene ein, die eine kalendarische Marke überschritten haben. Individualität war einmal. Was sich Einzelne wünschen, welche Ideen und Kräfte sie beflügeln, erscheint gesellschaftlich nicht mehr relevant.

Ein unangenehmes Thema also? Ja, vielleicht. Aber ein Notwendiges. Und eines, das von keiner unserer Existenzen zu trennen ist. Ein engstens mit Lebenskonzepten Verwobenes. Wir sind immer wieder für etwas zu alt oder auch zu jung – für Zugänge zum Bildungssystem, für Filme und Websites, für ein Stipendium, Förderungen, Preise, dafür, ein Baby zu bekommen, stylishe Kleidung zu tragen, ein neues Leben zu beginnen. So meinen es die Regeln der Gesellschaft.

Obgleich es in Bezug auf Sexismen, Rassismen, Homophobie, Klassismen und Ablismen noch jeweils viel an Bewusstseinsarbeit zu tun gibt, hat sich ein politisches Selbstverständnis über gesellschaftliche Macht- und Ausschlussmechanismen etabliert. Gerade auch an einem Ort wie dem einer Universität sind Menschen diesbezüglich vielfach sensibilisiert. Trotzdem ist niemand vor dem Verletzen und Abwerten anderer gefeit. Gerade in denjenigen Dimensionen, für die wir noch nicht so viel Sensibilität entwickelt haben, passiert es, Menschen so zu behandeln, wie wir selbst nicht behandelt werden wollen. So mit ihnen zu sprechen, wie wir, sollten wir einmal in dieser Lage sein, nicht angesprochen sein wollen. Und wir alle werden in diese eine spezifische Lage kommen, wenn wir es überhaupt erleben – immer älter zu werden. Aging is living. Trotzdem wird Alter primär als Differenzmarker verwendet. Und obgleich wir vermeintlich essentialistische Merkmale – Geschlecht, Ethnie, soziale Zuordnung, sexuelle Orientierung, Befähigung etc. – als Ungleichheitskategorien und Machtinstrumente bereits dekonstruierend als soziale Konstrukte durchschaut haben, meinen wir zu erkennen, dass jemand alt ist – am Geburtsdatum, an den Falten, der Farbe des Haares, an der Verlangsamung der Schritte, der Müdigkeit etc.

Ich habe in den letzten Jahren dazu geforscht, wie Agism Frauen schadet. Wir alle kennen diese gesellschaftlichen Zuschreibungen: Wenn Männer weiße Haare haben, zeichnet sie das als weise aus, Frauen hingegen als alt und unattraktiv. Durch die Medien bekommen wir tagtäglich zu hören: Alt zu sein ist etwas Schlimmes, jung zu sein hingegen gut. Noch schädlicher jedoch ist, was ich internalisierten Agism nenne, d. h., diese gesellschaftlichen Wertungen in uns hineinzunehmen. Sie zu akzeptieren, schränkt uns ein, denn es passiert unbewusst. Wir müssen uns damit auseinandersetzen! Zum Beispiel: Zu alt dafür zu sein, etwas Neues zu beginnen. Als ich meine zweite Doktorarbeit zu Ende schrieb, war ich 73 Jahre. In den USA gibt es bereits eine Gegenbewegung dazu, zu den Nachteilen des Alterns zu forschen. Wir müssen begreifen, was spannend und gut daran ist, Stichwort: ‚positive aging, wise aging, holistic aging.‘

Evelyn Torton Beck, Emerita für Women’s Studies, University of Maryland, Washington, D.C. und Ehrendoktorin der mdw

2003 habe ich Judith Butlers Konzept von Gender Trouble auf eine Reise in die Gerontologie und Aging Studies geschickt. Aging Trouble drückte die Unruhe, das Unbehagen in einer Zeit, in welcher der Altersdiskurs hohe Wellen schlug, aus. Es ist zu fragen, welche, vielleicht auch subversiven Strategien gibt es, diese überkommenen Alterskonstruktionen, Alterstopoi, die realiter bestimmen, wie wir uns alternd performativ inszenieren dürfen, zu unterlaufen. Die Künste stellen dabei ein qualitativ wertvolles Korrektiv zur Gerontologie dar. Und ja, ich verstehe mich in Anlehnung an Walter Benjamin als PassAGEnwerkerin, rites de passage, aber auch in räumlicher Anordnung. Und ich fragte mich, welche Narrative für diese biografischen Übergänge des Alterns dazu zur Verfügung stehen, ob nicht andere zu finden sind, sie zu gestalten.

Miriam Haller, Kulturwissenschafterin, Kulturgeragogin, Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und Inklusion (kubia) in Nordrhein-Westfalen

Susan Sontag prägte den Begriff des Double Standard of Aging schon 1973. Sie kritisiert Altern als gesellschaftliche Verurteilung von Frauen, die der Beendigung ihrer Selbstimagination gleichkommt. Sie machte damals bereits deutlich, dass wir es mit einer kulturell definierten Kategorie zu tun haben, die Realitäten erzeugt. Sie basieren, auch wenn es heute bereits vereinzelt Gegenbilder gibt, auf der Polarisierung von Jung und Alt, die sich im globalen Norden folgendermaßen darstellt: Aktivität, Energie, Kraft das männlich konnotierte Jungsein, während die weiblich konnotierte Inkompetenz, Hilflosigkeit, Passivität für das Altsein steht.

Der Blick auf ältere Frauen in der Öffentlichkeit hat sich tragischerweise ja kaum verändert. Ethel Smyth, Komponistin, Dirigentin, Schriftstellerin, Managerin, Suffragette, ging 1877 im Alter von 19 Jahren gegen den Willen der Eltern von England nach Leipzig, um Komposition zu studieren. Sie brachte ihre erste Oper ihren Wünschen gemäß noch vor ihrem 40. Geburtstag auf die Bühne. Eine enorme Leistung, da es keinerlei weibliche Vorbilder gab. Bezeichnenderweise wird in den Quellen vor aller Werkkritik immer wieder ihr Alter in Kombination mit ihrer körperlichen Erscheinung betont, z. B. ‚zwar nicht mehr jung, aber von kindlicher Freude‘ oder ‚eine etwa 48-jährige Engländerin in farblosem, sackartigem Gewand‘. In ihrer Autobiografie wirkte sie diesem sexistischen, ableistischen – sie wurde später taub –, homophoben – als Lebensgefährtin von Virginia Woolf im bereits fortgeschrittenen Alter – Agism immer wieder mit Humor entgegen.

Angelika Silberbauer, Univ.-Assistentin am Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung, Vorsitzende des Arbeitskreises für Gleichbehandlungsfragen (AKG) an der mdw

Je intensiver wir uns mit Gender Studies bzw. Diversität in einer transdisziplinären Perspektive auseinandersetzen, desto sensibler reagieren wir auf institutionell normative, sozialpolitisch gesetzte Alterszuschreibungen. Das ist anstrengend, ist aber ein wesentlicher Impuls zur Menschlichkeit. Denn die ethischen und politischen Dimensionen dieses Themas laufen immer in einem Punkt zusammen: Wie gehen wir mit uns selbst und miteinander um? Diese Frage ist immer wieder aufs Neue zu stellen. Denn wir alle, ausnahmslos, sind mit dem Älterwerden, mit Aging und Aging Trouble konfrontiert – wenn wir es erleben.

Eine mdw-Veranstaltung zum Internationalen Frauen*tag 2021. aging and aging trouble. was alle erfahren, wenn sie es erleben. Ein Gespräch mit Evelyn Torton Beck, Miriam Haller und Angelika Silberbauer. Moderation: Doris Ingrisch

Zum Nachsehen und -hören: mdw.ac.at/ggd/aging-trouble

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