Marko Kölbl, Fritz Trümpi, Hg. Music and Democracy: Participatory Approaches, 2021, Wien: mdwPress.
Dieser wertvolle Sammelband, dessen Beiträge größtenteils im Rahmen der jährlichen isaScience-Konferenz der mdw entstanden sind, stellt eine unverzichtbare und über Open Access frei zugängliche Lektüre dar – nicht allein wegen der institutionellen, disziplinären, geografischen und kritischen Vielfalt der darin enthaltenen Stimmen, gewählten Ansätze und behandelten Themen, sondern auch wegen des geschichtlichen Bogens, der angesichts der prekären Bedingungen unseres historischen Augenblicks tiefergehende kontextabhängige Einsichten nahelegt.
Die Herausgeber Marko Kölbl und Fritz Trümpi halten fest, dass die Beiträge inhaltlich von zwei Problemfeldern geprägt sind: Zum einen die „Spannungsdichotomie“ zwischen hegemonialen und/oder regressiven politischen und institutionellen Interessen versus Musik- und Performancepraktiken, die von Wissenschaftler_innen oft als Narrative eines inklusiven, liberal-demokratischen und progressiven sozialen Fortschritts gefeiert werden. Zum anderen das damit verbundene Anliegen eines vorsichtig-kritischen Umgangs mit dem ebenfalls gefeierten „Versprechen und Mythos der Demokratisierung“ durch Medientechnologien, die in der Praxis komplexere und konfliktreichere Realitäten verkörpern.
Die insgesamt neun Beiträge, die mindestens ebenso viele Institutionen und Disziplinen repräsentieren (Kulturgeschichte, Kultursoziologie, Globalgeschichte, Medienwissenschaft, Frauenforschung, Kulturpolitik sowie historische Musikwissenschaft und Ethnomusikologie), werden in vier miteinander verknüpfte Themenfelder bzw. Abschnitte unterteilt. Der erste Abschnitt, „From Recorded Democracy to Digital Participation“, gliedert sich in Marsha Sieferts Arbeit über das „Bootlegging“ von Kunst- und Populärmusiken in den USA und der UdSSR während der 1960er und 1970er Jahre und den Beitrag von Raphaël Nowak und Benjamin A. Morgan, die das „Leitmotiv“ der demokratisierenden Kraft von digitalen und Streaming-Technologien kritisch beleuchten. David Ferreiro Carballo und Gabrielle Prud’homme untersuchen im zweiten Abschnitt historische Instrumentalisierungen „bürgerlicher Musikkultur“ anhand der Nationalen Musikgesellschaft Spaniens (1915–1922) bzw. der Vereinnahmung Verdis durch den italienischen Faschismus. Der dritte Abschnitt befasst sich mit einer Reihe „nicht-demokratischer“ Aufführungspraktiken: Dean Vuletics Geschichte der paneuropäischen Hoffnungen des Intervision Song Contest im Rahmen des Kalten Krieges, Ondřej Daniels klassenspezifische Analyse des osteuropäischen Hardbass und Rumya Putchas tiefgreifende kritisch-feministische Untersuchung zum misogynen und kastenbezogenen Missbrauch des Bildes der südindischen Tempeltänzerin in einer Reihe von globalisierten hindu-nationalistischen Diskursen. Der letzte Abschnitt widmet sich „klanglichen Implikationen politischer Umwälzungen“. Er beinhaltet den Beitrag von Milena Dragićević Šešić und Julija Matejić über eine Reihe von Medien-, Radio-, Lärm- und Chor-„Gegenöffentlichkeiten“ in Serbien seit den 1990er Jahren sowie Katelyn Bests fokussierte ethnografische Arbeit über gehörlose Musiker_innen und Performer_innen, die Hip-Hop nutzen, um den von Christopher Small geprägten Begriff des „Musickings“, der allen Beiträgen zugrunde liegt, weiter auszuloten.
Die Musickings des Bandes laden die Leser_innen dazu ein, sich weitere kritische Ontologien für Musik und Performance in populären Bewegungen vorzustellen. Dabei sollen Konsum, Produktion, Vertrieb, Publikum, Fandom und das Undemokratische in der Musik von praktikablen und inklusiven demokratischen Partizipationen unterschieden werden. Diese könnten uns über „Spannungsdichotomien“ hinaus zu weniger bequemen und vielleicht verunsichernden, jedoch besser umsetzbaren Erkenntnissen führen. Ein derartiger Paradigmenwechsel in der Musikwissenschaft und den Performance Studies bezüglich der Möglichkeiten und Grenzen von Musik könnte vielfältige und inklusive demokratische Bewegungen für unsere Zeit neu beleben.