Das Kollektiv Godot Komplex beschäftigt sich seit seiner Gründung im Frühjahr 2021 mit neuen Konzertformaten für die Klassik. Das Publikum in die Performance zu integrieren und Räume jenseits der Frontalbespielung erfahrbar zu machen, ist das erklärte Ziel des Kollektivs. Als Gewinner des Wettbewerbs Let’s get digital wagen die engagierten Künstler_innen nun einen ersten Schritt in Richtung hybrides Konzertformat.
Wer sind Godot Komplex, und wieso habt ihr euch für die Teilnahme an dem Wettbewerb Let’s get digital entschieden?
Hannah Baumann, Oboistin (HB): Franzi, Johannes und ich sind Godot Komplex, ein Konzertkollektiv, das sich mit der Frage nach Konzertformaten oder dem Publikum der Zukunft beschäftigt und dabei mit kollaborativen Partner_innen arbeitet. Mit der Multimediakünstlerin und Musikerin Ella Estrella habe ich bereits bei früheren künstlerischen Projekten zusammengearbeitet. Als ich die Ausschreibung gelesen habe, schien es mir eine gute Gelegenheit, Godot Komplex mit Ella zu verbinden und gemeinsam ein Konzept für ein hybrides Konzertformat zu entwickeln.
Beim ersten Testlauf saßen wir in unseren Wohnzimmern und konnten einfach nicht aufhören zu grinsen. Wir waren total gefesselt von dieser neuen Situation.
Johannes Worms
Was waren eure ersten Überlegungen hinsichtlich dieses neuen Formats?
Franziska Hiller, Sopranistin (FH): Begonnen haben wir im Herbst 2021, wir waren alle Lockdown-müde und der ständigen Zooms überdrüssig. Trotz der Defizite, die das Digitale mit sich bringt, haben wir schnell gemerkt, dass wir nicht defizitorientiert arbeiten möchten. Hingegen wollten wir ergründen, welche anderen Perspektiven wir einnehmen können, was neu ist und das analoge Geschehen bereichern kann. Im Zeitalter der Digitalität begegnen wir einer Pluralität von Ebenen und haben überlegt, wie wir diese Ebenen miteinander verbinden können.
Johannes Worms, Bariton (JW): Wir sind alle Musiker_innen mit unterschiedlichen Instrumenten und Hintergründen. Wir haben uns gefragt, wie wir unsere Leidenschaften und musikalischen Prägungen in das Projekt einbringen können.
Mit dem innovativen Konzept von Let’s play: connection loading habt ihr den Wettbewerb für euch entschieden. Könnt ihr die Idee dahinter beschreiben?
HB: Unser großes Thema ist die Verbindung. Wie bringe ich den analogen Raum ins Digitale? Und zwar nicht nur mittels Livestream, sondern so, dass er sinnlich wird, erspür- und erfahrbar. Im Umkehrschluss möchten wir uns nicht nur auf das digitale Publikum konzentrieren, sondern die Stärken des Digitalen ins Analoge übersetzen.
Konkret bedeutet das?
Ella Estrella Tischa, Transmedia Directress (EET): Es werden drei Stücke auf drei Bühnen im Berio-Saal des Wiener Konzerthauses performt, wobei jede Bühne eine eigene Thematik hat, die passend zur Musik designt wird. Gleichzeitig laden wir das digitale Publikum nach gather.town ein, eine Online-Plattform für Videokonferenzen, in der man sich in Gaming-Optik virtuelle Räume bauen kann. Hier stellen wir eine Version des Berio-Saals nach.
Das heißt, ihr digitalisiert den Berio-Saal und analogisiert gather.town?
EET: Genau. Die Verschmelzung der beiden Räume geschieht dann auf mehreren Ebenen. Das Publikum vor Ort kreiert beispielsweise mittels Handkameras eine Konzerterfahrung für das digitale Publikum, das wiederum über große Leinwände im Berio-Saal zu sehen sein wird. Die Livevideos der Handkameras werden sowohl vor Ort über Leinwände gespielt als auch digital in gather.town übertragen. Zudem werden audiogenerative Visuals – Musik, die im Konzertsaal über Greenscreen-Keys generiert wird – im Berio-Saal sowie in gather.town projiziert. Auch hier findet also eine Verschmelzung des analogen und digitalen Raums statt.
Dieses Konzert ist ein absolutes Pionierprojekt. Deswegen gibt es auch viel ‚Trial and Error‘ – diesen Raum nehmen wir uns.
Franziska Hiller
Also, obwohl sich die beiden Publika nicht im realen Raum treffen, treten sie über die Verschmelzung des analogen und digitalen Raums in Kontakt?
EET: Ja, und um auf die Thematik der Berührung beziehungsweise auch Nähe und Distanz einzugehen, haben wir uns noch eine Barsituation zu Beginn und am Ende überlegt. Vor Ort befinden sich Computer mit Webcams und Barstühlen, auf denen das analoge Publikum Platz nehmen und mit dem digitalen Publikum in gather.town in Kontakt treten kann.
Wie kann man sich gather.town vorstellen?
EET: Elemente aus dem analogen Raum, wie Farbkonzept und Lichtstimmungen, werden nach gather.town übersetzt und lassen es haptisch werden. Die Teilnehmer_innen können sich ihren eigenen Avatar bauen, sich mit ihm stellvertretend durch die Räume bewegen und am Konzert teilnehmen. Eine Weitwinkelkamera unter der großen Leinwand im Berio-Saal lädt das digitale Publikum in den analogen Raum ein.
Wie findet sich das digitale Publikum in gather.town zurecht?
FH: Das digitale Publikum möchten wir vorab mit einer Willkommensmail auf das Konzert vorbereiten, eventuell mit einem kurzen Einführungsvideo.
EET: Am Konzertabend gibt es dann einen geführten Durchlauf. Zu Beginn betritt das Onlinepublikum einen Empfangsraum, von dem es anschließend in einen Tutorial-Raum weitergeführt wird. Dort erhält es eine Orientierung und Informationen, was der Abend beinhaltet. Für jedes Stück betritt es durch ein Portal einen neuen Konzertsaal, und zum Abschluss ermöglichen wir noch einmal den Austausch über die Barsituation.
Ihr habt davon gesprochen, dass die Bühnen passend zur Musik gestaltet werden. Welche Werke habt ihr ausgewählt und warum?
JW: Das große Thema, auch in der Musik, sind die Verbindungen und damit auch Nähe und Distanz. Wir haben uns die Frage gestellt, wie wir mit dieser Realitätsverschränkung umgehen wollen. Dazu haben wir die entsprechende Musik ausgewählt – wie etwa Berührungen von Pēteris Vasks für Oboe Solo, das den haptischen Bereich ausreizt. Zum anderen spielen wir mit Motiven des Rückzugs, der Vereinzelung und Motiven der Einsamkeit. Beethovens Liederzyklus An die ferne Geliebte beschreibt etwa, wie eine Person präsent ist, aber doch nicht da.
EET: Jedes Stück hat ein Element, das für die jeweilige Thematik steht. Bei Berührungen werden es Pflanzen sein, die im realen Raum durch Berührungen Sounds auslösen. Für Die ferne Geliebte haben wir uns alte Röhrenfernseher überlegt, auf denen Gesichter des Publikums sowie der Künstler_innen gezeigt werden. Da das Projekt sehr komplex im Aufbau und in der Technik ist, wird sich im Laufe des Produktionsprozesses aber das eine oder andere noch anpassen müssen.
JW: Das Publikum, sowohl analog als auch digital, geht von Bühne zu Bühne. Mit relativ kurzen Einheiten von etwa zehn bis zwanzig Minuten und interaktiven Elementen möchten wir die Aufmerksamkeit immer wieder anregen.
Wir sind uns dessen bewusst, dass jetzt der Zeitpunkt ist, etwas mitzugestalten und wir hoffen, dass unser Projekt auch für andere zur Inspiration wird.
Ella Estrella Tischa
Wo seht ihr die Reize des Digitalen, und wie lassen sie sich ins Analoge übertragen?
FH: Durch die sogenannte Kachelansicht auf gather.town entsteht eine Multiperspektive, die es uns erlaubt, alles gleichzeitig zu sehen – wie etwa die Videos der Handkameras, aber auch das Publikum.
EET: Spannend ist auch, dass man über diese Handkameras wirklich nah an die Künstler_innen herankommt und verschiedene Perspektiven einnehmen kann.
FH: Zudem haben wir hier die Möglichkeit des Interaktiven und können etwa mit Minigames und Erkundungstouren auf gather.town die Umbauzeiten verkürzen. Diese Interaktion möchten wir auf den analogen Konzertsaal übertragen, wie etwa durch die audiogenerativen Visuals.
Das Konzept klingt sehr komplex. Wie kann man sich die Proben dazu vorstellen?
EET: Wir hatten bereits einige Testläufe, die bisher an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin stattgefunden haben und Teil meines Masterabschlusses geworden sind. Diese Testläufe sind extrem wichtig für den gesamten Ablauf, da es ein experimenteller Prozess ist und wir mit dem Publikum in Kontakt kommen möchten.
JW: Unser nächstes Treffen ist in Hamburg bei TONALi, wo sich Hannah, Franzi und ich im Rahmen der Bühnenakademie mit partizipativen und kulturunternehmerischen Aspekten sowie Publikumsentwicklung beschäftigen. Die TONALi stellt uns eine Woche lang ihren Konzertsaal zur Verfügung, um zu sehen, was bereits funktioniert und wo es noch Kritikpunkte gibt.
HB: Im Wiener Konzerthaus haben wir dann noch zwei komplette Probentage, was sehr viel für ein so großes Haus ist. Dadurch, dass unser Projekt aber technisch derart aufwendig ist, mussten wir die intensive Probenzeit auslagern. Wenn wir in Wien ankommen, muss schon alles gesetzt sein.
Die mdw und das Wiener Konzerthaus haben sich mit Let’s play auf ein Experiment eingelassen, darüber sind wir sehr froh.
Hannah Baumann
Welche Rolle spielen die mdw und das Konzerthaus bei der Realisierung von Let’s play?
HB: Zuallererst möchten wir uns bedanken, dass diese Ausschreibung stattgefunden hat. Das ist in unserer Branche bisher noch einmalig. Obwohl es mittlerweile einige Ausschreibungen zu Zukunftsideen mit klassischer Musik gibt, war die Komponente Digitalität bisher nicht besonders präsent. Die mdw und das Wiener Konzerthaus haben sich auf ein Experiment eingelassen, darüber sind wir sehr froh.
FH: Es braucht immer beides: Einen, der sagt, wir machen den Raum auf – und jemanden, der kommt und sagt, wir probieren es aus. Diese Chance bedeutet uns viel.
Wollt ihr auch in Zukunft mit hybriden Formaten arbeiten?
FH: Auf jeden Fall. Künstlerische Nachhaltigkeit ist uns enorm wichtig, vor allem, wenn man sieht, wie viel Aufwand in diesem Projekt steckt. Unser Wunsch ist es, Let’s play nach der Premiere im Wiener Konzerthaus auch an andere Orte bzw. Festivals zu bringen.
HB: Es ist für die künstlerische Arbeit erst einmal eine Hemmschwelle, weil es keine Prototypen oder Vorbildprojekte gibt, an denen man sich orientieren kann. Aber wir haben Lust bekommen, diese Räume sinnlich zu gestalten, sie weiter zu modifizieren und daran zu arbeiten.
JW: Es ist natürlich sehr spannend, weil die größte Herausforderung bei hybriden Formaten ist, zwei verschiedene Publika zu bedienen. Es war zu Beginn schwer vorstellbar, wie diese zwei an einer Konzerterfahrung teilnehmen und wir die Spannung erzeugen sollen. Aber es gilt, genau mit diesen Aspekten umzugehen und die Angst zu nehmen, zu beweisen, dass es funktioniert – sinnlich, intuitiv und spielerisch. Damit möchten wir auch Veranstalter_innen und Festivals Mut machen, neue Formate und Konzertnarrative auszuprobieren.
Let’s play: connection loading findet am 29. September 2022 im Berio-Saal des Wiener Konzerthauses in Kooperation mit der mdw statt. Das Interview mit Godot Komplex wurde im Juni 2022 geführt.