Drei Podcasts, die im Rahmen des Projekts Klingende Zeitgeschichte entstanden sind, befassen sich mit institutionellen Brüchen innerhalb der mdw und ihrer Vorgängerinstitutionen. In mdw-weiter Zusammenarbeit wurden Randgeschichten aus dem 20. Jahrhundert akustisch in Szene gesetzt, wobei die Archiv-Dokumente selbst auf mehreren musikalischen und sprachlichen Ebenen zum Klingen gebracht wurden. An dem Pilotprojekt, das von 2019 bis 2021 stattfand, waren insgesamt über fünfzig Lehrende, Studierende und wissenschaftliche Mitarbeiter_innen beteiligt.
Der Fall Lilly Pollak
Zu den drei Randgeschichten, die akustisch inszeniert wurden, zählt jene von Lilly Pollak. Im Juli 1931 berichtet die Arbeiter-Zeitung von Protesten gegen das neu implementierte Musikakademiegesetz: Die Hörer_innenschaft der Akademie für Musik und darstellende Kunst setzt sich gegen eine unter der Leitung von Karl Wiener betriebene autoritäre Reform zur Wehr, die u. a. eine Erhöhung der Studiengebühren, eine Verlängerung der Studiendauer, eine Reduktion der Studierenden- und Lehrendenzahlen sowie die Abschaffung der Fachhochschule und des Max Reinhardt Seminars vorsieht. Erfolg hat, so der Bericht, die Protestbewegung hinsichtlich eines ebenfalls neu installierten Kontrollprüfungssystems: Dieses wird zu Fall gebracht, wobei die Vorsitzende der sozialistischen Musikstudent_innen, Lilly Pollak, als Unruhestifterin von der Akademie ausgeschlossen werden soll. Im Archiv der mdw findet sich ein Brief des Akademie-Präsidenten an den damaligen Unterrichtsminister Emmerich Cermak, in dem er darlegt, warum der Antrag, Lilly Pollak „als Schülerin zu belassen“, abschlägig beschieden werden müsse. Karl Wiener sieht in ihrem politischen Engagement, das u. a. darin besteht, Flugblätter, in denen „die Freiheit der Lehre“ gefordert wird, zu drucken und zu verteilen, „eine ungeheure Gefahr“.
Lilly Pollak kehrt nicht mehr als „Schülerin“ an die Musikakademie zurück. 1932 inskribiert sie an der philosophischen Fakultät der Universität Wien und schließt ihr Studium mit einer Promotion 1938 ab. Im selben Jahr flüchtet sie mit ihrer Mutter Ida, ihrem Bruder Egon, der ebenfalls an der Musikakademie studiert hat, und ihrem ersten Ehemann Wolfgang Speiser über die Schweiz und Frankreich nach Australien. Egon erleidet während der Flucht einen Nervenzusammenbruch und wird den Rest seines Lebens in einem Sanatorium in der Schweiz verbringen, von wo aus er Briefe, die er auch mit Kompositionsskizzen versieht, an seine Mutter schreibt. Nach dem Zweiten Weltkrieg versucht Lilly gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Ehemann einen Neuanfang in Wien. Während Wolfgang Speiser an seine in den 1930ern begonnene Karriere in der sozialistischen respektive sozialdemokratischen Partei anknüpfen kann, hält es Lilly Pollak im Nachkriegswien nicht aus. Ein Cousin oder eine Cousine schreibt in einem Nachruf, dass der „Schatten des Nationalsozialismus“ sie dazu veranlasst habe, 1963 Wien wieder zu verlassen und nach England zu gehen. In London lebt sie zusammen mit ihrem zweiten Mann Paul Rosenow, mit ihrer Tochter Eve und ihrer Stieftochter Ruth. Sie arbeitet als Klavierlehrerin und reist immer wieder nach Australien, um Familienmitglieder zu besuchen. 1993 stirbt sie dort im Alter von 84 Jahren an den Folgen einer Hüftoperation.
Eine zeitgenössische Archäologie der mdw
Die Konturen der rebellischen Musikstudentin Lilly Pollak haben sich Schritt für Schritt, bei den Gängen in die Archive der mdw und des Vereins der Geschichte der Arbeiter_innenbewegung sowie in Korrespondenzen mit ihren Nachfahren, immer deutlicher abzuzeichnen begonnen. Die Schatten institutioneller, politischer, rassistischer und antisemitischer Gewalt haben sich immer wieder über Lilly Pollaks Leben gelegt. Um ihre Geschichte diesen Schatten, die mitunter bis in die Gegenwart reichen, entwenden zu können, ist es notwendig, sich an die Ränder tradierter Institutionsgeschichte(n) zu begeben, die „ungeheure Gefahr“, die Lilly Pollak als politisch engagierte Studentin in den Augen des Akademie-Präsidenten verkörpert hat, in den entsprechenden zeitgeschichtlichen Kontext zu stellen und dadurch jenen Mut zu würdigen, der sich bis heute darin zeigt, der tatsächlichen „ungeheuren Gefahr“, die in der autoritären Entmündigung, in der Aberkennung von Selbstbestimmung und Mitspracherecht liegt, zu begegnen.
Die Klingende Zeitgeschichte hat sich in ihren Podcasts solchen Randgeschichten, in denen Akte des Widerstands, Dissonanzen und Divergenzen eine Rolle spielen, gewidmet und ein Format entwickelt, in dem die Geschichte der mdw auf mehreren künstlerischen und wissenschaftlichen Ebenen vertieft wird. Im Rahmen einer mdw-weiten transdisziplinären Zusammenarbeit sind Ansatzpunkte für eine zeitgenössische Archäologie der mdw konzipiert worden, in der sich Instrumentalist_innen, Komponist_innen, Schauspieler_innen, Wissenschafter_innen und Tonmeister_innen Zugänge zum Archiv und somit zur Geschichte der mdw erarbeiten können.
Bei der Präsentation der drei Podcasts, die am 1. 4. 2022 im Klangtheater stattgefunden hat, wurde von vielen der Beteiligten die Bedeutung dieser institutsübergreifenden Zusammenarbeit hervorgehoben: Die Ergebnisse aus den musik- und kulturwissenschaftlichen Archiv-Recherchen wurden in einer szenischen Text-Collage umgesetzt, von Studierenden und Absolvent_innen des Kompositionsstudiums vertont, von Studierenden des Max Reinhardt Seminars eingesprochen, von Instrumentalist_innen der mdw eingespielt und von Tonmeister_innen arrangiert.
Die Geschichte der mdw und ihrer Vorgängerinstitutionen ist vielstimmig. Eine transdisziplinäre Erinnerungspraxis gibt den unterschiedlichen Tonlagen, die sich darin finden, Raum und Bühne.