Im November/Dezember 2022 war es an der Zeit, die orchestrale Zusammenarbeit zwischen dem CNSMDP – Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse de Paris und der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien weiter zu vertiefen: Es war nun wieder an den Wiener Studierenden, die Reise anzutreten. Paris! – Die Anmeldelisten waren lang. 40 Studierende konnten schließlich entsendet werden. Und trafen auf manches bekannte Gesicht, war es doch schon das vierte Zusammenspiel nach einem ersten Begegnungszyklus 2017/18 und einem Besuch der Pariser_innen im vorhergehenden Juni.

Nachhaltige Orchesterreise

Ein geglücktes Experiment war die Anreise des Webern Symphonie Orchesters mit dem Zug: Die 43-Personen-Delegation der mdw nutzte den direkten Nachtzug von Wien nach Paris für die Hinfahrt. Sehr unkompliziert: Treffpunkt am Bahnhof, einsteigen, Celli schlafen legen, dann sich selbst. Fazit der Studierenden: „Großartig, sehr komfortabel!“ Schon am Vormittag ist man mitten in Paris und kann mit eigenen Unternehmungen beginnen.

© Ferrante Ferranti

Die Proben begannen am darauffolgenden Tag und das Programm war intensiv: fünf Probentage für ein Konzert in der beeindruckenden Philharmonie de Paris. Das markante Konzerthaus mit der silbergrau spiegelnden Vogelfassade des Architekten Jean Nouvel wurde 2015 eröffnet. Der Grande Salle Pierre Boulez besticht mit seiner hervorragenden Akustik, geplant von Harold Marshall und Yasuhisa Toyota, und bietet bei Konzerten 2400 Zuhörer_innen Platz. Der Gebäudekomplex wird für intensive edukative Programme genutzt und ist Hauptsitz von fünf Orchestern, darunter das Orchestre de Paris, das Ensemble Intercontemporain und Les Arts Florissants.

Alte und neue Entdeckungen

Bereits im Jahr 2018 war das Konzert in der Pariser Cathédrale Saint-Louis des Invalides mit einem fesselnden Psalm von Lili Boulanger interessant programmiert. Für das Konzert 2022 hat man sich gemeinsam entschlossen, einen Kompositionsauftrag zu finanzieren. Claire-Mélanie Sinnhuber, schweizerisch-französische Komponistin und selbst Alumna des CNSMDP, wurde mit einem Orchesterwerk beauftragt. Es wurde im Sommer 2022 abgeschlossen und erhielt den Titel Le ravin des figures.

Für viele Studierende war die Erarbeitung von Sinnhubers Musik eine neue Erfahrung: Erst gab es fragende Blicke, etwa über Vortragsbezeichnungen wie „flautando, comme un souffle coloré“ (flautando, wie farbiger Atem) für Violine oder „achet essuie-glace“ (Scheibenwischer-Bogen) für Celli und Bässe. Doch in der direkten Probenarbeit mit der Komponistin lösten sich diese Fragen auf in ein gemeinsames Suchen und Entdecken von neuen Spielweisen und Klängen. Alain Altinoglu führte gekonnt: „Hier ist es anders als bei Hector Berlioz, hier sollt ihr nicht zuhören, was die anderen spielen. Konzentriert euch und zählt ganz genau: Jede_r spielt eine individuelle Stimme.“

Claire-Mélanie Sinnhuber & Alain Altinoglu bei den Proben mit Studierenden © Angelika Dorfer

Die Komponistin selbst erklärte ihre Intentionen und begab sich zusammen mit den jungen Musiker_innen auf Klang-Suche. Ihre Musik sei eher fein und schüchtern, erklärte sie. Aber die solistischen Stimmen sollten jeweils klar und energisch hervortreten. Das Werk habe sie ohne Titel komponiert, aber er scheine ihr sehr passend: Le ravin des figures (Die Bergschlucht der Figuren) verweist auf eine spanische Schlucht, in der alte Felsenzeichnungen gefunden wurden. In diesen Wandzeichnungen ist manches verwaschen, nicht sehr klar erkennbar, vereinzelt treten aber Figuren klar hervor – dies sei die Analogie zu ihrem Werk.

Für viele Studierende war auch die Symphonie fantastique, mit ihren expressiven Klängen und der dramatischen Liebesgeschichte eine Entdeckung. Die obligaten gestimmten Glocken konnten vom Orchestre philharmonique de Radio France geliehen werden.

Sergey Khachatryan & Alain Altinoglu © Ferrante Ferranti
Meister am Pult

Mit Alain Altinoglu, der am Conservatoire eine Dirigierklasse leitet, hatte das Projekt eine wundervolle musikalische Leitung. Unter den Studierenden hatte sich schnell herumgesprochen, dass er eine Woche später auch die Wiener Philharmoniker dirigieren würde. Doch vor allem seine Hingabe fesselte die jungen Musiker_innen, die er ab der 2. Probe mit ihren Vornamen ansprach. Dabei waren es doch rund 90 Studierende, die sich zu diesem Joint Orchestra zusammengefunden hatten – aus insgesamt 20 Nationen.

Bei Johannes Brahms war diese bunte Gemeinschaft auf bekannterem Grund – und mit einem großartigen Solisten beschenkt. Sergey Khachatryan startete seine Weltkarriere von Deutschland aus und ist in Wien vielen seit seinem 2. Platz beim Kreisler Wettbewerb im Jahr 2000 ein Begriff. Mit ihm war das armenische Führungs-Quartett komplett (auch beide Konzertmeister_innen haben armenische Wurzeln).

© Angelika Dorfer
Au revoir

Immer wieder gelang es trotz des intensiven Probenplanes, auch manche Herrlichkeit von Paris kennenzulernen: Sehenswürdigkeiten, musikalische und kulinarische Offenbarungen. Der Nebel hielt sich allerdings beständig – strahlende Bilder brachten wir kaum als Souvenirs nach Hause. Dafür so manche neue Bekanntschaft, manche schöne Begegnung: Denn einige Pariser Studierende waren herzliche Gastgeber_innen und Fremdenführer_innen. So hörte man schon am zweiten Probentag ein fröhliches „Jaja, wir sind schon Freunde!“ aus manchen Instrumentengruppen.

© Angelika Dorfer

Natürlich gab es auch Herausforderungen im Zusammenspiel, aber bis zum Konzertabend stellte sich ein Wohlklang ein, der für alles belohnte. Das Konzert vor vollem Saal war zu aller Freude – und der Abschied fiel schwer. Die Rückreise musste per Flugzeug zurückgelegt werden, da der Nightjet an diesem Tag nicht verkehrte.

Ein erstes Wiedersehen gab es aber bereits: Alain Altinoglu lud die mdw-Studierenden zu einer seiner Arbeitsproben mit den Wiener Philharmonikern in den Musikverein. Und dies wird hoffentlich nicht das letzte Wiedersehen gewesen sein.

Veranstaltungstipp:

WSO im Musikverein
14. Juni 2023, 19.30 Uhr
Leitung: Daniel Harding
Viola: Antoine Tamestit

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