Zum sozial-transformativen Potenzial von Musikvermittlung
Im Projekt #BECHANGE setzen sich die Musiker_innen des Stegreif Orchesters gemeinsam mit ihrem Publikum in einem kollaborativen künstlerischen Prozess mit der globalen ökologischen Krise auseinander. In Terra Vecchia, einem Bergdorf im Schweizer Centovalli, erproben Menschen mit und ohne Fluchtgeschichte, welche Funktionen die Künste für das friedliche Zusammenleben in einer diversen Gesellschaft spielen können. Und das EU-Projekt Traction sucht nach Möglichkeiten der Co-Kreation in partizipativen Musiktheaterprojekten, um verschiedene Communitys in ihrer Handlungsfähigkeit zu bestärken und soziale Transformation zu ermöglichen.
Alle drei genannten Projekte sind aktuelle und herausragende Beispiele für eine Musikvermittlung, die sich neu orientiert und repositioniert: Den Kinderschuhen entwachsen und mit zunehmendem Selbstbewusstsein schlägt Musikvermittlung unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen und unter dem Eindruck dekolonialen, machtkritischen und diskriminierungskritischen Denkens sowie eines Social Turns in den Künsten (Claire Bishop) einen anderen Weg ein als den ihr ursprünglich seitens des klassischen Konzertbetriebs zugedachten. Anstatt Menschen im Sinne einer Demokratisierung von Kultur zur sogenannten Hochkultur hinzuführen, wird in der gegenwärtigen Praxis der Musikvermittlung die grundsätzliche Pluralität von Kultur im Sinne einer kulturellen Demokratie wertfrei anerkannt (François Matarasso), womit sich Musikvermittlung von den normativen Vorgaben und Konzepten ihrer bürgerlichen Herkunftskultur ablöst und emanzipiert. Vielen Akteur_innen der Musikvermittlung geht es heute verstärkt darum, mithilfe von Musik und spezifischen Musikformaten gezielt Begegnungen zwischen Menschen mit unterschiedlichen biografischen, sozialen und kulturellen Hintergründen zu initiieren, deren Wege sich im Alltag ansonsten wahrscheinlich nicht kreuzen würden.
Genau hierin liegt ein sozial-transformatives Potenzial von Musikvermittlung: Als künstlerisch-pädagogische Praxis stiftet sie im besten Fall kulturelle Teilhabe und „Teil-Gabe“ (Mark Terkessidis), bereitet den Boden für neuartige ästhetische Erfahrungen, initiiert Interaktionen zwischen Menschen aus sozial und kulturell heterogenen Bevölkerungsgruppen und regt so Kommunikation an, entwickelt Ambiguitätstoleranz und versichert Menschen ihrer Handlungsfähigkeit. Bestehende Hierarchien, Machtverhältnisse, vermeintliche Deutungshoheiten und internalisierte Ausschlussmechanismen zu identifizieren und gemeinsam künstlerisch-kritisch zu verhandeln, ist ein weiteres wichtiges Anliegen musikvermittelnder Tätigkeiten in diesem Zusammenhang.
Im Rahmen der Tagung Turning Social. Zum sozial-transformativen Potenzial von Musikvermittlung (15. und 16. Juni an der mdw) wird diese Entwicklung mit renommierten Referent_innen und Praktiker_innen der Musikvermittlung – die Keynotes werden François Matarasso (UK) und Maria Westvall (DK) halten – sowie mit weiteren Gästen debattiert sowie das sozial-transformative Potenzial von Musikvermittlung in Vorträgen, Praxisreflexionen, Workshops und Podiumsdiskussionen näher beleuchtet. Folgende Fragen werden bearbeitet:
- Welche (neuen) Aufgaben und Funktionen können und sollen Musik und Musikvermittlung angesichts der aktuellen globalen Herausforderungen, Umwälzungen und Krisen übernehmen?
- Wie können Akteur_innen der Musikvermittlung innerhalb der aktuell bestehenden strukturellen Gegebenheiten im Kulturbetrieb, in der universitären Ausbildung und in der Gesellschaft als Ganzes zu dekolonialen und diversitätssensiblen Prozessen beitragen?
- Wie könnten Projekte beschaffen sein, die in emanzipatorischer Absicht unhörbare bzw. im öffentlichen Diskurs zum Schweigen gebrachte Stimmen wieder hörbar machen und Menschen so in ihrer gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit stärken?
- Was bedeutet der Selbstanspruch einer sozial-transformativen Musikvermittlung für eine qualitätsvolle universitäre Musik(vermittler_innen)-Ausbildung?
Das Institut für musikpädagogische Forschung, Musikdidaktik und Elementares Musizieren (IMP) und das Institut für Musiksoziologie (IMS) der mdw realisieren diese Veranstaltung erneut in enger Kooperation. Sie steht mdw-Angehörigen ebenso offen wie externen Gästen, ist kostenfrei zugänglich und beinhaltet die Möglichkeit, an den angebotenen musikvermittelnden Projekten vor Ort teilzunehmen.
Anmeldung & weitere Infos: mdw.ac.at/turningsocial